TÜRKEI: Justizschikane gegen Pinar Selek

von Solidaritätskollektive mit Pinar Selek, 11.02.2023, Veröffentlicht in Archipel 322

Internationaler Haftbefehl gegen die Schriftstellerin und Soziologin Pinar Selek – neue Anhörung am 31. März. Weiter unten findet Ihr einen Brief von Pinar Selek und hier ein Pressekommuniqué vom 16. Januar 2023 von der europäischen Koordination der Solidaritätskolletkive mit Pinar Selek:

Am 21. Juni 2022 meldete die staatliche türkische Nachrichtenagentur die Aufhebung des vierten Freispruchs für Pinar Selek, der am 19. Dezember 2014 vom Strafgericht in Istanbul erlassen worden war. Zuvor hatte Pinar Selek sich im Laufe der 25 Jahre andauernden politisch-juristischen Verfolgung – der sie weiterhin ausgesetzt ist – drei Strafverfahren unterziehen müssen, die alle ihre Unschuld feststellten.(1)

Im Zusammenhang mit ihren soziologischen Forschungen über die Kurd·inn·en wurde sie am 11. Juli 1998 festgenommen, gefoltert und inhaftiert. Die türkische Regierung hatte beschlossen, sie als «Terroristin» zu kriminalisieren, indem sie versuchte, sie für einen «Anschlag» in Istanbul verantwortlich zu machen. Also war das Regime darum bemüht, die für diese Behauptung erforderlichen Beweise von Grund auf zu konstruieren, doch alles deutete darauf hin, dass es sich um keinen Anschlag handelte, sondern um eine durch einen Unfall entstandene Explosion.(2)

Ganze sechs Monate nach der Pressemeldung über die Aufhebung des (vierten!) Freispruchs am 21. Juni 2022 wurde die neue Entscheidung des Obersten Gerichtshofs den Anwält·inn·en von Pinar Selek am 6. Januar 2023 durch das Istanbuler Schwurgericht mitgeteilt. Die sechs Monate des unerträglichen Wartens und der erneuten psychologischen Folter für Pinar Selek enden in einer Justizfarce. Pinar Selek wird zu lebenslänglich verurteilt und zum Gegenstand eines internationalen Haftbefehls, mit dem ihre sofortige Inhaftierung gefordert wird. Diese Entscheidung wird vom Istanbuler Strafgericht getroffen, noch bevor die Richter sich in einer ersten Anhörung, die für den 31. März 2023 angesetzt wurde, geäussert haben. Solche Massnahmen sind rechtlich gesehen absurd und besonders schwerwiegend in Bezug auf ihre Tragweite und ihre Auswirkungen auf Pinar Selek. Sie werden in einem Kontext von Einschränkungen der Freiheiten und zunehmender Gewalt seitens der türkischen Machthaber gegen alle Minderheiten und politischen Gegner·innen, insbesondere gegen Kurd·inn·en, sowohl in der Türkei als auch in anderen Ländern getroffen. Die bevorstehenden Wahlen in der Türkei im Mai begünstigen alle Ablenkungsmanöver und Manipulationen.(3)

Die Solidaritätskollektive mit Pinar Selek wehren sich dagegen, dass die Schriftstellerin und Soziologin ein weiteres Mal zur Geisel einer ungerechten Politik gemacht wird. Sie verweigern auch, dass Pinar Selek als Kollateralopfer der Politik der Gefälligkeit seitens der europäischen Länder gegenüber dem autoritären Regime in der Türkei herhalten soll. Sie fordern alle Parlamentarier·innen und Politiker·innen auf, die in den letzten Monaten ihre Unterstützung für Selek bekundet haben, bei der französischen Regierung energisch darauf hinzuwirken, Pinar Selek Schutz und Sicherheit, die ein Staat seinen Staatsbürger·innen schuldet, konkret zu gewährleisten. Die französische Staatsbürgerschaft von Pinar Selek reicht nicht aus, um sie zu schützen.

Gestärkt durch die Unterstützung von sehr vielen Persönlichkeiten aus der Forschung, der intellektuellen Welt und Kultur, haben die Solidaritätskollektive mit Pinar Selek dem Präsidenten der Republik erneut ihrer Bitte um feste und bedingungslose Unterstützung Ausdruck verliehen und ihn aufgefordert, einen offiziellen Protest an die türkische Regierung zu richten. Schliesslich rufen sie alle Freundinnen und Freunde von Pinar Selek, Künstlerinnen und Künstler, Akademikerinnen und Akademiker sowie Aktivistinnen und Aktivisten auf, ihre Anstrengungen zu verdoppeln und ihre Mobilisierungen zur Unterstützung aller Opfer auszuweiten sowie zahlreiche Delegationen vorzubereiten, um am 31. März nach Istanbul zu reisen, um Wahrheit und Gerechtigkeit für Pinar Selek zu fordern!

