UKRAINE / ÖKOLOGIE: Ökozid in der Ukraine

von Nicholas Bell, EBF, 12.01.2023, Veröffentlicht in Archipel 321

«Die Natur ist das stille Opfer dieses Krieges», so die Warnung von Yuliya Ovchynnykova, Abgeordnete und Mitglied des Ausschusses für Umwelt und Naturschutz der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament. Sie war Teil einer Delegation von Umweltaktivist·inn·en und Mitgliedern der Zivilgesellschaft, die auf Initiative des Europäischen Bürgerinnen Forums (EBF) vom 28. November bis 1. Dezember 2022 nach Brüssel und Paris reisten1.

Hinter den Zehntausenden Toten auf beiden Seiten und den schrecklichen Zerstörungen, die durch die russische Aggression und insbesondere durch die ständigen Bombenangriffe auf Städte, Dörfer und die lebensnotwendige Infrastruktur der Bevölkerung verursacht werden, spielt sich eine andere Tragödie ab, über die weniger gesprochen wird: ein gross angelegter Ökozid. Seit über neun Monaten verwüstet die russische Kriegsmaschinerie das ukrainische Territorium, verschmutzt massiv die Flüsse, untergräbt die Felder und zerstört die Wälder. Es handelt sich um eine tickende Zeitbombe mit weitreichenden Folgen für die Menschen, die Gesundheit und die Ökosysteme.

Durch die russische Bombardierung von Öldepots wurden über 680.000 Tonnen Ölprodukte durch Feuer zerstört. Durch die Beschiessung der zivilen und militärischen Infrastruktur und Ausrüstung entstand eine enorme Menge an Abfällen, darunter auch sehr gefährliche, deren Menge derzeit kaum abschätzbar ist. Die massiven Bombardierungen führten auch zur Kontamination von etwa 180.000 m3 Boden. Die Zerstörung von Kläranlagen führte zu zahlreichen Fällen von Wasserverschmutzung.

Seit den ersten Tagen der Invasion hat das russische Militär systematisch Aktionen rund um die ukrainischen Kernkraftwerke durchgeführt. Bei diesem Vorgehen handelt es sich eindeutig um Nuklearterrorismus. Diese Energieinfrastruktur, die in wenigen Gebäuden konzentriert ist, hat sich als äusserst anfällig für Kriegsrisiken erwiesen. Es ist noch zu früh für detaillierte Studien oder genaue Berechnungen der Schäden, die direkt durch den Krieg verursacht wurden. Es gibt jedoch einige Schätzungen. Die Umweltschäden, die sich aus den direkten Auswirkungen der russischen Invasion ergeben, werden bereits auf über 25 Milliarden Euro geschätzt.

Die ukrainische Landwirtschaft wurde ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen. Es wird geschätzt, dass der Krieg der ukrainischen Landwirtschaft direkte und indirekte Schäden in Höhe von über 30 Milliarden US-Dollar zugefügt hat. Diese Kosten entstanden vor allem durch die Blockade des Schiffsverkehrs, die Zerstörung der Ernte oder die Bombardierung der Agrar- und Lebensmittelindustrie. 10 Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche (30-34 Prozent des Staatsgebiets) wurden durch Minen, Kämpfe und Bombardierungen in Mitleidenschaft gezogen. Es wird erwartet, dass die Produktion der wichtigsten Nutzpflanzen im Vergleich zum Vorjahr um 18 bis 33 Prozent zurückgehen wird.

Auswirkungen auf die Wälder

Laut Yehor Hrynyk, Aktivist der «Ukrainischen Gruppe für Naturschutz» und Waldexperte, sind etwa 200.000 Hektar Wald durch die Kämpfe verbrannt. 700.000 Hektar Wald müssen von Minen befreit werden. Dies wird zehn bis zwanzig Jahre dauern. Mehr als 20 Nationalparks und Reservate wurden besetzt und Hunderte anderer Schutzgebiete wurden geschädigt. Die Schäden beschränken sich nicht auf die Gebiete, in denen der Krieg tobt. Indirekte Folgen zeigen sich auch fernab der Front, insbesondere in Wäldern und Naturgebieten. Angesichts der katastrophalen Wirtschaftslage suchen die ukrainischen Behörden nach neuen Einnahmequellen. Die Zerstörung des Energiesystems durch Russland und die grosse Zahl von Binnenvertriebenen lassen den Bedarf an Brennholz stark ansteigen. Seit Beginn des Krieges gaben die ukrainischen Behörden, insbesondere der Umweltminister, an, die Holzernte steigern zu wollen – um bis zu 150 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In einigen Regionen, vor allem im Süden der Ukraine, ist dies bereits der Fall. Der Umfang der Holzentnahme ist im Vergleich zu 2021 um 115-140 Prozent gestiegen. Angesichts der schwachen Massnahmen zum Schutz der Biodiversität bedroht die Zunahme dieser Holzschläge die verbleibenden alten Wälder im Land, einschliesslich der Wälder in den ukrainischen Karpaten. So haben Umwelt-NGOs bereits die Abholzung alter Naturwälder beobachtet. Weitere Abholzungen sind geplant, um «Brennholz für die Gemeinden zu lagern». Jedes Mal wird die Frage der Biodiversität in den Hintergrund gedrängt.

