Räumung des "Dschungels" von Calais: Eine humanitäre Wohltat?

von Claude Calame, 22.01.2010, Veröffentlicht in Archipel 178

„Die Räumung des Dschungels, die am 22. September stattfand, war ein Erfolg: Das Ziel, eine unhygienische Anlage zu zerstören, die zugleich eine Drehscheibe der illegalen Migration Richtung England war, wurde erreicht. Das Gebiet wurde seiner ursprünglichen Form zugeführt und wird eine Zone mit wirtschaftlicher Entwicklung werden“(1).

Die polizeiliche Zerstörung der Notunterkünfte, in denen Tausende von MigrantInnen auf der französischen Seite des Ärmelkanals wohnten und welche nach Großbritannien weiter wollten, war also eine wohltätige Handlung: hygienisch, humanitär, ökologisch und mit dem leuchtenden Fernziel jedes neoliberalen Regimes – die freie Entfaltung der Wirtschaft. Sicherlich ist das die Art und Weise, wie Eric Besson die Bezeichnung seines Ministeriums in die Tat umzusetzen gedenkt: „Immigration, Integration, nationale Identität und solidarische Entwicklung“.

Erst bei genauerer Betrachtung erfährt man Näheres zu dieser widersprüchlichen und irreführenden Bezeichnung: Unter dem Vorwand, die betroffenen MigrantInnen vor den Klauen der ruchlosen Schlepperbanden zu befreien, wurden diese festgenommen, in Gefängnisse gesteckt und kurz danach in den allermeisten Fällen wieder freigelassen – allerdings ohne die geringste materielle Unterstützung. EriträerInnen, IranerInnen, IrakerInnen, SudaneserInnen, SomalierInnen und vor allem AfghanerInnen irren durch die Straßen der Großstädte, darunter mehrere Hundert unbegleitete Minderjährige. In jedem zivilisierten Land wären solche Flüchtlinge unter die Obhut des Uno-Flüchtlingskommissariats gestellt und in Lager mit minimalem Schutz und sanitären Installationen eingewiesen worden.

Aber gerade hier liegt das Problem. Die administrativen Verfahren zielen darauf ab, die MigrantInnen, die oft Sans-Papiers sind, zu Illegalen und demzufolge zu Kriminellen zu machen. Auch wenn die Behörden einigen nahe legen, ein Asylverfahren anzustrengen, ist der Flüchtlingsbegriff ganz aus den Rundschreiben des Ministeriums verschwunden. Auch Bernard Kouchner (Außenminister Frankreichs, ehemals prominentes Mitglied der Sozialistischen Partei und Gründer von Ärzte ohne Grenzen ) erklärt dazu: „Jeder illegale Migrant muss heimkehren – das ist das republikanische Gesetz“. So rechtfertigt der Minister die kostspieligen Ausschaffungscharter, „Flüge für Illegale“, die in Verbund mit der britischen Regierung organisiert werden. Dieses Schicksal blüht den IrakerInnen und AfghanerInnen, welche die Präfekturen nicht freigelassen haben. Da braucht es schon die Entschlossenheit des Bürgermeisters der nordfranzösischen Ortschaft Steenvorde, der mit einer lokalen Hilfsorganisation zwei Zelte aufstellen ließ, um die 25 EriträerInnen unterzubringen, die sich auf seiner Gemeinde befanden. Damit zeigt er auf, dass mit etwas Mut Schutz- und Hilfsmaßnahmen möglich sind.

Einerseits geht es um die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der europäischen Kinderrechtskonvention. Man muss vor allem beachten, dass die MigrantInnen, welche an der französischen Küste des Ärmelkanals den Polizeirazzien zum Opfer fallen, aus Ländern stammen, in denen neo-koloniale Bürgerkriege wüten. Insbesondere im Irak und in Afghanistan werden sie von den kriegerischen Folgen der geopolitischen Interessen der westlichen Industrienationen heimgesucht. Erinnern wir daran, dass Präsident Obama, der neue Friedensnobelpreisträger, vor kurzem beschlossen hat, 30.000 zusätzliche amerikanische Soldaten nach Afghanistan zu entsenden, womit jetzt insgesamt 100.000 Marines versuchen werden, das Land zu besetzen. Ebenfalls sei daran erinnert, dass der Präsident Hamid Karzai nur mittels grober Fälschungen in seinem Amt bestätigt werden konnte. Selbst Mitglieder des amerikanischen Außenministeriums geben zu, dass die für die Zivilbevölkerung zugesprochene Finanzhilfe von 13 Milliarden Dollar nicht bis in die bedürftigen Regionen gelangt (2); die zivilen Entwicklungshelfer seien zudem in der Regel nicht in der Lage, Kabul zu verlassen. Unter diesen Bedingungen sind Aufforderungen für eine freiwillige Rückkehr eine unmenschliche Verlogenheit, und die zwangsweisen Rückschaffungen mit teuren Charter-Flügen grenzen an ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Claude Calame

Lausanne, 19.11.09

Directeur d'études

Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales

Centre Louis Gernet de recherches comparées sur les sociétés anciennes

2 Rue Vivienne, F-75002 Paris

Tél.: ++331/47038410, Fax: ++331/47038411

  1. Mitteilung des Ministeriums vom 28. September 2009, nach der Räumung des "dschungels" von Calais

  2. New York Times vom 12.10.2009