ZENTRALAMERIKA : Grüße aus Mexiko

von George Lapierre (Mexiko, 10.9.2009), 04.02.2010, Veröffentlicht in Archipel 178

Dieser Bericht ist der letzte Teil einer Artikelreihe von George Lapierre, von dem wir bereits eine Serie mit demselben Titel in den Nummern 115 bis 118 (2004) veröffentlicht haben. Lapierre lebt in Mexiko und in Frankreich

Im heutigen Mexiko zeigen sich Gedankenströmungen und Initiativen, die auf eine Annäherung und gegenseitige Anerkennung deuten. Auf Seiten der Indigenas existiert die zapatistische Initiative, die «andere Kampagne». Selbst wenn die Mitarbeit von ultralinken Parteien eine gewisse Verwirrung stiftet, bleibt die «andere Kampagne» vor allem im Leben der Menschen verankert und verteidigt die Kollektivität und das Gemeingut.

In diesem Sinn der Öffnung sind auch manche Resolutionen zu verstehen, die während den Versammlungen in Xayakalan Ostula und in Juchitán verfasst wurden. Sie beinhalten den Wunsch, Kontakt mit Organisationen aufzunehmen, mit denen gemeinsame Ziele verfolgt werden können, und die in der mexikanischen Gesellschaft zum Beispiel gegen die Einführung von genmanipuliertem Saatgut oder für den Schutz des Criollo- Mais kämpfen. Auf Seiten der Mestizen gibt es die Initiative VOCAL (Stimme aus Oaxaca für den Aufbau von Autonomie und Freiheit). In ihrem Rahmen haben sich Karawanen unter dem Motto «der Weg des Jaguars oder die Regenerierung unseres Gedächtnisses» organisiert. So haben sich junge Barrikadenbauer aus der Stadt Oaxaca auf den Weg zur Landenge von Tehuantepec gemacht, um die Völker zu treffen, die für die Verteidigung ihres Territoriums kämpfen. Seit Anfang September ist eine neue Karawane zur pazifischen Küste unterwegs. Dort wird sie die Gemeinschaften besuchen, die durch das Bauprojekt eines Staudamms am Rio Verde bedroht sind.

