Seit dem 25. Februar sind Mitarbeiter*innen vom Forum Cicique in die Longo-maï-Kooperativen in Nischnje Selischtsche in Transkarpatien (Westukraine) und Rumänien (Hosman/Holzmengen, nahe Sibiu/Hermannstadt) gefahren, um in dieser schwierigen Situation zu helfen. Fast jeden Tag erhalten wir einen persönlichen Bericht aus dem Dorf über die momentane Situation. Hier zum Beispiel:
Liebe Freunde, liebe Freundinnen, hier ein paar Zeilen von mir aus Nischnje Selischtsche.
Seit unserer Ankunft hier sind nun wohl zwei Wochen vergangen. Die Zeit davor liegt für mich schon eine Ewigkeit zurück. Ich brauche permanent meine ganze Aufmerksamkeit um diese Situation als wirklich real anzuerkennen. Es ist für mich einfach schwer zu glauben, dass dieser Krieg hier wirklich stattfindet mit all seinen scheusslichen Seiten.
Beide Häuser von Longo maï sind gestopft voll mit Geflüchteten und Helfer·inne·n. Eine Mischung wie für einen Film. Leute die sonst Jazzmusik machen oder Filme drehen, sitzen jetzt hier am Waldrand, müssen aus der Ferne Fotos ihrer zerstörten Häuser ansehen, bekommen Nachrichten von Freunden aus Städten die täglich bombardiert werden und müssen trotzdem einen Alltag mit ihren Kindern meistern. (...)
Immer wieder kommen Hilfslieferungen aus Rumänien an, die wir zumeist nach Chust in eine Lagerhalle bringen. Von dort werden sie in Minibussen Richtung Kiev oder Charkiv gebracht, die dann auf dem Rückweg Leute evakuieren. Es gibt ein paar Stützpunkte in der Westukraine, an denen die Evakuierten zwischendurch versorgt werden, bevor sie nach Nischnje kommen. Die Entfernungen sind gross und die Reisen dauern dreimal so lang wie bei uns. Immer mehr sichere Orte werden unsicher. Die Medikamente gehen z. T. ins Krankenhaus Chust und z.T. auch in den Osten des Landes, bis Luhansk, solange es noch geht.
In Nischnje kommen mehr und mehr Geflüchtete an und es wird bald eng mit den Unterkünften. Viele wollen nach ein paar Tagen weiter Richtung Westen. Viele haben aber auch überhaupt keinen Plan, waren noch nie im Ausland, sprechen keine anderen Sprachen oder haben keine vollständigen Papiere. Im Dorfrestaurant werden zurzeit 2mal täglich 100 Mahlzeiten für sie gekocht. Die Gesichter derer, die dort essen, sprechen von Müdigkeit, Ratlosigkeit und Verzweiflung; Menschen die komplett aus der Bahn geworfen wurden. Die Frauen, die mit einer Gruppe von 40 Waisenkindern hierher geflüchtet sind, haben sich nach langem Zögern entschlossen, nach Polen weiterzugehen. Sowieso sieht es langsam danach aus, dass auch Transkarpatien nicht mehr lange eine sichere Region sein wird.
An den Strassen tauchen grosse Plakate auf mit der Parole «Russische Panzer verpisst Euch», an Kreuzungen und Brücken entstehen Stapel von Sandsäcken, an den Trafostationen steht Militär in Kampfmontur. Seit gestern steht am Kreisverkehr in Chust ein Tieflader voll mit lokal produzierten Panzersperren. Über meine ukrainische Simkarte bekomme ich Verhaltensregeln für Luftalarm und tatsächlich gab es letzte Nacht den ersten Luftalarm per Handy in der Region. In Ivano-Frankivsk gab es Explosionen und am Rand von Lviv wurden bei einem Luftangriff auf ein Militärgelände 35 Menschen getötet. Gestern Abend sind wir mit zwei Bussen nach Mukatschewo gefahren, um Leute abzuholen und nach Nischnje zu bringen. Frauen und Kinder mit ein paar Decken, Plüschtieren und einer kleinen Katze. Evakuiert aus Luhansk, seit einer Woche unterwegs, müde und erschöpft. Sie sind erst einmal im Schulgebäude untergebracht.
Jeden Morgen machen wir ein gemeinsames Treffen zwischen allen, die hier im Einsatz sind, um uns abzusprechen. Das funktioniert ganz gut, wenn auch vieles relativ spontan entschieden werden muss. Die Umstände ändern sich täglich und entsprechend flexibel müssen wir reagieren. Das gilt auch für alle Leute, die noch herkommen wollen, um uns hier zu unterstützen. Kochen, Leute transportieren, am Telefon und Computer sein, Hilfslieferungen ausladen, Elektrikerarbeiten, Neuangekommene einweisen, alles ist abwechselnd gefragt. Ich selbst bin ganz schön müde und emotional nimmt mich das alles sehr mit – mehr als ich dachte.
Ganz liebe Grüsse
Mathias, 17. März