UKRAINE: Lokale Initiativen unterstützen

von Jürgen Kräftner, EBF, 11.11.2023, Veröffentlicht in Archipel 330

Seit über zwanzig Jahren arbeiten wir mit Nataliya Kabatsiy zusammen. Sie leitet das «Komitee für medizinische Hilfe in Transkarpatien» (CAMZ)1 im westlichsten Teil der Ukraine. Unser Mitarbeiter Jürgen Kräftner vom EBF hat sie in ihrem Büro in Uzhhorod getroffen und über ihre aktuellen Projekte und Probleme befragt.

Jürgen Kräftner: Bitte erzähle mir etwas über die wichtigsten Projekte des CAMZ im zweiten Kriegsjahr. Nataliya Kabatsiy: Ja, womit sollen wir anfangen. Seit einiger Zeit läuft ein umfangreiches Projekt zur Unterstützung für Schwangere in Transkarpatien. Viele Frauen und besonders Schwangere leiden unter Stress durch den Krieg, Vertreibung, ihre Männer sind im Krieg etc., sie brauchen psychologische Betreuung. Und wir unterstützen zwei Partnerorganisationen in Uzhhorod [Hauptstadt Transkarpatiens] und in Jasinya [ganz im Osten Transkarpatiens gelegen]. Seit Ende des Frühjahrs betreuen diese regelmässig Kinder von 8 bis 14 Jahren. Die Betreuung richtet sich bewusst sowohl an Kinder aus geflüchteten Familien und an Einheimische, damit sich niemand diskriminiert fühlt. Ausserdem fördert das die Integration der Kinder aus den Kriegsgebieten in Transkarpatien. Es sind lokale Initiativen in den beiden Orten, die diese Projekte gestartet haben. Wir als CAMZ mit unserer Erfahrung und unseren vielen Kontakten im Ausland greifen diesen jungen Gruppierungen unter die Arme. (…) Wir wollen keine Projektfabrik werden, immer mehr Mitarbeiter·innen einstellen und immer mehr Projekte leiten und verwalten. Besser, wir helfen jungen Initiativen dabei, Partnerorganisationen im Ausland zu finden, die sie direkt unterstützen. Wir helfen ihnen am Anfang in der Organisation und vor allem in der Kommunikation mit den internationalen Geldgebern, aber mit dem Ziel, dass sie in Zukunft völlig selbständig arbeiten können. (…) Eines Tages werden wir unser Land wieder aufbauen müssen, und dann brauchen wir unbedingt all diese lokalen, unabhängigen Initiativen. Ausserdem verteilen wir Medikamente und Lebensmittel in den Frontregionen. Dafür arbeiten wir systematisch mit lokalen Organisationen. Wir haben im Osten der Ukraine keine eigenen Mitarbeiter·innen.

JK: Wo und mit wem arbeitet Ihr in diesen Gebieten? NK: Diesen Monat haben wir in Zaporizhia gearbeitet, nächsten Monat liefern wir Hilfsgüter nach Cherson und Chernihiv. Anschliessend kommen Charkiw und Donetsk an die Reihe. In jeder Region haben wir eine oder mehrere Partnerorganisationen, denen wir die Verteilung anvertrauen. Für die Medikamente sind das auch die grossen Spitäler, und zum Beispiel in Zaporizhia haben wir einen guten Kontakt zur städtischen Verwaltung, auch in Mykolajiw.

JK: Die Stadtverwaltung von Zaporizhia hat einen guten Ruf, sie hat auch viel Wohnraum für geflüchtete Familien zu Verfügung gestellt. NK: Ja, unser Kontakt ist ausgezeichnet, die Stadtverwaltung hat dort auch fast von Anfang an Lebensmittel an Bedürftige verteilt. In Charkiw ist das anders, aber wir haben dort zumindest drei nichtstaatliche Organisationen, mit denen wir auf einer Vertrauensbasis zusammenarbeiten. So können wir es uns ersparen, eigene Leute vor Ort zu entsenden.