Unterwegs durch die bedrohten Gemeinschaften

Am 4. September 2009 haben wir uns in la Casota (alternatives Wohnprojekt in Oaxaca und vielseitiger Treffpunkt) zusammen gefunden. Die Initiative VOCAL hatte Beobachter, Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen und Vertreter von Vereinen zur Verteidigung des Territoriums zu einer langen und abenteuerlichen Reise zum Rio Verde im Land der Chatino eingeladen. Ab Sola de Vega beginnen die verschlungenen Straßen der Sierra Madre del Sur. Wir lassen Puerto Escondido hinter uns und fahren 80 Kilometer der Küste entlang, bevor sich die Karawane ein Tal der Sierra hinauf windet: La Luz, Santa Ana, Santa Cruz. Der Rio Leche wird überquert und endlich kommen wir in Tataltepec, unserem Ziel an. Etwas oberhalb ist die Fahrpiste zu Ende. Die Landschaft ist überwältigend. Die Nähe des Ozeans begünstigt die waldreiche Gegend durch viele Regenfälle. Bis zum Fluss hinunter sind die steilen Hänge von Menschenhand zu Terrassen mit Feldern oder mit Weideland geformt worden. Der Fluss ist beeindruckend! Aber Holz, Wasser und Luft sind nur dem Schein nach Holz, Wasser und Luft. Manche sehen dahinter viel Geld (andere entdecken darin Sinn), also muss dieses schöne Tal so schnell wie möglich betoniert werden, um allen Reichtum auszusaugen. Die heiligen Orte werden ertränkt und der Geist des Tals verwandelt sich in den Brieftaschen der transnationalen Unternehmen in viel schönes Geld. Der Gouverneur des Staates, dessen Familie u.a. im Zementgeschäft mitmischt, unterstützt ein Staudammprojekt mit dem Namen «vielseitig nutzbares Wasserkraftprojekt» in Paso de la Reina, obwohl sich die Anwohner klar dagegen ausgesprochen haben. Für die betroffenen Gemeinschaften, die Chatino oder Mixteken sind, afrikanische Wurzeln haben oder Nachfahren von Mestizen sind, ist der Entschluss, ihr Territorium zu retten, unwiderrufbar. Sie haben einen Rat zur Verteidigung des Flusses gebildet: Consejo de pueblos unidos por la defensa del rio Verde oder COPUDEVER. Dieser Rat versammelt die Vertreter von mehr als dreißig Gemeinschaften, darunter von sechs Gemeinden: Tataltepec del Valdés, Villa Tututepec de MechorOcampo, Santiago Jamiltepec, Santa Cruz Zenzontepec, Santiago Tetepec. Am Samstag, den 5. September, fand am späten Nachmittag ein öffentliches Forum statt. Teilnehmer waren die Gemeindevertreter, Mitglieder des Ältestenrats und der Arbeitsgruppe Sangre Chatina, die Dorfbevölkerung und die Mitglieder unserer Karawane. Der Vertreter des Rates zur Verteidigung von Land und Territorium sprach im Namen der Gemeinden des Oaxacatals von ihrer Opposition gegen einen Autobahnzubringer. Der Vertreter der zivilen Front Teotiteco de la Cañada erzählte von ihrem Kampf für den Wiederaufbau des Gemeindelebens. Der Vertreter der Gemeinschaft Benito de Juarez de Chimalapa sprach von ihrer Entschlossenheit, einen Teil ihres Territoriums zurück zu fordern, auf welches Viehzüchter aus Chiapas vorgedrungen waren. Die Züchter waren dabei von beiden Regierungen – Chiapas und Oaxaca – unterstützt worden. Der Vertreter der Front der Völker zur Verteidigung des Bodens (FPDT) aus San Salvador Atenco erinnerte an ihren erfolgreichen Kampf gegen das Bauvorhaben eines internationalen Flughafens auf ihrem Land im Jahr 2006 und an die 12 Gefangenen, die als Geiseln in Staatsgefängnissen festgehalten werden. Einer von ihnen, Ignatio del Valle, ist zu 112 Jahren Gefängnis verurteilt; Felipe Alvarez und Hector Galindo müssen jeweils 67 Jahre Gefängnis verbüßen. Nach diesen Berichten machten die Frauen und Männern, die Jungen und auch die Ältesten von Tataltepec «vom Wort Gebrauch». Sie schwankten dabei zwischen Entschlossenheit und Entmutigung, zwischen Wut und Trauer.

Korruption des Geistes

Während ich ihnen zuhörte, spürte ich, welche Aggression diese Projekte auf die Menschen und ihr Leben, ihren Frieden und ihre Lebensweise ausüben. Ich spürte, wie sehr ihr gemeinsamer Lebenssinn vergewaltigt wird. Die Projekte erscheinen wie entfesselte Kräfte der Barbarei gegen die Kultur einer Lebensweisheit. Begleitet werden sie von Drohungen und Einschüchterungen aller Art und mit dem ganzen Gewicht des Staates, seiner Polizei und Armee. Die Menschen stehen als Krieger und Kriegerinnen mit ihrem Gedächtnis, ihrer Geschichte und ihrem Fleisch als einzige Waffen der Feuerkraft gegenüber, die egoistischen Interessen dient. Beim Anhören der verschiedenen Berichte - und besonders als die Mitglieder von Sangre Chatina sprachen - begriff ich den Sinn des Wortes Korruption. Seine Bedeutung begrenzt sich nicht auf das, was wir gewöhnlich darunter verstehen, wenn wir von einem korrupten Gemeindepräsidenten oder von einem Comisariado* reden, der seine Stellung ausnutzt, um sich auf Kosten der Gemeinschaft zu bereichern. Hier berührt der Begriff Korruption einen viel weiteren Geltungsbereich: den Geist. Die Korruption findet auf spiritueller Ebene statt. Der Gedanke, der den Menschen als soziales Wesen belebt, als Humano-pueblo, ist korrumpiert; eine Denkweise ist korrumpiert und zwar durch eine andere Denkweise, durch eine andere Sicht der Welt und von sich selbst.

