Butscha, Mariupol, Kherson, Severodonetsk, Bachmut und auch Kramatorsk. Unbekannte Städte noch vor einem Jahr, jetzt – durch den Krieg – wissen wir, wo sie liegen. Die Ausstellung «Vidkritki» zeigt uns aber ein anderes Bild von Kramatorsk. Erinnerung von Kindern an ihre Lieblingsorte, wie sie vor dem Krieg aussahen: voll mit Licht und liebevollen Erinnerungen.
Nastya, Ania und Genia*, drei junge Künstler·innen aus dem Donbas, arbeiteten mit Kindern in Kramatorsk, einer Stadt nur 50 km von Bachmut entfernt. Die Ausstellung der Kunstwerke, die wir im März in Greifswald in Nordostdeutschland organisiert haben, gibt uns auch einen Einblick, wie die drei jungen Menschen heute das Leben sehen und wie es abseits von uns bekannten Nachrichtenbildern weitergeht. Der Krieg bleibt in ihren Darstellungen konsequent im Hintergrund. Eine Collage mit Alltagsfotos und von den Kindern gemalten Bildern zeigt uns die Vielfalt ihrer Stadt: Industrieanlagen neben Wohnquartieren, ein ehemaliges Pionierhaus mit sowjetischem Mosaik, das heute ein Kulturhaus mit ukrainischer Flagge ist, oder eine Eisdiele, einen Taubenschlag Marke Eigenbau in einem Hinterhof sowie Parkanlagen.
Die drei Künstler·innen lebten bis 2014 in Luhansk. Durch die prorussischen Separatisten und den beginnenden Krieg verloren sie schon damals ihre Heimat. Mit dem russischen Angriffskrieg 2022 verloren sie in Severodonjetsk ein zweites Mal ihren Wohnort und leben nun in der Region von Lwiw und in Transkarpatien. Mit ihren persönlichen Erfahrungen vom Verlust ihrer Lieblingsplätze führen sie uns durch die Ausstellung. Sie zeigen uns, wie die Kinder die Bilder gemalt haben und wie sie ihre Stadt wahrnehmen. Nachts in einer unbeleuchteten Strasse erscheint ein Mensch mit Taschenlampe wie ein Glühwürmchen und ein Laden leuchtet wie ein Stern in der Dunkelheit. Die Kinder sind Kunstschaffende und nicht mehr Kriegsopfer. Sie zeigen uns, wie sie angeln, Schlittschuh laufen, den Sommer im Gartenhaus erleben oder wo sich die am besten duftenden Rosen in der Stadt finden. Kerzenlicht und Notstrom-Generatoren bleiben im Hintergrund. Einige Kinder erzählen, was sie gemalt haben. In diesen Audioaufnahmen sind fröhliche Kinderstimmen zu hören, die stolz auf ihre Bilder sind. Die Ausstellung öffnet zudem einen interaktiven Raum für Postcrossing. Postkarten, wie sie die ukrainischen Kinder gemalt haben, können von den Besucher·innen entworfen und nach Kramatorsk geschickt werden. Das Projekt wird in den nächsten Monaten auch in verschiedenen Schulen von Greifswald präsentiert.
Nastya, Ania und Genia erzählen
«Unsere Zugreise nach Kramatorsk dauerte zwei Tage und wir mussten zweimal umsteigen. Weil es keinen passenden Anschluss gab, verbrachten wir eine Nacht in Kiew. (…) Bei unserer Ankunft in Kramatorsk spüren wir den Schrecken, ausgelöst vom Raketenbeschuss ein paar Stunden zuvor. Die Sirenen des Luftschutzes begleiten uns durch den Abend und wir machen uns Sorgen, ob überhaupt jemand mit uns etwas tun würde. Aber niemand kümmert sich um diese Hintergrundmusik. In der Stadt sind Soldaten zu Fuss und in Autos unterwegs. Auch die Läden und Cafés, die noch geöffnet sind, scheinen in erster Linie für die Armee da zu sein. (…) In einem von hohen Wänden geschützten Innenhof sehen wir, wie warme Mahlzeiten an die notleidende Bevölkerung verteilt werden. (...)
