Landeversuch - Philosophie- und Anthropologie-Seminar im Limousin

von Till Roeskens, Longo maï, 01.11.2019, Veröffentlicht in Archipel 286

Ende August nahm ich an einem Philosophie- und Anthropologie-Seminar im Limousin, mitten in Frankreich, teil. Es ging um Erdenschulen, um unsere beschädigte Erde, die Verbundenheit mit revolutionären Bewegungen, die Verbindung von Theorie und Praxis, Zukunftsperspektiven und Vieles mehr. Gegen Ende dieses Sommers, während der G7 in Biarritz tagte und der Amazonas in Flammen stand, hockten einige von uns früh morgens in der Mitte eines kleinen Baches auf dem Millevaches-Plateau im Limousin und beugten unsere Nasen über einen runden, mit Moos bedeckten Stein, auf dem ein etwas hellerer Fleck die Geruchsmarkierung einer Otter verriet. Wie Fred es uns mitteilte und wie wir es einstimmig bestätigen konnten, roch diese territoriale Grenzziehung des gut versteckten Tieres nach Garnelen.

Unser Guide, Landwirt und Evolutionsökologe, sagte uns: «Mehr oder weniger alle Arten, die derzeit hier leben, sind mittlerweile bekannt, aber wir sind konfrontiert mit einer abgründigen Unwissenheit über ihre jeweiligen Bedürfnisse für ein gutes Leben.» Fred und seine Partnerin Johanna arbeiten mit ihrer Schafherde zusammen, um ein paar seltene Flecken von Moor und Heide zu erhalten und die Entwicklung der dort lebenden Wesen zu erforschen. Was einst die gewöhnliche Landschaft dieser Hochebene war, ist binnen sechzig Jahren fast gänzlich verschwunden unter Douglasien-Monokulturen, dem lokalen Gesicht der industriellen Zivilisation und des Kapitals. Zwei Stunden später, nach ein paar guten Brotschnitten und einem hart umkämpften Kaffee, drängten wir uns zu etwa 200 Personen unter einem Stalltunnel zusammen, den die Schafe uns freundlicherweise eine Woche lang für ein Philosophie-Seminar überliessen: Mächte des Wohnens. Materialien für Erdenschulen.1

An diesem Morgen teilte Emilie Hache mit uns ihre Fragen: «Wie sind wir zu dem Glauben gekommen, wir wären allein auf der Welt? Wie zu dem Glauben, der Mensch sei das einzige mit Sprache und Intelligenz begabte Wesen im Universum? Wer hat diesen Mythos erfunden? Wie ist es uns gelungen, uns so von der sinnlichen Welt abzuschotten, dass wir auf all jene herabschauen konnten, die sich noch als lebendige Geister unter anderen lebendigen Geistern erlebten? Heute fällt dieser heroische Mythos unserer Trennung von der Natur vor unseren Augen in Stücke. Die menschliche Monokultur 2 ist offensichtlich gescheitert. Die Erde ruft sich uns in Erinnerung. Und – so sagte Emilie uns weiterhin – mir scheint, dass die radikale Veränderung, die unsere Welt durch den ökologischen Wandel erfährt, uns für neue mythologische Fragen öffnet. Ich habe den Eindruck, was uns hier zusammenbringt, ist, dass wir uns immer zahlreicher entdecken bei dem gemeinsamen Versuch, eine neue grosse Erzählung zu basteln, um mitzuteilen, was uns geschehen ist. Eine Erzählung, die sich gegen die Einsamkeit der Modernen auflehnt, eine vielstimmige Erzählung von der Gemeinschaft der Lebenden auf einer beschädigten Erde.» Während Emilie sprach, leckte ein für die Tränke der Schafe installierter Wasserhahn tropfen-weise in einen Eimer in einer Ecke des Tunnels. Von Zeit zu Zeit nahm Elie den Eimer und leerte ihn draussen aus, womit er schlagartig die Melodie des diskret an unserem Gespräch teilnehmenden Wassers veränderte. Elie Kongs arbeitet für den Dehors-Verlag und den Kunstverein La Pommerie, der ebenfalls auf dem Bauernhof Lachaud untergebracht ist. Elie sagt, dass der Begriff «Erdenschulen» für ihn bedeutet: Schulen, in denen wir lernen können, wieder Erdlinge zu werden, wieder die Erde wirklich zu bewohnen, indem wir «situiertes Wissen» konstruieren.

