SCHWEIZ: So einfach geht die Solidarität

von Rachel Klein und Catherine Weber, 15.03.2021, Veröffentlicht in Archipel 301

Seit 2009 gibt es in der Schweiz die Solikarte. Mit ihr können die Cumulus-Punkte des Schweizer Grossverteilers Migros direkt an Menschen gespendet werden, die sich in einer Notsituation befinden.

Dies passte der Migros nicht immer. Trotzdem konnten seither über eine Million Franken an Menschen in Not und an Soliprojekte verteilt werden. Eine Erfolgsgeschichte erobert die Schweiz. Fast alle Grossverteiler_innen, insbesondere im Einzelhandel, haben ihre eigene Kundenkarte. Sie erhoffen sich damit mehr Kundentreue, sie versprechen einen Bonus je nach Höhe des Einkaufs und erhalten im Gegensatz dazu viele Daten für gezielte Werbung. So auch die Migros, die ihre Kundenkarte Cumulus nennt und die sowohl im Lebensmittel- als auch im Garten- oder Heimwerkbereich gültig ist. Migros-Kundinnen und -Kunden sammeln mit dieser Cumulus-Karte sogenannte Cumulus-Punkte und erhalten jeweils für 500 ausgegebene Franken fünf Franken in Form eines Bons auf ihr Kundenkonto gutgeschrieben.

Die Cumulus-Karte lässt sich mit wenig Aufwand in eine Solikarte verwandeln, so dass die Konsument_inn_en die gesammelten Cumulus-Punkte bei jedem Einkauf automatisch an das Solikarten-Kollektiv spenden. Die so erhaltenen Bons werden durch ein ehrenamtlich engagiertes Kollektiv über regional organisierte Netzwerke direkt an Menschen verteilt, die dringend auf diese zusätzliche Unterstützung angewiesen sind. Es sind mehrheitlich abgewiesene Asylsuchende, die von Nothilfe leben müssen (je nach Kanton beträgt diese 6.- bis 8.- Franken am Tag), oder Sans Papiers, von denen viele während der Pandemie ihre Arbeit verloren haben und nicht auf staatliche Unterstützung zählen können. Die gespendeten Bons werden zudem an Solidaritäts-Projekte verteilt, die Mittagstische, Sprachkurse, Computerkurse oder andere Angebote organisieren und deren Mitarbeitende ebenfalls ehrenamtlich tätig sind. Es sind dies – um drei konkrete Beispiele zu nennen – der Verein Bildung für Alle (Autonome Schule Zürich), die Beratungsstelle für Sans Papiers in Bern sowie das Internetcafé́ Planet 13 in Basel.

Eine spontane Idee setzt sich durch

Die Solikarte hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Unter Freund_inn_en und Bekannten kursierte Ende 2009 ein Cumulus-Strichcode, mit dem alle auf ein gemeinsames Konto Cumulus-Punkte sammeln konnten. Die so erhaltenen Migros-Bons wurden zunächst dem Solidaritätsnetz Ostschweiz gespendet, zur solidarischen Unterstützung von Sans Papiers und Menschen in prekären Lebenssituationen. Es dauerte aber nicht lange, bis die Idee über die Ostschweiz hinaus bekannt wurde und auf Begeisterung stiess. Bald wurden auch in anderen Städten Punkte gesammelt, um mit den Bons Solidaritätsnetzwerke zu unterstützen.

Die Verantwortlichen der Migros waren jedoch von den wachsenden Summen auf den anonymen Cumulus-Konti nicht so begeistert wie das Solikarten-Kollektiv, denn die Solikarten unterwanderten das Prinzip «Rabatt gegen Daten». Die Migros wollte sie deshalb per Ende Juni 2012 sperren mit der Begründung, dass die Cumulus-Karte gemäss den allgemeinen Geschäftsbedingungen eine Haushaltskarte sei. Dank zahlreicher Gespräche mit der Migros, Medienberichten und einer Petition konnte sich das Solikarten-Kollektiv zunächst erfolgreich gegen diesen Entscheid wehren. Aber im Februar 2013, kaum hatte sich das Kollektiv von den Angriffen erholt, sollte die Solikarte schon wieder gestoppt werden.

