BUCHBESPRECHUNG: G-20 Proteste; Teilnahme verboten

von Jürgen Holzapfel, EBF, 14.05.2021, Veröffentlicht in Archipel 303

Das Zeugnis einer Mutter

„Teilnahme verboten“ ist der Titel eines Buches der Italienerin Jamila Baroni über den Prozess gegen ihren 18-jährigen Sohn Fabio, der zu den Protesten gegen den G20-Gipfel im Juli 2017 nach Hamburg gereist war.

Gleich am Tag nach seiner Ankunft, am 7. Juli, dem ersten Tag des G20-Gipfels, wurde er bei einer Demonstration um 7 Uhr morgens verhaftet. Er verbrachte fünf Monate in Untersuchungshaft in der Jugendstrafvollzugsanstalt Hahnöfersand, 30 km von Hamburg entfernt auf einer Festungsinsel in der Elbe. Nachdem er schliesslich durch die Hinterlegung einer Kaution von 10 000 Euro und mit der Auflage, sich regelmässig bei der Polizei zu melden, nach fünf Monaten Haft am 27. November 2017 entlassen worden war, endete der Prozess gegen ihn im Februar 2018 ergebnislos. Auf Grund der Schwangerschaft der verantwortlichen Richterin wurde er vorläufig abgebrochen, ob das Verfahren irgendwann weiter geführt wird, ist nicht bekannt.

Seine Mutter, Jamila Baroni, reiste am 17. Juli 2017 nach Hamburg, in der Erwartung, bald wieder mit ihrem Sohn nach Feltre in Norditalien zurückreisen zu können. Sie verbrachte acht Monate in Hamburg, bis zum Abbruch des Prozesses gegen Fabio. Sie hat ihr Tagebuch über diese Zeit als Buch zunächst auf Italienisch veröffentlicht. 2020 erschien die deutsche Übersetzung.

Erinnern wir uns: Zehntausende Menschen aus ganz Europa nahmen an den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg teil. Die Medien zeigten im Zusammenhang mit den Demonstrationen erschreckende Bilder von Gewalt, plötzlich sprach man von Gewaltexzessen bisher unbekannten Ausmasses, und der damalige Bürgermeister Olaf Scholz, heutiger Bundesfinanzminister, versprach, es werde harte Massnahmen gegen diejenigen geben, die Straftaten begangen hätten. Dabei wurden die Provokationen und offensichtlich grundlosen Angriffe der Polizei auf Demonstrierende wohlweislich verschwiegen.

Macht und Widerstand in Europa

Das Buch ist einfach geschrieben, liest sich gut, ohne komplizierte Ausdrücke, sieht man von den Zitaten aus Gerichtsakten ab. Sehr viel komplizierter muss es für Jamila und Fabio gewesen sein, die kein Wort Deutsch sprachen, den Inhalt der Gerichtsbeschlüsse, Verordnungen und Gesetze zu verstehen. Jamila erzählt in ruhigem Ton über die acht Monate ihres Aufenthaltes in Hamburg, ihre Verhandlungen mit der Gefängnisverwaltung, die Gespräche mit der Anwältin ihres Sohnes, Gabriele Heinecke, die Unterstützung, die sie in Hamburg von einzelnen Menschen oder Gruppen erfahren hat, ihre Besuche im Gefängnis, die Gerichtsverhandlungen, das Verhalten von Fabio, ihre Empfindungen. Sie will kein Mitleid erregen, verliert sich nicht in politischer Agitation und nimmt die Leser_innen einfach mit in dem, was sie tut und erfährt. Neben ihrer Schilderung berichtet ein neutraler Erzähler von Vorgängen und Entscheidungen in den Regierungskreisen Hamburgs in dieser Zeit. Es ist ein kleiner Ausschnitt aus dem gesellschaftlichen „Grossereignis – G20 in Hamburg“ und seinen Folgen. Je einfacher der Ton, umso mehr werden die Leser_innen nachdenklich, aufgebracht, wütend, herausgefordert zu kombinieren, zu analysieren, Zusammenhänge über Repression und Widerstand zu begreifen. Das Buch ist ein zeithistorisches Dokument über Macht und Widerstand in Europa.