JK: Wo kommen die Lebensmittel her? NK: Wir schicken den lokalen Organisationen Geld und sie kaufen die Lebensmittel vor Ort und verteilen sie. In den meisten Fällen wäre es sinnlos, Lebensmittel so weit zu transportieren.

JK: Aus dem Ausland kommt nichts mehr? NK: Aus dem Ausland kommen weiterhin bestimmte Medikamente, medizinisches Material und Ausrüstung, Trockenmilchpräparate, ab und zu bekommen wir ein paar Paletten hochwertiger Babynahrung aus Frankreich. Wir haben bemerkt, dass die meisten Krankenhäuser überfüllt und überfordert sind. In den meisten Spitälern werden nun schwerverletzte Soldaten und Zivilisten behandelt, aber sie sind eigentlich dafür nicht ausgerüstet, z.B. haben sie keine Beatmungsgeräte und andere Ausrüstung für Intensivstationen. Unser Freund Jacques Duplessy, ein Mitbegründer unserer Organisation, sammelt in Frankreich medizinische Ausrüstung in grossem Stil und schickt regelmässig volle Sattelschlepper hierher. Und dann betreuen wir die Flüchtlingsunterkünfte in Tyachiv, dort leben jetzt 63 Personen. Eigentlich können dort bis zu 90 Personen leben, und so war es am Anfang auch, aber jetzt sind einige Leute in private Wohnungen in die Stadt umgezogen und andere haben die Region verlassen. Das hat auch Vorteile, denn wir haben nun separate Zimmer für jede Familie, es gibt zwei Zimmer, in denen die Kinder spielen können und einen Aufenthaltsraum zum Lesen oder Fernsehen für die Erwachsenen. Vor kurzem haben wir das Dach komplett renoviert und mit Solarzellen ausgestattet. Das Flüchtlingsheim in Nyzhne Selyshche bekommt auch Solarzellen, um sie bei den nächsten Stromausfällen etwas autonomer zu machen.

JK: Welche Menschen leben jetzt in diesen Flüchtlingsunterkünften? NK: Dort leben die sozial schwächsten Teile der Bevölkerung; Menschen, die nicht arbeiten können, die keine wohlhabenden Angehörigen haben; Menschen, die aus eigener Kraft nicht aus der Not kommen.

JK: Was bietet ihr ihnen ausser Unterkunft sonst noch an? NK: Zu unserem Team gehören eine Ärztin und eine Juristin, welche die Leute in den Notunterkünften unterstützen. Unsere Ärztin Tanja berät die einheimischen Krankenschwestern und Ärzte, unsere Juristin Genia hilft den Geflüchteten, damit sie die ihnen zustehende Unterstützung vom Staat bekommen. Die alten Leute sind sehr benachteiligt. Mit der staatlichen Unterstützung können geflüchtete Pensionisten in Transkarpatien keine Wohnung mieten. Die Mieten waren hier immer schon vergleichsweise hoch, seit Kriegsbeginn sind sie zusätzlich stark angestiegen. Wir sehen schon jetzt, dass in den Flüchtlingsunterkünften bald nur mehr alte Leute leben werden. Auch wenn der Krieg irgendwann zu Ende geht – diese Menschen werden es nicht mehr erleben, dass die zerstörten Wohnungen in ihrer Heimat wieder aufgebaut werden. Leider denkt hier niemand daran, was das längerfristig für unsere Region bedeutet und dass wir dringend passenden Wohnraum für Menschen mit eingeschränkter Mobilität schaffen müssen, auch Altersheime mit der entsprechenden Betreuung.