Die ukrainischen Behörden haben die gesetzlichen Regelungen geändert, um diese Abholzungen zu erleichtern. Im März 2022 hob das Parlament ohne jede öffentliche Debatte eine Reihe von Umweltbeschränkungen auf. So wurde beispielsweise die als «stille Jahreszeit» bezeichnete Bestimmung – das Verbot, während der Fortpflanzungszeit der Tiere in den Wäldern zu fällen – gestrichen. Später schränkten die Behörden den Zugang der Öffentlichkeit zur Umweltinspektionsbehörde ungerechtfertigt ein. Die Behörden kündigten auch ihre Absicht an, 270 Harvester zu kaufen – moderne Maschinen, mit denen der Wald so schnell wie möglich abgeholzt werden kann.

Parallel dazu hat sich das Problem des illegalen Holzeinschlags verschärft. Verschiedenen Schätzungen zufolge waren vor 2022 bis zu 40 Prozent des in der Ukraine gewonnenen Holzes illegal. Der weitaus grösste Teil davon wurde in die EU exportiert. Es ist unmöglich, das Ausmass des illegalen Holzeinschlags in Kriegszeiten abzuschätzen, doch die Behörden schufen alle Voraussetzungen für eine Zunahme. Insbesondere ist die Kontrollbehörde – die staatliche Umweltinspektion – heute nicht mehr in der Lage, Forstinspektionen durchzuführen. Die Zivilgesellschaft hat den Zugang zu den früher verfügbaren Forstkarten, Einschlagsgenehmigungen und anderen Dokumenten über den Holzeinschlag verloren. In vielen Regionen wird den Bürger·inne·n der Besuch von Wäldern grundlos untersagt.

Geschützte Gebiete

Geschützte Gebiete machen nur 7 Prozent der Fläche der Ukraine aus. Von dem in der EU-Strategie zur Erhaltung der biologischen Vielfalt festgelegten Ziel von 30 Prozent sind wir noch weit entfernt. Die Einrichtung von Schutzgebieten in der Ukraine war langwierig und komplex, doch auch wenn der Prozess langsam war, ging er voran. Mit der russischen Invasion kam seine Expansion leider zum Stillstand. Die Behörden sehen keinen Sinn mehr darin, neue Schutzgebiete einzurichten oder das Smaragd-Netzwerk(2) zu erweitern, was von der Unternehmenslobby (Bergbau-, Forst- und Agrarindustrie) ohnehin vehement bekämpft wird. Eine weitere Gefahr für Naturgebiete besteht darin, dass sie umgepflügt werden, um neue landwirtschaftliche Nutzflächen zu gewinnen und so die starke Reduzierung des verfügbaren Landes in den Kriegsgebieten auszugleichen.

Anerkennung des Begriffs «Ökozid»

Die Delegation betonte auch, dass eine internationale Anerkennung des Ökozids als Straftatbestand erreicht und der Bereich «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» um diesen Begriff erweitert werden müsse. Der Internationale Gerichtshof ist bereits seit 2014 mit Klagen gegen die Ukraine wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit befasst. Um zu beweisen, dass es sich um Ökozid handelt, muss nachgewiesen werden, dass es eine umfassende Strategie zur Zerstörung der Lebensgrundlagen gibt. Yuliya Ovchynnykova erinnerte daran, dass das Konzept des Ökozids im ukrainischen Strafgesetzbuch existiert, was in den meisten Ländern nicht der Fall ist. Es wurden bereits zehn Fälle eingebracht, aber das Gesetz funktioniert nicht. Von entscheidender Bedeutung ist auch die Einrichtung einer internationalen Sonderermittlungsmission, deren Ziel es ist, die Umweltverbrechen zu dokumentieren und die Grundlage für eine zukünftige Entschädigung durch Russland zu schaffen. Bei dieser Arbeit wird die Beteiligung von Expert·inn·en der ukrainischen und internationalen Zivilgesellschaft unerlässlich sein.

