PHILOSOPHIE: Landeversuch

von Till Roeskens, Longo maï, 10.12.2019, Veröffentlicht in Archipel 287

Ende August nahm ich an einem Philosophie- und Anthropologie-Seminar im Limousin, mitten in Frankreich teil. In diesem 2.Teil meiner Beschreibung geht es um Irdisches, Erdisches, Enterdung und Universalismus, der einer Massenvernichtungswaffe gleichen kann. Im bereits erwähnten terrestrischen Manifest zieht Bruno Latour eine Grenzlinie, die ihm für die Gegenwart entscheidend erscheint, zwischen den «Modernen» auf der einen Seite und den «Irdischen» oder «Erdlingen» (Terrestres) auf der anderen. Wo die einen sich, mit den Worten von Cartesius, weiterhin als «Beherrscher und Besitzer der Natur» aufführen, in der Annahme, die Erde gehöre ihnen, erkennen die anderen sich als zur Erde gehörig. (1)

Wie können wir also auf unsere Reterrestrierung hinwirken? Das Wort macht die Sache nicht leichter und unsere Schwierigkeiten, es auszusprechen, haben die Woche über regelmässig das Publikum besagten Schafstalls erheitert. Aber zunächst: Was ist denn in uns gefahren, uns zu deterrestrieren? In einer der vormittäglichen Plenarsitzungen erzählte uns der Geograph Augustin Berque von drei möglichen Etappen: 1.) Im 13. Jahrhundert v. Chr. begann ein Teil der Menschheit, ein absolutes Wesen zu konzipieren, das unabhängig von jeglichem Umfeld über allem Irdischen existierte: theologische Enterdung. 2.) Im 17. Jahrhundert n. Chr. bildete ein Mensch die gleiche Vorstellung von sich selbst und begründete damit den modernen Individualismus. Wieder war es Cartesius, der in der Abhandlung Über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs erklärte: «Ich erfuhr insofern, dass ich eine Substanz bin (....), die keinen Ort braucht, um zu sein». Ontologische Enterdung! 3.) 1960 erfand ein NASA-Ingenieur den Begriff Cyborg und startete die Transhumanismusbewegung, mit dem Anspruch, uns durch die Entwicklung geeigneter technischer Mittel nun auch physisch zu enterden.

Berque erwähnte eine andere mögliche Herleitung aus der griechischen Philosophie. Aristoteles war wohl der erste, der sich einen abstrakten Raum vorstellte – der den Ort als losgelöst vom Sein betrachtete, den Topos als reinen Behälter, gleichgültig gegenüber allem darin Enthaltenen. Dies verleugnet vollständig jeden Geist der Orte und macht alles verlagerbar. Aristoteles hat‘s gedacht, die Moderne hat‘s gemacht: Heutzutage können Planer besten Gewissens eine geschützte Tier- oder Pflanzenart von einem Ort, den sie betonieren wollen, an einen beliebigen anderen verpflanzen, um den gleichen Flughafen, den gleichen Hangar, das gleiche Haus, wo auch immer auf unserem Planeten zu errichten, in einer vereinheitlichten Welt, in der alles als austauschbar gilt. Und wie waren wir doch stolz auf unsere Vereinten Nationen, auf unsere Allgemeinen Erklärungen, auf die der gesamten, hinter unserem Banner vereinigten Menschheit zugestandenen Rechte! Und vielleicht beginnen wir gerade erst zu erkennen, wie sehr dieser Universalismus (oder doch nur eines seiner Gesichter?) in unseren Händen einer Massenvernichtungswaffe gleicht…

Davon berichtete die Anthropologin Nastassja Martin, die bei der ersten Sitzung des Seminars dabei war, auf erschütternde Weise am Beispiel der Gwich’in in Alaska, deren Porträt sie in ihrem Buch Les âmes sauvages (Wilde Seelen) zeichnet. Zuerst durch die Missionare im Namen des Einen Gottes, heute durch die Staatsökologen oder durch gewisse NGO im Namen der universalen Vernunft, wenn nicht gar im Namen der Natur selbst, die es vor ihren eigenen Bewohnern zu schützen gälte, kappt «man» nach wie vor ihre Bindungen, verbietet ihre Jagd- und Sammelpraktiken und macht ihre Welten zunichte, ganz nebenher ihre Integration in den Einen Weltmarkt vorantreibend.

Diese Woche hat uns Florence Brunois ein ähnliches Bild von der Situation der Kasua in Neuguinea gemalt, deren innige Verbundenheit mit dem Wald sie genauso beobachtet hat, wie ihre fortschreitende Entwurzelung seit der nur wenige Jahre zurückliegenden Ankunft der Missionare. Sie erzählte uns von der Welt des Waldes als von absoluter Ambivalenz geprägt: Bei der täglichen Jagd sagt nichts uns mit Sicherheit, ob es sich bei dem Getöteten um ein Tier handelt, das sein Leben zu opfern bereit war oder um einen Geist, der sich an uns rächen wird oder gar um eine·n unserer Vorfahren. Das ist das Dilemma eines jeden Animisten: Jedes Wesen, das wir verspeisen, wird vielleicht auch uns am Ende verspeisen. Jede Beute hat eine Seele, die unserer gleicht. Da heisst es, ständig auf der Hut zu sein, in einer instabilen Welt, in der für die Illusion der Unschuld kein Platz ist. Leben heisst töten, die Kunst liegt im Wie. Es trifft sich, dass eine der ersten Taten der Missionare, dort wie anderswo, das Verbot des Kannibalismus war, der doch eine logische Folgerung dieser Ambivalenz darstellte. Bis in die 80er Jahre hinein beinhaltete jeder Initiationsritus der jugendlichen Kasua das Essen von Menschenfleisch – so nahmen sie ihren Platz in der Nahrungskette ein und erfuhren sich selbst als essbare Wesen unter anderen.

  1. Unter den Teilnehmer·inne·n des besprochenen Seminars hatten sich mehrere diesen Begriff geliehen und sich gemeinsam das «Terrestrische Kollektiv» getauft. Auf ihrer Online-Zeitschrift terrestres.org finden sich viele vertiefende Ergänzungen zu diesen Notizen, die Euch ein neugieriger Beobachter ohne soliden philosophischen Hintergrund vorlegt.