UKRAINE / TRANSKARPATIEN: Lachen um nicht zu weinen

von Heike Schiebeck, EBF, Longo maï, 19.06.2022, Veröffentlicht in Archipel 315

Hier in Zeleny Hay, einem idyllischen Weiler in den südlichen Ausläufern der ukrainischen Karpaten, ist das Leben friedlich. Es wird gerne gelacht – mitten im Krieg? Dann merke ich, wie angespannt die Stimmung ist, wie alle ständig die Nachrichten zum Kriegsgeschehen auf ihren Smartphones verfolgen. Manche versuchen, mit kleinen Witzen die Anspannung zu lockern.

Klavierklänge erfüllen das Haus. In einer kleinen Kammer improvisiert Ilja, ein bekannter ukrainischer Jazzpianist, täglich mehrere Stunden, wenn er nicht gerade kocht. Er hat Kyiw mit seiner gehbehinderten Mutter, seiner Schwester, einer Dokumentarfilmerin, und ihren zwei Kindern am 26. Februar verlassen, als die Bombeneinschläge näherkamen. Seiner Mutter war es nicht möglich, bei Fliegeralarm vom 7. Stockwerk in 15 Minuten bis in den Schutzkeller zu gelangen. Auch Sergej (siehe Interview in derselben Nummer, Anm. d. Red.) hat Kyiw gleich zu Beginn des Krieges verlassen. Sein Haus liegt nur 2 km von einem Militärstützpunkt entfernt, wo am 24.2. um 5 Uhr früh die ersten Raketen einschlugen. Frau und Kinder sind nach Deutschland geflohen und haben in Dortmund bei einem Freund aus Kasachstan, der ihnen mit seinen Russisch-Kenntnissen eine grosse Hilfe ist, Unterschlupf gefunden. Sergej ist Inhaber eines Cafés und einer Bäckerei, in der Beeinträchtigte arbeiten. Mit seiner sanften Stimme erklärt er mir, dass er ohne Familie die Hände frei habe, um Hilfstransporte in den Osten des Landes zu organisieren. Die überwiegend jungen Leute in Zeleny Hay zeichnen, spielen Tischtennis, üben mit dem Skateboard auf der betonierten Fläche zwischen den Schweineställen, folgen dem Online-Unterricht oder helfen eifrig im Garten. Sie helfen überhaupt, wo sie können – sind dankbar hier sein zu dürfen.

Bleiben bis der Spuk vorbei ist

Ein sonniger, wunderschöner Frühling: Zwischen Buchenwäldern, deren zartgrüne Blätter gerade aufgehen, und Wiesen mit blühenden Obstbäumen leben zwei Familien der europäischen Longo-maï-Genossenschaftsbewegung auf ihren Höfen – offene Begegnungsräume. Gleich zu Beginn des russischen Angriffskrieges haben sie Telefonanrufe von Freund_inn_en bekommen: Können wir zu euch kommen, nur für ein paar Tage, für eine unbestimmte Zeit, bis dieser Spuk vorbei ist? Daraus sind inzwischen Monate geworden. Nun sind in jedem Haus 20 Personen und mehr untergebracht, täglich kommen neue hinzu, andere fahren ab.

„Wir helfen am Hof, wo wir können.“ Olya hat studiert und ist Chemikerin. Sie sortiert die gespendeten Medikamente und andere Hilfsgüter, die im Depot in Khust ankommen. Ich bin erst 16 und mache gerade mein Abitur auf einem musischen Gymnasium, natürlich alles online. Meine Eltern sind in Kyiw geblieben, ich habe grosse Angst um sie. Ich zeichne viel, das beruhigt mich. Hier am Land fühle ich mich in Sicherheit. Aber es beunruhigt mich sehr, was in anderen Teilen des Landes passiert,“ erzählt mir Nika, während sie Fenster putzt. Ihr älterer Bruder Jegor, Aktivist einer kleinen ukrainischen NGO zur Verteidigung der Wälder, arbeitet schon mehrere Jahre in der Kampagne zur Rettung des Bergmassivs Svydovets mit Longo maï zusammen. Mit seinen jüngeren Geschwistern, seiner Freundin Olya und deren Eltern haben sie hier Unterschlupf gefunden.

