UKRAINE: Zu Besuch in Transkarpatien

von Bertrand Burollet (Weinbauer in Longo maï), 09.06.2010, Veröffentlicht in Archipel 181

Die Organisation Païsalp, ein Zusammenschluss von Bauern der Haute Provence, hat im Januar 2010 eine Reise von elf Landwirten und einem Tierarzt organisiert. Sie führte in den Westen der Ukraine, nach Transkarpatien, also südlich der dortigen Karpaten und auch in die Region von Lwiw (Lwow, Lemberg) im Norden derselben Bergkette. Die Reise war die Folgeveranstaltung des Besuchs einer Delegation von Ukrainern im Rahmen der Vereinigung für lokale Entwicklung in Transkarpatien ATDL.

Wir haben zwei Aspekte der ukrainischen Landwirtschaft kennengelernt, einerseits die hauptsächlich der Selbstversorgung dienende Kleinbauernwirtschaft - sie stellt die große Mehrheit der ukrainischen Bauernbetriebe dar, andererseits die Anfänge einer industriell geprägten Landwirtschaft im Dienste der Nahrungsmittelindustrie. Von unserer Seite aus haben wir versucht zu erzählen, was wir leben und machen. Wir wünschen uns eine Fortsetzung dieses Austausches.
Der Zufall wollte es, dass wir genau zum Zeitpunkt des ersten Urnenganges der Präsidentschaftswahlen angekommen sind. Es war ein surrealistischer Augenblick... Zur Erinnerung sei erwähnt, dass 2006 die orangene Revolution stattfand: Der gewählte Präsident war des Wahlbetrugs beschuldigt worden, es gab Demonstrationen in der Straßen der Hauptstadt Kiew, der Machthaber ist zurückgetreten und hat einen dritten Wahlgang ermöglicht. Der Kopf der Opposition, Juschtschenko, trug damals den Wahlsieg davon. Vier Jahre später ist derselbe Juschtschenko bereits im ersten Wahlgang mit nur 5 Prozent der Stimmen abgewählt worden! Das ist wahrhaftig ein Weltrekord für einen abgewählten Präsidenten, umso mehr als dass er durch einen Volksaufstand an die Macht gekommen war. In Wirklichkeit hat sich nichts geändert, die Bevölkerung erwartet nichts mehr von ihrer politischen Elite, wer auch immer wen ablösen wird. Die Korruption und Vetternwirtschaft hat nur noch zugenommen, und der Lebensstandard der Bevölkerung hat sich verschlechtert. Der Präsident hat sich ununterbrochen mit seiner Premierministerin Julia Timoschenko gestritten, die beiden haben sich gegenseitig Stöcke vor die Beine geworfen, mit dem Resultat, dass auch sie im zweiten Wahlgang ihrem Gegner von vor vier Jahren, Janukowitsch, unterlegen war. Dieser war 2006 wegen Wahlbetrugs zum Rücktritt gezwungen und 2010 wieder gewählt worden. Es geht eben alles weiter wie gewohnt...

Herr B.

Auf unserer Rundfahrt durch landwirtschaftliche Projekte sind wir mit diesen politischen Schandtaten konfrontiert worden. In Transkarpatien gibt es seit einiger Zeit einen gewissen Herrn B. Der hat im wahrsten Sinn des Wortes die Dinge unter Kontrolle. Als ehemaliger Kabinettschef des scheidenden Präsidenten hat er sich noch vor dem zweiten Wahlgang auf die Seite des Neuen geschlagen. Um ihn kommt man in der Region nicht herum, es kursiert übrigens auch das Gerücht, dass er bereits zu Sowjetzeiten Zigaretten und Alkohol geschmuggelt hat. Herr B. hat soeben die ersten acht Supermärkte in der Region mit der selbst kreierten Marke Barva eröffnet. Der Zusammenhang mit der Landwirtschaft besteht darin, dass diese Supermärkte von eigens gegründeten Nahrungsmittelfabriken beliefert werden. Wir haben diese Fabriken besucht. Das Ganze spielt sich hauptsächlich in der Umgebung von Mukatschewo ab. Mukatschewo ist die zweitgrößte Stadt in Transkarpatien, und Herr B. war dort einst der Bürgermeister. Unser Begleiter bei den Fabrikbesuchen ist kein Geringerer als der Landwirtschaftsbeauftragte des Regionalparlaments, Herr Iwan Fedorowitsch P. Früher war Herr P. Direktor des Unternehmens von Herrn B. Heute arbeitet er nach wie vor für ihn, jedoch in dieser anderen Funktion, er ist jetzt sehr nützlich, wenn es um Subventionen, Bewilligungen und andere Behördenschikanen geht. Stolz zählte er auf, was bisher erreicht worden ist: «Wir haben angefangen mit der Aufzucht von Milchkühen, natürlich Holsteiner wie überall. Es sind jetzt 170 Stück, es ist ja noch die Aufbauphase. Daneben steht eine nagelneue Molkerei, hier sind wir auch noch in der Phase des Lernens, alles ist Spitze, nach globalisierten Normen eingerichtet. Hier ist vorgesehen, Milch in Flaschen für den Verkauf in den Supermärkten zu produzieren, daneben auch Joghurt, Kefir und Quark. Dann hier, eine Fabrik für Tierfuttermehl, schlüsselfertig und mit Wartungsgarantie aus Frankreich geliefert. Dann, das Beste von allem: Eine Schweinefabrik, drei Lieferungen von vierhundert Säuen aus Frankreich sind angekommen, jede wirft zwischen zehn und zwölf Ferkel, die bei einem Gewicht von 120 Kilo schlachtreif sind.»
All diese Tiere sind mit Impfstoffen vollgepumpt, der Rundgang im Schutzanzug war von der Furcht geprägt, wir würden irgendeine böse Grippe einschleppen. Das soll aber nur ein Anfang sein, die Kapazität soll verdoppelt werden, indem symbolträchtig in den Ruinen der alten Kolchose eine weitere Fabrik gebaut werden soll. Wieder ist es eine französische Firma, die diese Schweinefabrik liefert: I-TEK aus der Bretagne. Deren Know-How in Sachen Zerstörung von Umwelt und kleinbäuerlichen Strukturen ist in Frankreich bekannt. Jetzt exportieren sie es in den Osten. Geplant ist außerdem noch ein Schlachthof mit Verarbeitungsstrecke für das Schweinefleisch, Herr B. denkt an alles. Der immer wieder gleiche mafiöse Entwicklungsprozess findet überall auf der Erde statt. Hoffen wir, dass am Ende noch anderes bestehen bleibt als diese grauenhaften Auswüchse der Nahrungsmittelproduktion.