JK: Wie sieht es mit der Betreuung von kriegstraumatisierten Menschen aus? NK: Schritt für Schritt entwickeln wir hier eine Strategie, wir haben ja auch viel Erfahrung im Bereich der psychologischen und psychiatrischen Betreuung. Aber wir wollen diese Projekte nicht in Eigenregie durchführen. (…)

JK: Wie funktioniert diese psychologische Unterstützung? Wem kommt sie zugute? NK: Zunächst lief das alles ziemlich chaotisch. Im Jahr 2022 redeten plötzlich alle von psychologischer Betreuung. Verschiedene lokale Organisationen haben ziemlich viel Unterstützung von internationalen Geldgebern dafür bekommen. Das war sehr in Mode, aber die lokalen Organisationen waren eigentlich für diese Arbeit nicht qualifiziert. Im November 2022 haben wir damit begonnen, diese Organisationen zu einem Erfahrungsaustausch zu bringen und seit Dezember 2022 gibt es zweimal im Monat Online-Koordinationstreffen, die wir organisieren. Mehrere dieser Initiativen können zum Beispiel nur leicht traumatisierten Menschen helfen. Wenn sie jedoch sehen, dass ein Patient unter einer schweren psychotischen Störung leidet, übergeben sie ihn an eine spezialisierte Institution. Es hat fast ein Jahr gedauert, aber jetzt funktioniert diese Zusammenarbeit sehr gut. Seit kurzem gibt es auch eine staatliche Initiative zur psychologischen Betreuung von traumatisierten Menschen. Zum Glück ist bei uns in der Oblastverwaltung eine Frau für die Umsetzung zuständig, die wir seit vielen Jahren kennen. Jetzt haben wir damit begonnen, auch die staatlichen Strukturen in unsere Koordination mit einzubinden, also auch in den Schulen. Der nächste Schritt wird die Einrichtung spezialisierter Kliniken sein, daran arbeiten wir jetzt. Und schliesslich müssen wir auch an die Psychiatrie denken, aber um in Ruhe darüber nachdenken zu können, muss ich mich von allen anderen Projekten freimachen.

JK: In Transkarpatien ist es problematisch, dass die Einheimischen sich nicht in die Lage der geflüchteten Menschen versetzen können. Sie haben nicht dieselben traumatisierenden Erfahrungen gemacht und vielen fehlt es an Empathie. Wie geht Ihr damit um? NK: Ja, daher haben wir hier viele geflüchtete Menschen angestellt. Unsere beiden Flüchtlingsheime in Uzhhorod und in Tyachiv werden von Kriegsflüchtlingen geleitet, in Tyachiv zum Beispiel ein Ehepaar aus Svatove in Luhansk. Der Chef unseres Lagers für Hilfslieferungen ist auch ein Flüchtling, aus Charkiw. Sie sprechen dieselbe Sprache, sie können sich unmittelbar verstehen. Sie können sich auch sehr direkte Sachen sagen, ohne dass jemand gleich beleidigt ist. Denn die Beziehung der Einheimischen zu den geflüchteten Menschen ist wirklich ein Problem.

JK: Hast Du den Eindruck, dass diese Probleme sich mit der Zeit noch verschärfen? NK: Ja, zu einem gewissen Grad. Besonders kritisch sehe ich die Haltung der internationalen Organisationen. Die Einheimischen fühlen sich benachteiligt, wenn Hilfe einseitig nur an geflüchtete Menschen geht; das muss unbedingt vermieden werden. Unsere Programme der Kinderbetreuung zum Beispiel sind offen für Alle, auch wenn die Geldgeber ursprünglich wollten, dass wir Geflüchtete bevorzugen. Damit helfen wir den Kindern auch, aus dem Ghetto auszubrechen, in dem sie sich befinden. Schon vor dem Krieg waren viele wegen Covid lange Zeit im Online-Unterricht. Dann mussten sie flüchten und besuchen weiter online ihre Schule, zum Beispiel eine virtuelle Schule von Bachmut. Nachdem sie den Sommer zusammen mit einheimischen Kindern verbracht haben, motiviert sie das vielleicht, hier in eine ganz normale Schule zu gehen. Das ist sehr wichtig, denn es wird immer offensichtlicher, dass viele Familien hierbleiben und die Kinder sollten sich ins lokale Leben integrieren.

JK: Wieviele geflüchtete Personen leben jetzt in Transkarpatien? NK: Die offizielle Statistik sagt, es seien 350.000. Es gibt Schätzungen, die weit höher liegen, aber das scheint mir unrealistisch. Vermutlich sind es an die 400.000 Menschen. [Vor dem Krieg lebten in Transkarpatien ca. 1‘1Mio Menschen].