Erdenschulen

Die Theorie nicht von der Praxis zu trennen, das Subjekt nicht vom Objekt, die Gedanken nicht vom Sinnlichen – darauf sollte eine Erdenschule idealerweise hinarbeiten. Der Begriff ist hier im Umlauf, seit eine Gruppe aus Tarnac, zwei Dörfer weiter, eine Reise nach Chiapas unternahm und dort die Universität der Erde von San Cristobal entdeckte, eine mit der zapatistischen Bewegung verbundene Institution, wo Landwirtschafts- oder Webkurse neben Philosophievorträgen abgehalten werden. Die Reisenden kamen mit dem Wunsch zurück, auch hier Orte des Lernens zu schaffen, welche dazu beitragen könnten, die vielerorts auf diesem Plateau und darüber hinaus aufkeimenden Bestrebungen nach kollektiver Autonomie zu stärken. Guillaume, einer der Initiatoren dieser Initiative, sagte mir: «Wenn ich mir all die Generationen von Revolutionär·inn·en anschaue, die ein Scheitern nach dem anderen erlebt haben, dann sage ich mir, dass es an der Zeit ist, unsere Zivilisation von Grund auf zu überdenken. Wir müssen erkennen, dass der Kapitalismus auch unsere Wahrnehmungen kolonisiert hat und dass wir andere Wahrnehmungen wiederentdecken müssen, wenn wir ihn bekämpfen wollen! Wir müssen wieder lernen, mit den Wünschelrutengängern den Lauf der unterirdischen Gewässer wahrzunehmen, sowie unsere eigenen unsichtbaren Ströme mit Hilfe der energetischen Heilmethoden... wir müssen all das neu wahrnehmen, was um uns ist und dessen Zeichen wir empfangen, die wir nicht lesen können, weil wir die Aufmerksamkeit dafür verlernt haben... manchmal scheint es mir, als lebte ich bis jetzt in einer Konservendose!» Seit zwei Jahren haben erste versuchsweise Studiensitzungen stattgefunden. Skulptur und Anthropologie des Raumes bestand im Erdenken, Erträumen und Schnitzen von Elementen des Fachwerks des neuerbauten grossen Saals auf dem Bauernhof Le Goutailloux in Tarnac. Die Zukunft entgrenzen beschäftigte sich mit Science Fiction, um gemeinsam wünschenswerte Zukunftsperspektiven zu entwerfen. Die Entarchivierung der Vergangenheit bestand darin, in die Geschichte der Besiegten einzutauchen, um vergessene Möglichkeiten an die Oberfläche zurückzuholen.

Demnächst geplant sind Sitzungen zur Erforschung des Bodens sowie unserer Beziehung zum Tod, mit dem konkreten Vorhaben, ein selbstverwaltetes Bestattungsunternehmen zu gründen. In engem Zusammenhang mit dieser Dynamik finden in der ZAD 3 von Notre-Dame-des-Landes Schulungsprojekte rund um die Themen Forstwirtschaft und Holzbearbeitung statt. Und hier auf dem Hof von Lachaud hatte Elie vor zwei Jahren bereits eine erste Anthropologie-Sitzung organisiert, deren Themenstellung schon wie folgt formuliert werden konnte: Wie entkommen wir dem Käfig, den der moderne westliche Geist sich selbst gezimmert hat? Zu diesem Zweck hatte Elie mehrere renommierte Anthropolog·inn·en eingeladen, die für gewöhnlich eher in den Hörsälen staatlicher Hochschulen anzutreffen wären als in einem Schafstall. Aber im Gegensatz zu früheren Generationen, die die seltsamen Bräuche und Überzeugungen anderer mit einem exotisch gefärbten Interesse studierten, hatten die hier eingeladenen Menschen dazu beigetragen, ihre Disziplin zu revolutionieren, indem sie den Standpunkt der Völker, mit denen sie gelebt und gelernt hatten, ernst nahmen. Sie hatten sich darauf eingelassen, ihre eigenen wissenschaftlichen Paradigmen in Frage zu stellen und hatten, sei es auch nur ansatzweise, den Austausch mit Tieren, Pflanzen und Geistern erlernt.