Ü̈ber ein Jahr lang diskutierte daraufhin das Solikarten-Kollektiv mit der Migros und versuchte neue Ideen und Konzepte einzubringen, mit dem Ziel, die Anonymität der Sammler_innen zu wahren. Leider zeigte sich die Migros wenig kompromissbereit. Schliesslich liess sich das Kollektiv schweren Herzens auf den Vorschlag der Migros ein, weil inzwischen viele Menschen und Projekte von der Solikarte profitierten und die bis dahin investierte Energie nicht in den Sand gesetzt werden sollte. Im Gegenzug hat der Detailhändler die Solikarte offiziell in sein „Hilfswerks-Portfolio“ aufgenommen und die bisherigen Druckkosten von Flyern, Karten und Aufklebern vollständig übernommen. Ausserdem stellt die Migros der Solikarte spezielle Anmeldeformulare zur Verfügung, mit denen unkompliziert auf die neue Version umgestellt werden kann.

Die Solikarte heute

Nach dem Wechsel vom alten, anonymisierten auf das neue Sammelsystem mit Datenabgabe an die Migros brach der gespendete Betrag vorübergehend ein – zum Glück aber nur für kurze Dauer. Aktuell fliessen monatlich rund 10.000 Franken auf das Solikarten-Konto, so dass zahlreiche Menschen in Not sowie bestehende und neue Soliprojekte laufend unterstützt werden können. Kurz vor Weihnachten 2020 hat das Kollektiv die Millionengrenze überschritten: Über eine Million Franken sind in den letzten elf Jahren gespendet und verteilt worden! Ein Riesenerfolg für ein Projekt, das spontan entstanden ist und bis heute ohne bezahlte Infrastruktur bestens funktioniert. Ein Erfolg, der nur möglich war und ist, weil sich immer mehr Menschen auf diese einfache und unbürokratische Art solidarisch zeigten und der Idee der Solikarte bis heute treu geblieben sind. Die Sensibilisierung der Bevölkerung ist dabei ein wichtiges Anliegen des Solikarten-Kollektivs: Die wenigsten Menschen in der Schweiz können sich vorstellen, was es heisst, von sechs bis acht Franken Nothilfe am Tag zu leben, ohne Rechte ständig von Ausschaffung bedroht zu sein oder im Versteckten leben und arbeiten zu müssen.

Einfach und so effektiv

Spenden zu sammeln für Menschen, denen offiziell die Daseinsberechtigung abgesprochen wird, ist kein einfaches Unterfangen. Das Kollektiv ist aber überzeugt, dass noch mehr Menschen diese einfache und wirkungsvolle Art der Solidarität praktizieren würden, wenn sie von der Existenz der Solikarte wüssten. Sowohl Einzelpersonen und Familien als auch Büros, Bürogemeinschaften, Gastro- und Gewerbebetriebe können ihre Cumulus-Punkte an die Solikarte weiterleiten. Fast alle kaufen immer mal wieder in der Migros ein, die Bonuspunkte auf die Solikarte umzuleiten ist einfach ein gutes Gefühl. Wer die mit der Cumulus-Karte verbundene Migros-Werbung nicht will, kann diese bei der Migros einfach abbestellen. Wer noch keine Cumulus-Karte besitzt, kann diese über die Website der Solikarte direkt bestellen. Wer bereits eine Cumulus- Karte hat, kann den Auftrag für die Überweisung der Cumuluspunkte online über die Cumulus-Website oder mit Hilfe eines Formulars tätigen, das heruntergeladen und ausgefüllt werden kann. Auf www.Solikarte.ch findet sich zudem eine Anleitung zum Spenden der Coop-Supercard-Punkte.

Rachel Klein und Catherine Weber

Die Autorinnen sind im Solikarten-Kollektiv aktiv, sämtliche Infos unter: https://Solikarte.ch