Protest gegen ein Schnellstrassenprojekt in Wien: Klimaaktivist·inn·en halten seit Ende August 2021 eine Autobahnbaustelle in Wien besetzt. Dass auch Bürgerinitiativen zu Blockaden aufrufen und Klimagruppen sich zusammenschliessen, verdeutlicht den sich zuspitzenden Konflikt um die "Klimamusterstadt".*
"Öffis bauen statt Grünflächen klauen" – eine von mehreren Strassenbaustellen-Blockaden diese Woche in Wien: "Der Verkehr ist schon nervig beim Schlafen, aber viel schlimmer ist die Kälte", erzählt Amina Guggenbichler, während sie zwischen den Zelten eine festgewalzte Erdtrasse hinter den Baustellengittern erklimmt. "Wir werden aber sicher nicht zuschauen, wie ein riesengrosses Projekt unsere Emissionen noch mehr in die Höhe treibt", fügt sie kampfeslustig hinzu.
Die junge Frau ist eine von Dutzenden Klimaaktivist_inn_en, die seit einer Woche gleich mehrere Baustellen der "Stadtstrasse Hirschstetten" am Rande von Wien besetzt halten. Die "Stadtstrasse", so die euphemistische Bezeichnung für die drei Kilometer lange und 50 Meter breite Autobahn, soll den Zubringerverkehr zur Seestadt Aspern im Nordosten Wiens zur Aussenringautobahn kanalisieren und damit die Wohngebiete entlasten, so das Versprechen der Politik. Die Baustellenbesetzung macht die Diskussion um die Mobilität in der vorwiegend sozialdemokratisch regierten Hauptstadt Österreichs aber nicht nur um ein Kapitel reicher. Der zivile Ungehorsam von örtlichen Gruppen wie System Change not Climate Change, Extinction Rebellion oder Fridays for Future hat die Debatte auf eine neue Ebene gehoben. Über viele Jahre wurde die Auseinandersetzung um klimaschädigende Infrastrukturprojekte auf dem Papier oder vor Gericht ausgetragen. Hauptakteure waren dabei Umweltschutzorganisationen und Bürgerinitiativen. Kürzlich hatte aber der Sprecher der örtlichen Bürgerinitiative "Hirschstetten retten" deutlich gemacht, dass es den Initiativen reicht: "Wird gebaut, wird besetzt." Und so kam es dann auch.
Betonschädelpolitik
Grossprojekte sind auch in Wien stark umkämpft. Die zuständige Verkehrsstadträtin Ulli Sima ist nicht nur altgediente SPÖ-Funktionärin, sondern blickt auch auf eine politische Karriere zurück, die von den Grünen über die Umweltorganisation Global 2000 bis zu den Naturfreunden reicht. Sima versucht seit Jahren, für die Hauptstadt das Label "Klimamusterstadt" zu etablieren. Glaubwürdig ist das grüne Image aber nur bedingt, da die Stadtregierung umstrittene grosse Infrastrukturprojekte wie die dritte Landebahn am Flughafen Wien-Schwechat ("Dritte Piste") oder den Lobautunnel stets konsequent vorantreibt. Die Lobau-Autobahn, eine Aussenringautobahn, die den Nationalpark Donauauen auf acht Kilometern untertunneln sollte, ist mittlerweile zum Symbol rückwärtsgewandter Verkehrspolitik geworden und hat der für österreichische Verhältnisse progressiven Stadtregierung die typisch wienerische Bezeichnung "Betonschädelpolitiker" eingebracht.
"47 Prozent der Leute in Wien besitzen kein Auto, können sich auch keines leisten. Daher ist das Projekt hier eigentlich auch unsozial", findet Florian Mayr von Extinction Rebellion. Auch er ist Besetzer. "Besonders schräg" findet er, dass das Projekt federführend von der Sozialdemokratischen Partei protegiert werde. Die Aktionsgruppen haben auch Wissenschaftler und Verkehrsplanerinnen auf ihrer Seite: Hat es Österreich zwar geschafft, in manchen Sektoren CO2-Emissionen einzusparen – auch durch die Covid-Krise im letzten Jahr –, war es gerade der zunehmende motorisierte Individualverkehr, der alle Einsparungen im Jahr 2020 zunichtemachte. Der umweltorientierte Verkehrsclub Österreich (VCÖ) forderte schon im August: "Als erster wichtiger Schritt zum Klimaziel sind alle Massnahmen, die zu mehr Autoverkehr und mehr Lkw-Verkehr führen, zu unterlassen." Der Bau neuer, "entlastender" Strassen ist dabei keine passende Methode, um das Problem in den Griff zu bekommen, glaubt man Forschenden der Technischen Universität Wien. Ihnen zufolge werden sich die entlastenden Strassen, wie auch die Stadtstrasse Hirschstetten eine sein soll, früher oder später mit Autos füllen, weil sie es attraktiver machen, mit dem Auto zu fahren.
Enge Zusammenarbeit
Das dürfte auch ein Motiv für Umweltministerin Leonore Gewessler von den Grünen gewesen sein, als sie Anfang Juli ankündigte, sämtliche Bauprojekte der staatseigenen Asfinag, der "Autobahnen- und Schnellstrassen-Finanzierungs-Aktiengesellschaft", auf ihre Tauglichkeit in Sachen Klimaschutz neu zu evaluieren. Die Asfinag betreibt nicht nur den Bau der Anschlussstelle Hirschstetten, die Amina Guggenbichler und ihre Mitstreiter·innen besetzt halten, sondern auch die Lobau-Autobahn und weitere Strassenbauprojekte in ganz Österreich. Zwar sollen die Evaluierungen mit dem Herbst abgeschlossen sein, Gewessler muss sich aber massive Gegenwehr in Form von Klageandrohungen und medialen Rügen aus allen Richtungen gefallen lassen. Die Asfinag selbst aber sieht zumindest der gegenwärtigen Besetzung am Wiener Stadtrand gelassen entgegen. Der Ausbau sei eine "Massnahme zur Erhöhung der Verkehrssicherheit", so eine Sprecherin gegenüber Klimareporter. Man könne die Besetzungssituation zeitlich gut überbrücken. "Daher setzen wir auf Kommunikation und sehen aktuell auch noch von einer Räumung der Baustelle ab." Guggenbichler von Fridays for Future hält dagegen: "Wir wollen keine Mobilität, die noch mehr CO2 ausstösst. Wir wollen eine Mobilität, die zukunftsfähig ist!" Deswegen sei sie gekommen, um zu bleiben. Selbst wenn die Besetzung früher oder später von der Polizei beendet werden sollte, ist sie für Florian Mayr bereits jetzt, nach wenigen Tagen, ein Erfolg: "Es ist das erste Mal, dass die neu entstandenen Klimagruppen in Österreich so eng zusammenarbeiten.“ Extinction Rebellion, Fridays for Future, System Change not Climate Change und der Jugendrat: Man lerne sich kennen und schöpfe gegenseitiges Vertrauen – für die Aktionen der Zukunft
Christof Mackinger, Journalist, Wien
*Der Artikel wurde am 10. September im Klimareporter.de erstveröffentlicht und am 6. Oktober in der Wiener Obdachlosenzeitung Augustin.