Kannibalische Metaphysiken

Der brasilianische Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro, der seine Disziplin als «Theorie-Praxis der permanenten Entkolonialisierung des Denkens» definiert, unterstreicht gut die Herausforderungen, die uns erwarten. In seinem Buch Kannibalische Metaphysiken schreibt er, für die westliche Moderne sei «das Erkennen gleichbedeutend mit dem Objektivieren. (....) Die Form des Anderen ist das Ding. Der Schamanismus wird vom entgegengesetzten Ideal geleitet: Erkennen bedeutet Personifizierung, bedeutet, den Gesichtspunkt dessen einzunehmen, was es zu kennen gilt. Oder besser gesagt, den oder die es zu kennen gilt; denn das Entscheidende ist, das Wer der Dinge zu kennen, ohne das man die Frage nach dem Warum nicht beantworten kann. (....) Ist in der naturalistischen Welt der Moderne jedes Subjekt ein unzureichend analysiertes Objekt, so ist umgekehrt für die Amerindianer jedes Objekt ein unzureichend interpretiertes Subjekt.»

Weiter erklärt er in etwas schwindelerregender Form, was er als Perspektivismus der amerindianischen Philosophie bezeichnet: «Die Menschen sehen Menschen unter normalen Bedingungen als Menschen und Tiere als Tiere. Aber auch die Tiere sehen sich als Menschen. Raubtiere und Geister hingegen sehen den Menschen als Beute, während Beutetiere den Menschen als Geist wahrnehmen (....). Das Zeichen schamanischer Intelligenz ist die Fähigkeit, gleichzeitig aus zwei unvereinbaren Perspektiven zu sehen.» Es war Viveiros de Castro, der die erste Sitzung des Seminars eröffnete, mit dem programmgebenden Titel: Schluss mit dem ontologischen Ausnahmezustand «unserer Spezies». Wie werfen wir ihn um, diesen ideologischen Sockel, der uns über andere erhebt, wie finden wir zu einer Horizontalität zurück, die es uns ermöglicht, die gleichwertige Intelligenz aller Lebendigen zu erfahren und mit ihnen in Dialog zu treten? Denn nur aus gutem Willen werden wir nichts an unserem destruktiven Verhalten ändern. Wie gelingt es uns, nicht so erdlos zu enden wie die industriellen Tomaten oder Hühner? Oder um es mit dem Titel einer aktuellen Publikation von Bruno Latour zu sagen, die öfter in unseren Gesprächen vorkam und von der ich meinen Titel entleihe: Wo können wir landen?4

