SCHWEIZ: Steckt mich in ein Lager: Ich bin eine «renitente» Bürgerin!

von Anne-Catherine Menétrey-Savary ehemalige Nationalrätin, 15.12.2012, Veröffentlicht in Archipel 210

Die neue Verschärfung des Asylgesetzes in der Schweiz sieht vor, - neben anderen Maßnahmen - so genannte «renitente»1Asylbewerber_innen in «Zentren» einzuweisen. Offensichtlich wird es sich dabei um geschlossene Lager handeln, in denen die Asylsuchenden der behördlichen Willkür und Repression ausgesetzt werden. Ein Referendum wendet sich dagegen. Der folgende Beitrag nimmt Stellung.

Die letzten Debatten über die Verschärfung des Asylgesetzes vor den beiden Volkskammern in Bern haben zu einer Reihe von katastrophalen Entscheidungen geführt. Dabei war viel die Rede von so genannten «renitenten» Asylbewer-ber_innen.
Plötzlich sprach jeder über sie – vom Bürgermeister in Lausanne bis zum Polizeichef im Kanton Jura, ganz zu schweigen von den zahlreichen Bürgerinnen und Bürgern, die sich vor «diesen Leuten» fürchten. (…) Die Volksvertreter_innen in Bern, die, wie jeder weiss, ein feines Gehör für das Rumoren im Volk haben, ergriffen sogleich konkrete Maßnahmen: Es müssen «Zentren» für diese «renitenten» Asylsuchenden her! Als ich davon hörte, vertiefte ich mich in das offizielle Bulletin des Parlaments, um mich belehren zu lassen, was dies eigentlich bedeuten sollte. Betreffend der «Zentren» erfuhr ich, dass hart um die Wortwahl gekämpft worden war, ob es sich nun um «spezielle», «besondere» Zentren oder um «spezifische» handeln sollte. Schluss-endlich war man übereingekommen, dass es weder Internierungszentren noch geschlossene Zentren sein sollten. Ach so? Aber was für welche dann? Die Antwort lautet: «Zentren, welche die Bewegungsfreiheit einschränken.» Was ist dabei, Ihrer Meinung nach, der Unterschied zu einem Ausschaffungsgefängnis wie demjenigen von Frambois? Ich persönlich sehe keinen.
Was das Wort «renitent» angeht, bin ich auf eine ganze Reihe von Erklärungen unserer ParlamentarierInnen gestoßen: «Renitent» seien jene, die sich schlecht betragen; diejenigen, welche die Sicherheit und die öffentliche Ordnung gefährden; die ablehnen zu kooperieren; die zu viel Alkohol trinken; die sich zu streitlustig verhalten; die stören; die ablehnen, in Zivilbunkern untergebracht zu werden; die sich ihrer Ausschaffung widersetzen; die nicht unsere Lebensgewohnheiten annehmen wollen. Kurzum, es wurde alles und nichts gesagt. Bundesrätin Simonetta Sommaruga2, zuständig für das Asylwesen, (…) erklärt die Sache so: Renitente sind diejenigen, deren Verhalten sich ganz knapp unter der Schwelle der juristischen Verfolgung ansiedelt.
«Man muss in denjenigen Fällen intervenieren, in denen das Delikt vor den Augen des Gerichts noch nicht verfolgt werden kann, bei denen aber das öffentliche Interesse Vorbeugungs- und Schutzmaßnahmen verlangt.» Dieses Zitat ist viel älter als aus der gegenwärtigen Debatte. Ich habe es aus dem Parlamentsarchiv des Kanton Waadt ausgegraben. Diese Worte stammen aus einer Rede des Abgeordneten Rodolphe Rubattel im Jahre 1935. Der spätere Bundesrat war ein glühender Verfechter eines Gesetzes zur administrativen Internierung, der so genannten «Verwahrung». Dabei ging es darum, «Personen, die durch Faulenzen und schlechtes Betragen der Allgemeinheit zur Last fallen und eine soziale Gefahr darstellen», in Zentren einzusperren. Rubattel, ein brillanter Redner und ein bewanderter Jurist, beschreibt in seiner Rede die Zielgruppe für die Behörden, die sich dieser Maßnahmen annehmen sollten: «In diesem Milieu, das sich schnell erneuert, ohne klare Umrisse und ohne sichtbare Begrenzungen, finden wir Frauen und Männer, die sich vorsichtig und schlau gegen Gesetze und Sitten auflehnen. Es wird schwierig sein, bei ihnen zu intervenieren, sie zu sortieren, die einen zu verurteilen und die anderen laufen zu lassen.» Subtiler kann man wohl kaum ausdrücken, woraus das Profil der Renitenten, Widerspenstigen und anderer Querulanten besteht! Dieses Gesetz wird bis in 1970er Jahre in Kraft bleiben3. Es wurde erst mit der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention abgeschafft.
Wie ist es möglich, dass diese schändliche Praxis, die während Jahrzehnten so viele Menschen - ledige Mütter, Waisen, Arme - einer unwürdigen und demütigenden Behandlung ausgesetzt hatte, wieder eingeführt wird, nur dieses Mal für die Asylbewerber_innen? (...)
Wir werden also bald wieder Zentren haben, um Leute wie Sie und mich zu neutralisieren, herabzusetzen, einzuzwängen und wegzusperren, weil wir uns schuldig gemacht haben: nicht pünktlich waren, nächtlichen Lärm verursacht oder Einen zu viel getrunken haben, nicht Folge leisten wollten … Was auch immer. Wir alle sind Renitente: diejenigen, die diese Politik skandalös finden, die sich gegen diese Rechtlosigkeit auflehnen und die zu zivilem Ungehorsam aufrufen. Wenn Ihr meint, diese Zentren für Renitente wirklich zu brauchen, dann sperrt uns mit ein!
Der Artikel ist auf Französisch erschienen in «Le Courrier», Genf, am 3. Oktober 2012

  1. renitent: widerspenstig, aufmüpfig (Neues Deutsches Wörterbuch, Lingen Verlag, Köln, 2003)
  2. Aktuelle Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements aus der Sozial-demokratischen Partei; Bundesrätin = Ministerin
  3. Die Praxis der Verwahrung existierte auch andernorts in der Schweiz, jedoch ohne Gesetz