Europäische Koordination der Solidaritätskollektive mit Pinar Selek

  1. Wir publizierten bereits mehrere Artikel über und von Pinar Selek im Archipel: Nr. 257: «Pinar Selek – Kämpferin für Gerechtigkeit», Nr. 281: «Solidarität mit Pinar Selek», Nr. 287: Gespräche mit Pinar Selek

  2. Nach mehr als zwei Jahren, die Pinar Selek unter Folter im Gefängnis verbrachte, kamen türkische Gutachter zu dem Schluss, dass nicht Sprengstoff, sondern eine defekte Gasflasche die Explosion auf dem Gewürzbasar ausgelöst hatte. Selek wurde aus dem Gefängnis entlassen, doch der Prozess ging weiter. Seit 2009 lebt sie im Exil; seit Oktober 2017 ist sie französische Staatsbürgerin.

  3. Die nächste Präsidentschaftswahl in der Türkei soll am

  4. Juni 2023 zusammen mit der Parlamentswahl stattfinden.

ZUR ERINNERUNG Vor 16 Jahren wurde der armenische Journalist Hrant Dink, ein guter Freund Pinar Seleks, in Istanbul ermordet.

Der Chefredakteur der Zeitung «Agos», Hrant Dink, wurde am 19. Januar 2007 in Istanbul von einem türkischen Nationalisten ermordet. Dink setzte sich für die Anerkennung des Völkermords an den Armenier·inne·n sowie für die Versöhnung zwischen dem türkischen und dem armenischen Volk ein. Seine Ermordung hat die, aus politisch/rassistischen Motiven verfolgten Kurd·innen in der Türkei, selbst oft Mordopfer, tief betroffen gemacht. Zum Zeitpunkt seines Todes stand er wegen Verstosses gegen Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches und «Verunglimpfung des Türkentums» vor Gericht.

Brief von Pinar

gerade eben habe ich die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes gelesen, der mich nicht nur zu einer lebenslänglichen Haftstrafe, sondern auch zu einer unbegrenzten Verfolgung verurteilt. Es ist ein falsches Urteil, das sich auf falsche Argumente und gefälschte Beweise abstützt.

Dieser Prozess zieht sich seit 25 Jahren – über die Hälfte meines Lebens – hin. Und ich weiss, dass er einer der Indikatoren jenes Übels ist, das seit sehr langer Zeit in der Türkei verwurzelt ist. Er widerspiegelt sowohl die Fortsetzung des autoritären Regimes in der Türkei, als auch das Zusammenspiel der repressiven Mechanismen. Dieses unrechtmässige Urteil, gegründet auf gefälschten Dokumenten, ist nur ein Teil der Massnahmen, die im Dunkeln vor den Wahlen getroffen werden.

Einige Tage vor der Ermordung der Kurd·inn·en in Paris1, habe ich Folgendes geschrieben: «Das Jahr 2023 ist absehbar. Anlässlich von Wahlterminen wird es zu neuen Explosionen oder Anschlägen kommen, die von den ‚Unsichtbaren‘ organisiert werden. Die Ermittlungen werden nie abgeschlossen werden, genauso wie die Verschwörung, der ich zum Opfer gefallen bin.»2 Ich habe erklärt, wie die türkische Regierung, die sich in Schwierigkeiten befindet, ihre Gewalt durch eine Strategie des Chaos und der Spannung entfesselt, die wiederum durch die düstere politische Landschaft dieses Landes entsteht. Ich bin ein kleiner Punkt auf der grossen Tafel des Widerstands, der hart bezahlt wird. Bis heute habe ich es geschafft, mich nie zu unterwerfen und der Unterdrückung zu weichen. Um weiterhin zu schaffen, zu erfinden, zu forschen, tief und auf strukturierte Weise nachzudenken, zu handeln und zu leben wie eine freche Ameise.

Ich verspreche es Euch, ich werde nicht aufgeben.

Pinar Selek

  1. Am 23. 12. 2022 wurden in Paris vor einem kurdischen Kulturzentrum eine Kurdin und zwei Kurden erschossen und drei weitere Personen verletzt.
  2. «Immer derselbe Film», Artikel von Pinar Selek, Archipel, Dezember 2022