Vorverurteilung

Nur eine „Einzelheit“ aus dem ganzen Verfahren gegen Fabio möchte ich hier hervorheben: Die Untersuchungshaft für ihn wurde vom Hamburger Oberlandesgericht so begründet: „Die Jugendstrafe ist auch voraussichtlich wegen vorhandener schädlicher Neigungen des Beschuldigten geboten. Hierbei handelt es sich um erhebliche Anlage- und Erziehungsmängel, die ohne längere Gesamterziehung des Täters weitere Straftaten begründen.“ Das entspricht einer Vorverurteilung von Fabio ohne Berufung auf irgendwelche konkreten Vergehen. Der Richter erfindet „schädliche Neigungen“ von Fabio, ohne ihn jemals gesehen zu haben und ohne irgendein Gutachten. Diese Begründung wird von jeder Instanz, die für die Aufhebung der U-Haft angerufen wurde, wiederholt. Selbst im Laufe der Gerichtsverhandlung gegen Fabio wurde die „schädliche Neigung“ nie irgendwie untermauert. Der Begriff „schädlicher Neigungen“ geht zurück auf ein Gesetz im Nationalsozialismus, das zur massenhaften Internierung von unliebsamen Jugendlichen geführt hatte, ohne jeden Beweis. So findet man diese Formulierung z.B. hundertfach in den Unterlagen des Mädchenkonzentrationslagers Uckermark als Begründung für die Einweisung von jungen Frauen. Die Formulierung existiert bis heute im deutschen Jugendstrafrecht und findet jedes Jahr tausendfach Anwendung.

Fabio hat selbst seine Motivationen vor Gericht und gegenüber Journalist_inn_en erklärt: „Ob Sie es mir glauben oder nicht: Ich mag keine Gewalt. (…) Aber ich habe Ideale, und ich habe beschlossen, für sie zu kämpfen (…) In einer Epoche, in der überall auf der Welt neue Grenzen errichtet werden, in der Stacheldraht ausgerollt wird, neue Mauern von den Alpen bis ans Mittelmeer gebaut werden, finde ich es wunderbar, dass Tausende junge Menschen aus allen Teilen Europas bereit sind, gemeinsam in einer einzigen Stadt für ihre Zukunft auf die Strasse zu gehen. Über alle Grenzen hinaus und vereint in dem gemeinsamen Willen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen als der, den sie vorgefunden haben.“

Jürgen Holzapfel, EBF

Jamila Baroni: Teilnahme verboten, G20-Protest und der Prozess von Fabio V., Unrast-Verlag, Münster, August 2020.

Die Prozesse

Laut Polizeiberichten wurden nach den Anti-G-20-Demonstrationen 3580 Ermittlungsverfahren gegen Demonstrant_inn_en eingeleitet. Bis August 2020 sind 230 Verfahren abgeschlossen – mit 114 Haftstrafen auf Bewährung und 9 ohne Bewährung. Über zwei Jahre nach dem Abbruch des Prozesses gegen Fabio, kam es am 3. Dezember 2020 zu einem weiteren Prozess, dieses Mal gegen fünf damals minderjährige Demonstranten, die an dem gleichen Ort wie Fabio verhaftet worden waren. In den Polizei- und Gerichtsakten werden alle diese Verfahren nach der Strasse am „Rondenbarg“ benannt, wo eine von zahlreichen Demonstrationen aufgelöst worden war und die Verhaftungen stattgefunden hatten. Unter Berufung auf das Jugendstrafrecht wurde die Öffentlichkeit von diesem Prozess ausgeschlossen. Die Anklage gegen 80 weitere Demonstrationsteilnehmer_innen an diesem Ort soll in einem Massenprozess behandelt werden. Viele Prozesse stehen noch aus, und die Betroffenen leben jahrelang unter dem ständigen Druck, von der Justiz verfolgt zu werden.