Vom 26. bis 28. August 2022 organisierten wir1 in der nordostdeutschen Hafenstadt Greifswald einen Aktionskongress mit dem Thema: «Nach der russischen Invasion in der Ukraine – solidarische Netzwerke, jetzt erst recht!» zu dem wir Aktivist·inn·en aus der Ukraine und Russland einluden.
Nach wochenlanger Vorbereitung gemeinsam mit unseren Freund·inn·en der STRAZE (2) trafen wir uns mit Gruppen, Aktivist·inn·en und interessierten Einzelpersonen quer aus Deutschland, der Ukraine, Russland und darüber hinaus. Ziel des Treffens war zum einen, soziale Netzwerke international zu stärken und auszubauen, die zu Themen rund um den Angriffskrieg in der Ukraine arbeiten. Zum anderen wollten wir einen Raum schaffen, in dem wir verschiedene, auch kontroverse Positionen und Haltungen hören können, um einander besser zu verstehen und gemeinsam handlungsfähig zu sein. Dafür hörten wir Vorträge zu den Folgen des Krieges aus der antiimperialistischen, feministischen, soziologischen und basisaktivistischen Perspektive, stellten Fragen, diskutierten, hörten polyphonische Gesänge aus der Ukraine, assen, tranken und tanzten gemeinsam. Viele Mitglieder des Europäischen BürgerInnen Forums (EBF) und Menschen aus den Kooperativen von Longo maï in Westeuropa waren und sind in die direkte Unterstützung der Longo-maï-Höfe in Transkarptien (Westukraine) und deren Netzwerk involviert. Das gesamte Organisations-Team des Kongresses war in der ersten Jahreshälfte abwechslungsweise in der Ukraine und hat dort die Arbeit unserer Freundinnen und Freunde unterstützt.
Wie es zum Kongress kam Schon dort hatte sich gezeigt, dass es zwischen den linken Bewegungen viel zu klären gibt. Wir haben von Anfang an über Militarismus, Nationalismus, Imperialismus, über Selbstbestimmung, Frieden und Freiheit gestritten und uns wieder versöhnt. Dabei stand selbstverständlich solidarisches Handeln nie in Frage. Aber war das wirklich selbstverständlich? Unsere Erfahrung war ganz praktisch: Streiten und zusammenarbeiten ist gleichzeitig möglich – die Zusammenarbeit von Menschen, die einander kennen, verstehen und unterstützen wollen, ist die wichtigste Antwort auf Bomben, Hass und Töten. Mit dieser Erfahrung zurück in Mecklenburg-Vorpommern erlebten wir Momente, in denen wir verstanden, dass es grosse Angst vor dem Verlust von grundlegenden Überzeugungen gibt: Antimilitarismus und das Recht auf Selbstverteidigung, Freiheit und das Recht auf Selbstbestimmung, Anti-Nationalismus. Wir verteidigen unsere Grundwerte hinter all diesen grossen Schlagwörtern und übersehen dabei oft, wo wir uns nach wie vor einig sind, welche die offenen Fragen sind, die keiner von uns endgültig beantworten kann und was das eigentliche Ziel ist. Wir sahen auch, dass viele linke Gruppen hier und in der Ukraine oder auch in Russland wenig voneinander wissen. So kam es zu dem Beschluss, diesen Kongress zu organisieren und einige der Kontakte, die wir geknüpft hatten, zusammenzubringen. Die STRAZE bot sich als ein alternativer Veranstaltungsort in Greifswald mit einer schönen Atmosphäre, guter Infrastruktur und einem tollen Team als idealer Ort an. Und so entschieden wir im Juni, für Ende August alles auf die Beine zustellen.