Bindungen

Im Laufe seiner Analyse der ökologischen Krise und des Eroberungskriegs gegen das Leben, von dem sie das deutliche Zeichen ist, stellt Latour fest, wie unfähig wir sind, darauf zu reagieren, uns ihnen zu stellen. Wie kommen wir aus unserer Lähmung heraus? Er bemerkt, dass Menschen dort zu kämpfen und im Widerstand ihr Leben aufs Spiel zu setzen bereit sind, wo es um die Verteidigung eines Territoriums geht – im Sinne des Bodens, von dem man seinen direkten Lebensunterhalt bezieht. Und so kommt dieser renommierte Philosoph, ehemaliger wissenschaftlicher Direktor der Politikhochschule Sciences Po in Paris, dahin, die autonomen Landbesetzungen (ZADs) als beispielhafte politische Experimente zu loben – was uns einen Funken Hoffnung geben könnte auf kommende Umbrüche in allen Schichten der Gesellschaft! Aber, sagt Latour, die meisten von uns wissen nicht mehr, was unser Territorium ist. Die allgemeine Auslagerung hat uns gewissermaßen den Boden unter den Füssen weggezogen. Über die gesamte Neuzeit hinweg hatten uns die Fortschrittsideologen unsere Emanzipation als einen notwendigen Ausstieg aus allen Bindungen verkauft und uns gesagt, dass jede Verwurzelung in einem Gebiet reaktionär sei! Und nun, inmitten des zivilisatorischen Bruchs, wo sich zeigt, dass die Versprechen auf ein besseres Morgen uns vor die Wand knallen lassen, nun stehen wir hier vor dem Scherbenhaufen der Moderne, entwurzelt und desorientiert. Glauben nicht mehr daran, aber möchten doch noch daran glauben, an gewisse mögliche Fortschritte… und so mir ein persönlicher Zusatz erlaubt ist, scheint es mir ebenfalls, dass wir uns auch weiterhin sehr gern noch ein bisschen vorneweg glauben wollen, ein bisschen den anderen, den «Leuten», voraus, ein wenig Avantgarde, etwas aufgeklärter als der Durchschnitt… den Weg wissend zum «wahren menschlichen Fortschritt»! Hier geht‘s lang! Tatsächlich scheint es für viele Personen um mich herum schmerzhaft, wenn nicht unvorstellbar zu sein, sich nicht mehr als «fortschrittlich» zu identifizieren. Und auch ich selbst empfinde eine Art Schwindel bei dem Unterfangen, mich in einem Raum zu bewegen, in dem es kein Vorn und kein Hinten mehr gibt. Die Moderne sitzt uns im Nacken.

Das waren Fragen, die in unseren Diskussionen mehrfach aufgeworfen wurden: Ist es möglich und ist es wünschenswert, umzukehren? Ist es uns erlaubt, eine Auswahl zu treffen zwischen dem, was wir behalten und dem, was wir über Bord werfen wollen von unseren Träumen der «Emanzipation der Menschheit»? Und wie können wir neue Wurzeln, eine neue Bindung an Orte gewinnen und behaupten, ohne unsererseits reaktionär zu werden, ohne das Bett jenem «Ökofaschismus» zu bereiten, den viele von uns auf bedrohlichem Vormarsch sehen? Jemand unter uns versuchte eine Antwort, indem er uns von den Wurzeln der Pflanzen erzählte, die in keiner Weise dem Bild einer stabilen und unveränderlichen Sache entsprechen, wie man es zumeist mit dem Begriff «unsere Wurzeln» verbindet: Im Gegenteil, wirkliche Wurzeln sind immer in Bewegung, lebendig, begehrlich, suchend und vergänglich!

  1. Im Original: Puissances de l‘habiter. Matériaux pour des écoles de la terre. Siehe https://materiaux-ecolesdelaterre.fr/
  2. Ein Ausdruck, den Emilie von David Abram entlieh, dem Autor des von ihr wärmstens empfohlenen Buches The Spell of the Sensuous: Perception and Language in a More-than-Human World (1996). Abram schiebt unsere «Enterdung» wesentlich auf die Erfindung der Schrift, deren «magische» Praxis nach und nach jene des Entzifferns der sinnlichen Welt ersetzt habe. Emilie Hache ihrerseits hat mehrere (ebenfalls nicht in Deutsch vorliegende) Bücher und Zusammenstellungen zu den Themen Ökologie und Ökofeminismus verfasst und kuratierte die französische Übersetzung des grundlegenden Werkes von Starhawk, Dreaming the Dark: Magic, Sex, and Politics (1982, auf Deutsch: Wilde Kräfte).
  3. ZAD: eigentlich Zones d‘aménagement différé, für industrielle Großprojekte reservierte Areale, von den Protestbewegungen umbenannt in Zones à défendre, d.h. «zu verteidigendes Gebiet». In Notre-Dame-des-Landes, wo ein Flughafen geplant war, versuchen die ehemaligen Besetzer·innen eine kollektive Selbstverwaltung des Areals gegen den Staat durchzusetzen.
  4. Originaltitel: Où atterrir. Auf Deutsch erschienen unter dem Titel Das terrestrische Manifest (2018).