Selbstversorgung

Glücklicherweise haben wir in den folgenden Tagen auch noch andere Orte besucht. Im Distrikt Chust in den Dörfern Nischne Selischtsche, Nankowo und Isa haben wir sehr kleine Höfe gesehen, sie wirtschaften hauptsächlich zum Zweck der Selbstversorgung: eine oder zwei Kühe, einige Schweine, Hühner und ein Gemüsegarten. Nach der Auflösung der Kollektivbetriebe hat jede Familie ein kleines Stück Land von 70 Aren bis zu zwei Hektar (je nach Region und Dorf) erhalten. Rechtlich gesehen sind diese Höfe private Landwirtschaftsbetriebe, praktisch kann aber keine Familie wirklich davon leben. Sie können sich lediglich mit Nahrungsmitteln versorgen und einige Überschüsse verkaufen oder tauschen. Um über die Runden zu kommen, braucht es noch eine andere Arbeit. Die Männer gehen vier bis sechs Monate pro Jahr auf Baustellen in Kiew oder Moskau arbeiten. Etliche fahren als Erntehelfer sehr weit, manchmal sogar bis nach Sibirien. Diejenigen, die nicht wegfahren, haben Beamtenjobs, die sie nicht ernähren. Ein Lehrer mit umgerechnet 80 Euro Monatslohn betreibt dann eben nebenbei noch einen kleinen Hof. Es ist eine sehr ärmliche Wirtschaft, jedoch mit einem sehr großen Potential, es gäbe hier alles, um Landwirtschaft von guter Qualität und in einer humanen Größe zu betreiben. Nach 45 Jahren Sowjetunion sind sämtliche Ansätze von kollektivem Wirtschaften bis auf weiteres verpönt. In ebendieser Zeitspanne sind auch sämtliche landwirtschaftlichen Traditionen zerstört worden, alles muss wieder gelernt werden. Es war sozusagen die Botschaft von Païsalp an diese Bauern, dass man sehr gut auf kleinen Höfen leben kann, ohne alles um sich herum zu zerstören. Es gibt nur wenige Bauern, die sich solch ein Abenteuer trauen, aber wir haben sie getroffen. Am Ende unseres Aufenthaltes, bei einem Treffen mit der Presse und einigen Landwirtschaftsfunktionären haben wir darauf hingewiesen, dass die industriell geprägte Landwirtschaft sehr viel Subventionen und Privatkapital benötigt, wenig Arbeitsplätze schafft und viel Müll hinterlässt. Indem der Kleinlandwirtschaft aus ihrem Stillstand herausgeholfen wird, entstehen viel mehr Arbeitsplätze sowie Produkte von höherer Qualität und all dies im Einklang mit Mensch und Umwelt.

Païsalp

In der Vereinigung Païsalp sind ungefähr vierzig Bauern aus der Haute Provence zusammengeschlossen. Sie legen Wert darauf, ihre Produkte selbst zu verarbeiten und die Größe der Höfe zu beschränken. Im Weiteren ist ihnen an sozialen Kontakten gelegen und sie verkaufen den größten Teil ihrer Produkte direkt an die Verbraucher. Sie lehnen sanitäre Normen ab, die nicht mit einer Kleinlandwirtschaft vereinbar sind. Sie prangern öffentlich an, was die Verträge zwischen der EU und den neuen Mitgliedsstaaten für Auswirkungen auf die dortigen Kleinbauern haben. Sie machen publik, was für ein übles Schicksal die legalen und illegalen Wanderarbeiter in den Betrieben der EU-Agrarüberproduktion erleiden.