Stopp der Atomenergie!

Um Energieversorgungskrisen im Rahmen des Wiederaufbaus nach dem Krieg zu begegnen, hat die Ukraine angekündigt, neun neue Atomreaktoren und einen kleinen modularen Reaktor bauen zu wollen. Angesichts der extremen Verwundbarkeit, die solche Kraftwerke in Kriegssituationen gezeigt haben, ist diese Lösung im Vergleich zu dezentralen erneuerbaren Energiequellen äusserst riskant und kostspielig. Die erneuerbaren Energien sollten im Kampf um die Energiesouveränität bereits in der ersten Phase des ukrainischen Wirtschaftswiederaufbaus Priorität haben.

Die Landwirtschaft wird einer der wichtigsten Wirtschaftssektoren in der Ukraine bleiben. Derzeit wird sie stark von sehr grossen, vor allem Getreide anbauenden und exportorientierten Unternehmen dominiert. Es ist wichtig, diesen Sektor zu ermutigen, seine Abhängigkeit von chemischen Inputs zu verringern und sich auf biologische Methoden zu verlegen. Darüber hinaus gibt es einen entscheidenden Agrarsektor, der allzu oft vergessen wird. Kleine und mittlere Betriebe (bis zu 100 Hektar) liefern den grössten Anteil von Gemüse, Kartoffeln und Milch, die von der Bevölkerung konsumiert werden (über 90 Prozent). Sie haben nie staatliche Unterstützung oder offizielle Anerkennung erhalten. Es muss sichergestellt werden, dass dieser Agrarsektor in künftigen Hilfsprogrammen berücksichtigt wird, damit er eine starke Unterstützung erhält. Langfristig werden widerstandsfähige, nachhaltige und dezentralisierte Agrar- und Ernährungssysteme eine wirtschaftlich tragfähige und erschwingliche Nahrungsmittelproduktion gewährleisten. Diese Systeme werden die wirtschaftliche Beschäftigung der ländlichen Bevölkerung sichern und die Voraussetzungen für die Wiederbelebung der ländlichen Gebiete und die nachhaltige Entwicklung der Agrarregionen schaffen.

Das Megaprojekt in Svydovets

Die Delegation betonte, wie wichtig es sei, umweltschädliche Grossprojekte, die bereits vor dem Krieg existierten, zu stoppen. Unter Ausnutzung des Krieges und der geringeren Aufmerksamkeit durch Aktivistinnen und Aktivisten wurde die Entwicklung zahlreicher zerstörerischer Projekte beschleunigt. Oreste del Sol, Landwirt im Karpatendorf Nischnje Selischtsche und Aktivist der Gruppe Free Svydovets, berichtete, dass der mit dem korrupten Oligarchen Ihor Kolomoysky verbundene Bauträger das Projekt eines riesigen Skigebiets im Svydovets-Gebirge in den ukrainischen Karpaten weiter vorantreibt.[3] Doch noch nicht ist alles verloren.

Nicholas Bell*

  • Dieser Text basiert auf dem Dokument «Krieg und Umwelt in der Ukraine – Stoppt den Ökozid, für einen grünen Wiederaufbau», welches von der Delegation verbreitet wurde und auf der EBF-Website www.forumcicivique.org abrufbar ist.
  1. Die Delegation wurde von mehreren Mitgliedern der «Ukraine Support Group» der Europäischen Kommission, von zehn Mitgliedern des Europäischen Parlaments, darunter Michael Gahler, ständiger Berichterstatter für das Assoziierungsabkommen Ukraine-EU, von den Ausschüssen für Auswärtige Angelegenheiten und für Nachhaltige Entwicklung der Nationalversammlung in Paris, von Vertreter·innen des französischen Ministeriums für den ökologischen Wandel sowie von französischen, belgischen und internationalen NGOs empfangen.

  2. Das Smaragd-Netzwerk ist ein auf dem Übereinkommen über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume (Berner Konvention) basierendes Schutzgebietsnetz

  3. Siehe Archipel Nr. 265, 267, 284, 302, 308 und 317, verfügbar auf der Webseite des EBF www.forumcivique.org.