In dem kleinen Kulturzentrum ‚Tato Hub‘ führen wir schlussendlich unseren Workshop durch. Es ist der letzte Ort in Kramatorsk, an dem Offline-Aktivitäten für Kinder angeboten werden. Die Schulen sind längst im Onlinemodus. (...) Sascha, der Leiter des ‚Tato Hubs‘ nennt die aktuelle Arbeit einen Balanceakt zwischen der dringend nötigen kulturellen Freizeitgestaltung der Menschen und der Sorge um deren physische Integrität. Eigentlich sind im Donbas jegliche Menschenansammlungen verboten.
Wir haben mit 15 Kindern zwischen 5 und 18 Jahren gearbeitet. Manche von ihnen kommen jedes Wochenende ins ‚Tato Hub‘, manche kamen das erste Mal extra für unseren Workshop. Zwei der Kinder litten unter Zerebralparese und wurden von den Müttern begleitet, die sich stark einsetzten. Wir haben den Kindern vorgeschlagen, Postkarten über ihre Lieblingsorte in der Stadt herzustellen. Zusätzlich zu den Bildern baten wir sie, eine Geschichte zu diesen Orten zu erzählen oder zu schreiben. Die beiden Tage der Kreation waren sehr bereichernd. Die Kinder waren sehr offen und wir hatten es lustig miteinander, aber es gab auch herausfordernde Momente. Ein Mädchen erzählte eine interessante Geschichte über ihre Freundinnen, als sie plötzlich zu weinen begann. Vielleicht wurde ihr in dem Augenblick bewusst, dass sie ihre Freundinnen nie wieder sehen würde. Das Mädchen fasste sich schnell wieder und erzählte andere, weniger traumatische Geschichten. In Zukunft wollen wir besser auf den Fall vorbereitet sein, wenn sich ein Kind an ein sehr trauriges Erlebnis erinnert. (...) Wir wären sehr froh, wenn uns ein·e Kinderpsychologe/in bei zukünftigen Einsätzen unterstützen könnte. (...)
Was wir zurzeit machen: Wir scannen die Zeichnungen, schreiben die Erzählungen der Kinder auf und übersetzen sie ins Ukrainische und Englische. Wir bereiten die Zeichnungen zum Druck auf die Postkarten vor. Die erste Serie wurde für die Ausstellung in Greifswald gedruckt. Nach unserer Rückkehr aus Greifswald und mit den gedruckten Postkarten fuhren wir so schnell wie möglich zurück zu unseren jungen Freundinnen und Freunden in Kramatorsk. Wir haben ihnen die Postkarten mitgebracht und sie an ihre Bekannten und Verwandten geschickt. Jetzt haben wir einige Pläne für die nahe Zukunft: Wir müssen eine·n Psychologin/en finden, die/der uns bei der Arbeit mit traumatisieren Kindern unterstützt. Wir wollen auch mit einheimischen und geflüchteten Kindern in Nischnje Selischtsche und in Lwiw arbeiten, wo viele Kinder aus Kramatorsk in einer Flüchtlingsunterkunft leben. Ausserdem wollen wir einen Audiorecorder kaufen und eine ‚kreative Reisetasche‘ mit Malutensilien zusammenstellen.»
«Vidkritki» ist ein utopisches Projekt zur Erinnerung an Lieblingsplätze der Kindheit – ohne Gewalt, Hass und Furcht. Es ist Teil eines Prozesses der Suche nach einer verlorenen Identität. Und es geht auch darum, einen historischen Moment zu bewahren und zu reflektieren.
Polar Bear und Remo Wyss
- Nastya Malkina: Künstlerin und Illustratorin; Aktivistin und Binnenvertriebene aus Luhansk; Organisatorin mehrerer Sozial- und Kunstprojekte mit Kindern und Jugendlichen in den Städten im Donbas; Mitglied der Künstler·innen- und Vertriebenenvereinigung «Lugansk Contemporari Diaspora».
Ania Naumkina: Schriftstellerin aus Luhansk; Teilnehmerin an Schreibwettbewerben, Künstlerresidenzen und Lesungen; arbeitet zum Thema Donbas und Krieg in der Ukraine; beteiligt sich an kreativen und sozialen Projekten zur Unterstützung von Kindern.
Genia Koroletow: Künstler aus Luhansk; Organisator und Teilnehmer zahlreicher kultureller Projekte, die sich mit dem Krieg in der Ukraine, seinen Vorläufern und Folgen befassen; Mitglied der Künstler·innen- und Vertriebenenvereinigung «Lugansk Contemporari Diaspora».