Nolig, Sergej und Marie sind von einer Misson nach Kyiw und Saporischschja im Osten des Landes zurückgekommen.(1) Aus Kyiw sind die russischen Truppen inzwischen abgezogen, von der 800.000 Einwohner_innen zählenden Hauptstadt der Region Saporischschja ist die Front jedoch nur 40 km entfernt. Mehr als 100.000 Binnenflüchtlinge sind schon in der Stadt, von den internationalen Hilfsorganisationen fehlt jede Spur, erzählt Marie. Das Europäische BürgerInnen Forum (EBF) hat zusammen mit Longo maï bereits 15 Kleinbusse in die Ukraine gebracht, mit denen einheimische Fahrer Hilfsgüter in die Gebiete nahe der Front bringen und Menschen von dort evakuieren. Die Delegation hat Kontakt zu lokalen Initiativen aufgenommen, die gratis warme Mahlzeiten, Lebensmittel und Hygieneprodukte an die Geflüchteten verteilen. Wir werden diese Gruppen unterstützen. Am nächsten Tag fahren wir in die nahegelegene Kleinstadt Khust. Dort hat der italienische Unternehmer Reinjo vor 20 Jahren eine Schuhfabrik eingerichtet. Er stellt dem EBF eine grosse Lagerhalle für humanitäre Hilfsgüter zur Verfügung und packt auch selbst mit an. Den ganzen Tag arbeiten wir, Einheimische, Binnenflüchtlinge und internationale Freiwillige zusammen in der Halle, sortieren Medikamente und medizinisches Material, stellen 33 Paletten zusammen mit Gemüsekonserven, Hygieneartikeln und Schlafsäcken, insgesamt 20 Tonnen, alles Spenden von privaten Initiativen vor allem aus Rumänien. Die Paletten sind 2,30m hoch und werden mit dem Gabelstabler auf den Sattelschlepper geladen, der am nächsten Tag in die 1.200km entfernte Stadt Saporischschja aufbricht. Die Stimmung ist gut, alle sind froh, etwas Sinnvolles tun zu können.

Unterbringung im Dorf

Im Dorf Nischnje Selischtsche mit seinen 2.000 Einwohner_inne_n, wo unser Weiler Zeleny Hay liegt, haben sich 500 Menschen als Binnenvertriebene registriert, aber die wirkliche Zahl wird viel höher geschätzt. Manche sind privat untergekommen, zahlen Miete, manche auch nicht. In der Schule wohnen 150, im Kindergarten 75 Menschen, vor allem Frauen und Kinder. Pro Raum schlafen 8 bis 10 Personen auf Matratzen am Boden. Eine Frau sitzt auf einem Kleinkinderstuhl und schaut konzentriert auf ihr Handy. Sie entschuldigt sich bei uns, sie müsse Mathematik-Unterricht geben. Die Dorfkäserei, entstanden auf eine Initiative und mit Unterstützung von Longo maï, würde heuer ihr 20-jähriges Jubiläum feiern, wenn kein Krieg wäre. Viel Käse wird jetzt gratis an die Vertriebenen abgegeben, deshalb unterstützen das EBF und Longo maï die Käserei finanziell, damit sie überleben kann und den lokalen Bauern und Bäuerinnen auch weiterhin die Milch abkauft. In dem dazugehörigen Restaurant, erst vor einem Jahr eröffnet und gleich zu Kriegsbeginn in eine Kantine umgewandelt, werden täglich bis zu 300 warme Mahlzeiten gratis ausgeteilt. Unter Anleitung einer Köchin bereiten 10 Freiwillige – Geflüchtete und Einheimische – das Essen zu.

Tanja, eine langjährige Freundin, betreute während 2 Monaten 18 Kinder und Jugendliche im Alter von 8 bis 17 Jahren in der Herberge von Longo maï im Dorf. „Die Kampfhandlungen haben sich schon ab dem 17. Februar in der Region Luhansk verstärkt, noch vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. Eltern aus Luhansk, deren Kinder schon einmal in unserer Herberge ihre Ferien verbracht hatten, riefen mich an und baten mich, die Kinder aufzunehmen. Sie haben sich ohne Begleitung von Erwachsenen auf die weite Reise gemacht und sind zu mir gekommen. Ich war zu Beginn allein mit ihnen, die Kinder waren anfangs völlig aufgedreht, ohne ihre Eltern in die Ferien zu fahren. Schon bald haben mir Frauen aus dem Dorf geholfen, die wilde Bande zu betreuen.“ Später sind die Eltern nachgekommen und die Herberge war wochenlang völlig überfüllt. Tanja hat daraufhin Häuser angemietet und bietet den Familien an, umzuziehen. Das haben schon 4 Familien in Anspruch genommen. Seit Beginn des Krieges haben sich die Mieten jedoch verdoppelt oder gar verdreifacht. Manche Familien haben sich auf eigene Faust eine Wohnung gefunden. Einige Binnenflüchtlinge sind in ihre Heimatorte zurückgekehrt, weil sie nicht ewig, ohne Geld zu verdienen, leben können.