JK: Wo sind diese Menschen? In Chust und vor allem in den umliegenden Dörfern habe ich nicht den Eindruck, dass die Bevölkerung zugenommen hat. In den Schulklassen gibt es jeweils ein paar Neue aus dem Osten, aber nicht 30 oder 50 Prozent. NK: In Uzhhorod ist es schon deutlich zu bemerken. Überall wird Russisch gesprochen und die Strassen sind voller Menschen und Autos. In den Dörfern gibt es halt auch die entgegengesetzte Bewegung. Über 50 Prozent der wehrtauglichen Männer sind im Ausland und nun ziehen auch die Familien nach. Im Kinderheim in Vilshany haben wir seit dem vergangenen Jahr 25 Mitarbeiterinnen verloren, beinahe ein Viertel. Ihre Männer, die im Ausland sind, setzen sie unter Druck, auch wenn sie nicht wegwollen.

JK: Während 19 Monaten Krieg habt Ihr mit zahlreichen ausländischen Organisationen zusammengearbeitet. Wie empfindest Du die Partnerschaft, ist der bürokratische Aufwand sehr gross? NK: Wir arbeiten mit kleinen und mittelgrossen Organisationen, die relativ flexibel auf unsere Bedürfnisse eingehen, vor allem in Deutschland und in Frankreich. So können wir häufig auch spontan auf dringende Bedürfnisse reagieren. Zum Beispiel hat mich vor kurzem Nataliya Gumenyuk2angerufen, sie hat mir von einer Initiative aus Cherson erzählt. Sie haben im Gebiet des zerstörten Stausees von Nova Kachovka in einem Kindergarten eine Suppenküche eingerichtet, für die Menschen, die alles verloren haben. Es sind wunderbare, sehr engagierte Leute, aber sie haben kein Geld. Dank unserer Partnerorganisationen können wir hier sehr spontan aushelfen. Aber leider gibt es auch eine negative Tendenz. Vor allem die staatlichen Geldgeber unterstützen nur mehr die ganz grossen internationalen Organisationen, die in der Ukraine arbeiten, wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) oder das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Diese bürokratischen Monster bekommen alle Mittel und die kleinen, effizienten Initiativen gehen leer aus. (…) Ich sehe diese Entwicklung sehr kritisch. Kurzfristig müssen die Leute, die Notleidenden helfen wollen, sich in die grossen Organisationen integrieren. Aber nach einer Zeit werden sich die Grossen zurückziehen und dann bleibt nichts übrig. Dabei werden wir genau dann, wenn irgendwann der Krieg zu Ende geht, die lokalen NGOs dringend benötigen, um das Land wieder aufzubauen. Seit Kriegsbeginn haben sich viele lokale Initiativen gebildet. Diese sollten unterstützt werden, damit sie arbeiten und Erfahrungen sammeln können. Diese jungen Initiativen sind für die Ukraine von morgen extrem wichtig. (…) Hier gibt es schon lange eine sehr lebendige Zivilgesellschaft. Wenn wir diese nicht unterstützen, dann beeinträchtigen wir massiv die Fähigkeit der Ukraine, nach dem Krieg aus eigener Kraft wieder auf die Beine zu kommen. Wenn es diese Kapazität der Selbstorganisation zu Kriegsbeginn nicht gegeben hätte, dann wäre es bei der Ankunft der grossen ausländischen Organisationen im Mai 2022 schon zu spät gewesen.

Das Gespräch führte Jürgen Kräftner, EBF.Ukraine, im Oktober 2023

  1. Das CAMZ hat im Laufe der Zeit unzählige Projekte im regionalen Gesundheitswesen realisiert, sich für internationale und interne Geflüchtete eingesetzt, und in der Betreuung von Menschen mit Behinderung eine Vorreiterrolle eingenommen. Dank dieser vielschichtigen Erfahrung war das CAMZ zu Kriegsbeginn in der Lage, sehr schnell dort zu helfen, wo es am dringendsten nötig war.

  2. Nataliya Gumenyuk ist eine international bekannte ukrainische Journalistin.