Die «ländliche Stadt» – ein Konzept der Zerstörung

Die kapitalistische Welt hat die frenetische Stufe einer so perfekten Dominierung erreicht, dass die Wörter selbst ihren Sinn verloren haben. In einem Bericht der Weltbank von 2009 über die weltweite Entwicklung mit dem Untertitel «Eine neue Wirtschaftsgeographie» steht geschrieben: Die wirtschaftliche Integration setzt voraus, dass die Landgebiete den städtischen Gebieten angenähert werden. Alphonse Allais, ein französischer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, schlug vor, die Städte aufs Land zu versetzen. Die Weltbank schlägt sehr viel humorloser vor, das Land in die Stadt zu versetzen, so als handle es sich um einen Bauklotz. Sie erfindet ein neues Konzept von der ländlichen Stadt, dem jeder Sinn fehlt. Tatsächlich hat dieses neue Konzept jedoch eine sehr genaue Bedeutung, Es geht darum, Zentren aufzubauen, in denen die indianische Bevölkerung zusammen geschart wird. Somit würde «eine neue territoriale Organisation, die auf Privateigentum, billigen Arbeitsplätzen, agroindustriellem Anbau und Massentourismus basiert» geschaffen, wie von Japhy Wilson von der Universität Manchester zu erfahren ist. Der Gouverneur von Chiapas, Juan Sabines, weihte gerade die erste «ländliche Stadt» (aus einer langen Liste) ein, zu verstehen ist darunter Konzentrationslager mit individuellen Sanitäranlagen. Die Völker sind von ihrem Territorium enteignet. Was eine Kollektivität war, zerfällt und bricht auseinander. Die Bauern verlieren ihr Land und sind ihren eventuellen Arbeitgebern im Bereich der Agro- oder Lebensmittelindustrie ausgeliefert. Chiapas befindet sich im geographischen und strategischen Mittelpunkt der Region, die von Puebla bis Panama reicht. Im Juni 2008 benannten die Vertreter aus Mexiko, Zentralamerika und Kolumbien den Plan Puebla Panama (PPP) in Projekt Meso-Amerika um. Sie einigten sich darauf, das ganze Territorium von Südmexiko bis Kolumbien in den Dienst des Großkapitals zu stellen. Auf dem Rückweg vom Land der Chatino erzählte ein Reisebegleiter vom Volk der Zok die Geschichte seines Dorfes. Die Menschen seiner Gemeinschaft kamen dahinter, daß ein Unternehmen heimlich angefangen hatte, in den Bergen Wald abzuholzen (heimlich heißt, das Unternehmen handelte illegal, aber mit Unterstützung der Kaziken und Politiker; oft reicht die Komplizenschaft sogar bis zum Gouverneur selbst oder zumindest in seine Umgebung). Die Gemeinschaft versammelte sich und beschloss einige Familien in die Sierra zu schicken, um eine Siedlung zu gründen. So wollten sie sich gegen das Abholzen wehren und dem Unternehmen und seinen Handlangern entgegen treten. Beim Zuhören kamen mir das Volk der Nahuatl von Ostula in der Region von Michoacán in den Sinn, das Volk der Chatino im Tal des Rio Verde, die zapatistischen Völker der Chol, Tzotzil, Tojolabal, Tzeltal, Mam im Chiapas...und ich sagte mir, dass ihre Waffen angesichts der Stärke des Feindes lächerlich sind. Alles in allem bleibt diesen Kriegern das Denken. Sie sind die Krieger des Denkens.

* Comisariado: Vertreter der Comuneros oder der Ejidatarios und der von der Gemeindeversammlung bestimmt wird..