Perspektiven am Land

Mit dem Beginn des Krieges nutzten einige ukrainische Familien im Dorf die erleichterten Bedingungen, um auszuwandern, weil in Polen oder Tschechien schon der Ehemann arbeitete. Andererseits siedeln sich Binnenflüchtlinge hier an und überlegen ernsthaft zu bleiben, insbesondere wenn sie schon zweimal vertrieben wurden – etwa aus der Region Luhansk – und nichts mehr haben, wohin sie zurückkehren können. Eine Zahnärztin hat eine provisorische Praxis aufgemacht, ein Tischler möchte seine Werkstatt im Dorf einrichten.

Wir haben nachbaufähiges Saatgut organisiert, um die kleinbäuerliche Landwirtschaft und die Ernährungssouveränität in den Karpatendörfern zu stärken, wo nun viel mehr Menschen ernährt werden müssen. Viele Kleinlandwirtschaften dienen der Selbstversorgung, Überschüsse werden auf den lokalen Märkten verkauft. Diese Hauswirtschaften unter 5 ha Fläche erzeugen Kartoffeln, Mais, Fleisch, Eier, Milch, Gemüse und Obst, insgesamt fast die Hälfte der gesamten Agrarproduktion der Ukraine. Wie sich jetzt während des Krieges wieder zeigt, sind sie viel weniger krisenanfällig als die flächenstarken Grossbetriebe, die mit viel Einsatz von Kunstdünger und Pestiziden Getreide für den Export produzieren.

In Nischnje und den umliegenden Dörfern haben wir 25 Tonnen Saatkartoffeln aus Österreich und Rumänien an 500 Familien verteilt. Auch 4 Tonnen samenfesten Bio-Mais, der hier auf kleinen Feldern für die Eigenversorgung mit Polenta von Hand ausgesät wird, konnten wir in kurzer Zeit in Westeuropa organisieren, obwohl es gar nicht so einfach war, diese Menge zu finden. Auch Biomais besteht in der EU fast ausschliesslich aus Hybridsorten. Eine Mühle wird bald eingerichtet, um eigenes Brotmehl herzustellen. Wir haben viele Ideen, wie wir die bäuerliche Landwirtschaft hier stärken könnten.

Freiwillige Selbstverteidigungs-Einheiten

In Khust und einigen anderen Bezirken Transkarpatiens sind die Männer, die sich freiwillig zu den Selbstverteidigungskräften gemeldet haben, eingezogen worden. In den frühen Morgenstunden begann für sie eine zweitägige Reise, die unerwartet in der Region Donezk, mitten im Kriegsgebiet, endete. Sie haben keine militärische Ausbildung und verfügen über keinerlei Kampferfahrung. Daraufhin begaben sich spontan etwa 80 Frauen – Mütter, Schwestern und Ehefrauen – zur Militärverwaltung in Khust. Sie protestierten lautstark und verlangten eine Erklärung. Die Familien befürchten, dass die jungen Männer ohne Kampferfahrung in der Schlacht verheizt werden. Tanjas Freund Slavik ist auch dabei.

Ilja, der Pianist mit dem wir so viel gelacht haben, ist mit einem Freund, dessen Wohnung zerstört wurde, zurück nach Kyiw. Er will schauen, was aus seiner 11-köpfigen Salsa-Band geworden ist. Der Vater von Olya, ein Ingenieur, der in seiner Firma Röntgengeräte herstellt, möchte den Betrieb in Lwiw wieder aufnehmen. In Zeleny Hay ist es ruhiger geworden. In den transkarpatischen Dörfern könnten die Vertriebenen, die hier in der vom Krieg verschonten Region bleiben möchten, neue Perspektiven für das Land schaffen.

Heike Schiebeck, EBF, Longo maï

  1. siehe auch Interview mit Sergej von Operation Solidarity in dieser Archipel-Ausgabe