Anti-imperialistische und feministische Perspektiven Wir eröffneten den Kongress inmitten von zwei Fotoausstellungen: «Gesichter und Geschichten» von der Fotografin Magdalena Menzinger, die unsere solidarischen Aktivitäten in den ersten Kriegstagen in Nischnje Selischtsche/Transkarpatien dokumentiert und Dorfbewohner·innen und Binnengeflüchtete porträtiert hat. Die Fotos von Oleskandr Glyadelov bezeugen dagegen die Gräueltaten durch die russische Armee in Orten wie Irpin, Butscha, Hostomel und Borodjanka.
Am nächsten Morgen diskutierten Oksana Dutchak, Soziologin, Feministin und Mitherausgeberin der linken ukrainischen Zeitschrift Commons, und Aleksandra Talaver von der russischen Gruppe «Feministischer Antikriegs-Widerstand» FAR auf dem Podium zu «Was ist das Recht auf Widerstand?». Dazu beschrieb Oksana Dutchak die feministische internationale Solidarität während des Krieges, die sich im Praktischen äussert. So wurden viele frauenrelevante Hilfsgüter wie Binden, Verhütungsmittel, Windeln etc. geliefert. Ausserdem argumentierte sie für den bewaffneten Widerstand und das Recht auf Selbstverteidigung, welches im Manifest der russischen Gruppe FAR, das von ukrainischen, russischen und internationalen Feministinnen verfasst wurde, festgehalten ist. Die ukrainischen Feministinnen fordern darin eine sachkundige Bewertung einer spezifischen Situation anstelle einer abstrakten geopolitischen Analyse, die den historischen, sozialen und politischen Kontext ignoriert. Abstrakter Pazifismus, der alle am Krieg beteiligten Seiten verurteilt, führt in der Praxis zu unverantwortlichen Lösungen. Sie bestehen auf dem wesentlichen Unterschied zwischen Gewalt als Mittel der Unterdrückung und als legitimes Mittel der Selbstverteidigung.
Soziologische Perspektive und praktische Solidarität Aleksandra Talaver ist ebenfalls der Ansicht, dass die russische feministische Antikriegsbewegung nichts ohne den bewaffneten ukrainischen Widerstand bewegen kann. Sie beschrieb Handlungsspielräume, wie z. B. Strassenaktionen und deren Schwierigkeiten durch die Repression. Die russische FAR unterstützt Streiks und die Rechte von Lohnarbeiter·inne·n. Wegen ihren Antikriegspositionen müssen sie mit Schikanen am Arbeitsplatz und Entlassungen rechnen. Der FAR haben sich 30.000 Menschen angeschlossen und sie ist somit eine der grössten Antikriegsbewegungen in Russland. Am Nachmittag nutzten einige die Chance für einen informellen, bereichernden Austausch, während andere sich der Grossdemonstration «Damals wie heute: Erinnern heisst verändern! – 30 Jahre nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen»(3) anschlossen. Am Abend hörten wir den beeindruckenden polyphonischen Gesang von Drevo. Die Gruppe lässt die Gesänge der verschiedenen Regionen in der Ukraine wieder lebendig werden.
Am dritten Tag beschrieben uns Natalia Lomonosova und Yelyzaveta Khassai vom ukrainischen Forschungszentrum Cedos die sozialen Folgen des Krieges auf fundierte und konkrete Weise: Arbeitsrechteinschränkungen bis hin zu dessen Abschaffung; ein Drittel der Ukrainer·innen hat seit Beginn des Krieges den Arbeitsplatz verloren. 60 bis 80 Prozent der Menschen werden unter die Armutsgrenze fallen. Zudem steigen die Mieten, Vermieter·innen können die Mietpreise legal nach Belieben erhöhen und temporäre Unterbringungen sind unzureichend ausgebaut, während langfristige Lösungen von der Regierung noch immer nicht angedacht werden. Der Wiederaufbauplan ist schon in der Theorie, laut Cedos, vollkommen unzureichend, um alle Menschen sozial minimal abzusichern. So soll bei der «Wiederaktivierung» des Arbeitsmarktes ein grosser Teil der Bevölkerung ausgeschlossen werden – vor allem Menschen in prekären Verhältnissen. Die Diskussion innerhalb der ukrainischen Gesellschaft sei wichtig, um für Alle soziale Lösungen zu finden. Mit der Arbeit im Forschungszentrum soll ein Beitrag hierzu geleistet werden. Natalia Lomonosova erwähnte, dass unter dem Kriegsrecht in der Ukraine, auch wenn das Recht auf Versammlungsfreiheit eingeschränkt ist, NGOs und Gewerkschaften ihre politische Arbeit fortsetzen, indem sie neue Gesetzesentwürfe kritisieren. Internationale Organisationen müssen sich daran beteiligen, um einen wirksamen Druck auf die ukrainische Regierung auszuüben. Danach präsentierte Dmytro Myshenin die selbstorganisierte Basisinitiative aus Dnipro «Angels of Salvation», die bisher mehr als 27.000 Menschen aus der Ostukraine evakuiert hat, humanitäre Hilfsgüter liefert, Beratungsgespräche mit Binnengeflüchteten führt und Veranstaltungen und Programme für Kinder organisiert. Sergej Chubukov beschrieb als Mitglied der Hilfsinitiative NEBO deren Arbeit. NEBO ist eine Organisation aus Charkiw, die sich vor allem der Lebensmittelhilfe verschrieben hat. Gegründet wurde sie von Restaurantbesitzer·inne·n und Einwohner·inne·n der Stadt, die sich nach dem russischen Angriff dazu entschlossen, in der Stadt zu bleiben und die Ausstattung und Infrastruktur der Restaurants zu nutzen, um Menschen in Not mit Lebensmitteln und warmen Mahlzeiten zu versorgen. Die Freiwilligen kochen rund 7000 warme Mahlzeiten pro Tag.
Beide Initiativen sind während der letzten Monate gewachsen. Sie haben die Arbeiten sektoriell aufgeteilt und ausgebaut. Sie überlegen nun ihre Tätigkeitsfelder auf weitere gesellschaftlichen Aufgaben wie Energieversorgung und Müllentsorgung auszuweiten, da der Staat diese nicht erfüllt. Die Frage, wie weit dieses Engagement den Staat seiner Verantwortung enthebt, ist noch nicht geklärt. Aber sie sind entschlossen, dort aktiv zu sein, wo Lücken von staatlichen Strukturen nicht gefüllt werden. Im Moment versuchen sie an Unterstützungsgelder von grossen Organisationen, wie von denjenigen der UNO, zu kommen und stossen dabei auf grosse administrative Hürden.
Einen Schritt weiter Alle Teilnehmer·innen und eingeladenen Gäste konnten neue Kontakte knüpfen, und an manchen Stellen wurde die Solidarität sehr schnell praktisch. So haben sich z.B. neue Kontakte zu Stiftungen für beide Basisinitiativen aufgetan. Der ganze Kongress wurde von Menschen moderiert, die in den jeweiligen Themen bewandert waren, und eine professionelle Übersetzung garantierte eine ebenbürtige Beteiligung aller. Die hervorragende Verköstigung durch die STRAZE tat ihr Übriges. Dies waren wohl mit die Gründe, warum das gesamte Treffen in einer vertrauensbildenden, offenen und entspannten Stimmung stattfinden konnte. Alle Teilnehmenden hatten einen sehr spannenden Rucksack an Erfahrungen, Kontakten und Gedanken mitgebracht. Wir hätten noch ein paar Tage mehr Zeit gebraucht, um diese Rucksäcke ganz zu leeren. Dennoch haben wir mit diesem Kongress einen wichtigen Schritt getan, uns besser kennengelernt und internationale Solidarität und Zusammenarbeit aktiviert.
Das Organisations-Kollektiv
«Wir» sind das Europäische BürgerInnen Forum und Mitglieder der Longo-maï-Bewegung von Hof Ulenkrug (Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland) und Zeleny Hay (Transkapatien, Ukraine).