MIGRATION / ITALIEN: Solidarreise nach Süditalien

von Margrit Moser, Bern, 07.01.2024, Veröffentlicht in Archipel 332

Die Citykirche «Offener St. Jakob» in Zürich organisierte in Zusammenarbeit mit dem Umweltzentrum «Öko & Fair» in Gauting (BRD) für Ende Oktober eine Gruppenreise nach Apulien und Kalabrien in Süditalien. Die Autorin war Teil dieser Gruppe engagierter Menschen.

Der Film «Das neue Evangelium» war für Verena Mühlethaler, Pfarrerin der Citykirche, Auslöser und Motivation. In der süditalienischen Stadt Matera inszenierte der Schweizer Regisseur Milo Rau das Passionsspiel einer Gesellschaft, die geprägt ist von Unrecht und Ungleichheit. Verzweifelte Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Europa gekommen sind, werden auf den Tomatenfeldern Süditaliens versklavt, von der Mafia ausgebeutet und hausen unter unmenschlichen Bedingungen in regelrechten Ghettos – allein in Italien sind das mehr als 500.000 Menschen. Der Politaktivist Yvan Sagnet aus Kamerun, der im Film Jesus verkörpert, gründete gemeinsam mit ansässigen Kleinbäuerinnen und -bauern die «Revolte der Würde», eine politische Kampagne, die für die Rechte von Migrantinnen und Migranten kämpft.

Casa Sankara

Die erste Station der Reise war der Verein «Ghetto Out – Casa Sankara” in San Severo, Provinz Foggia. Die Projektleiter Hervé und Mbaye, beide aus Senegal, berichten: «Dieses Projekt ist eine Mission gegen die Ausbeutung der Migranten. Wir sind eine ‘Assoziazione’. Hier leben Menschen aus 13 Nationen, 19 bis 60 Jahre alt. Aktuell wohnen 420 Männer in unserem Containerdorf, 80 Prozent von ihnen haben eine Aufenthaltsgenehmigung. Es ist sehr wichtig für die Männer, dass sie eine Adresse haben, sonst können keine Arbeitsverträge gemacht werden und dann ist auch keine Aufenthaltsgenehmigung möglich. Wir bieten Sprachkurse und verschiedene Workshops an und unterstützen die Migranten in rechtlichen Fragen mit Anwält·innen. Auf 16 Hektar wachsen Tomaten. Tomaten sind für uns ein Symbol der Ausbeutung – unsere Tomaten hingegen werden unter fairen Bedingungen geerntet. Wir wollen bald auch anderes Gemüse (Okra, Erbsen etc.) anpflanzen; unser Ziel ist Selbstversorgung. 50 Männer arbeiten auf unserem eigenen Land, die anderen auf fremden Feldern, alle mit guten Verträgen (mit nationalen Vorgaben). Der Lohn beträgt 7 bis 8 Euro pro Stunde oder 50 bis 60 Euro pro Tag. Das Ziel ist, die Menschen aus den Ghettos zu befreien und ihnen wieder ein selbstbestimmtes Leben in Würde zu ermöglichen. Wir Projektleiter aus dem Senegal handeln aus unserem Glauben heraus, wir sind ein wenig Verrückte…»

Ghetto auf altem Flughafen

Als Zweites treffen wir in Foggia Yvan Sagnet, den Kameruner Ingenieur und Jesusdarsteller aus dem Film «Das Neue Evangelium». Zur Finanzierung seines Studiums in Italien war er als Erntearbeiter auf den Tomatenfeldern in Apulien «angestellt» und lernte dort die unmenschlichen Arbeitsverhältnisse am eigenen Leib kennen. Er initiierte einen wochenlangen Streik der Arbeiter, der grosses Aufsehen in der Öffentlichkeit erregte und gründete 2011 NO CAP. Die Organisation kämpft gegen das sogenannte Caporalato-System in der italienischen Landwirtschaft. Es wird von der Mafia kontrolliert, die »Aufseher” einsetzt, um mit skrupelloser Gewalt und Erpressung von den meist afrikanischen Erntehelfern in den Ghettos Teile des ohnehin geringen Lohns für Transport, Miete für Plastikplanenzelte und Wasserflaschen zu verlangen. Das System nutzt die Hilflosigkeit der Menschen aus, weil sie keine Papiere haben, ihr Asylantrag abgelehnt wurde und eine Abschiebung droht. Die Arbeiter verdienen 3 Euro pro Stunde bei 48 Stunden pro Woche.

Mit Yvan fahren wir zum grössten Ghetto in der Region: Borgo Mezzanone – einem von ca. zwanzig – das je nach Saison bis zu 7.000 Erntearbeiter beherbergt. In der Region leben unter diesen sklavenähnlichen Bedingungen 50.000 Menschen, in ganz Italien sollen es 500.000 sein. Die Bewohner haben in Borgo Mezzanone ihre Hütten und Zelte auf den Pisten eines ehemaligen Flughafens aufgestellt und leben hier in Selbstorganisation, es gibt auch einfache Läden und bescheidene »Restaurants”. Die Stimmung beim Gang durchs Ghetto ist angespannt, in einiger Distanz ist ein Brand auszumachen, wir sehen die primitiven Hütten aus Holz, Wellblech, Plastik, den Müll, einige Männer in armseliger Kleidung, ein paar Hühner und Ziegen.

Bio-Verarbeitung

Maria Luisa, die Geschäftsführerin von PRIMABIO in Rignano Garganico, führt uns herum und zeigt die Anlagen und Maschinen, wo Tomaten, Broccoli, Spargel und Peperoni verarbeitet werden – alles in Bio-Qualität. PRIMABIO arbeitet auch mit NO CAP zusammen. Yvan berichtet über NO CAP: «Der Verein hat 500 Leute unter Vertrag. Sie verdienen 42 bis 44 Euro am Tag bei 6 ½ Stunden Arbeit. Die Bauern und Bäuerinnen arbeiten gerne mit uns zusammen, alle Produkte sind Bio zertifiziert und werden unter fairen Bedingungen geerntet. 20 Angestellte und 100 Freiwillige arbeiten für NO CAP. Die Arbeiter werden aus dem Ghetto geholt, schlafen dann im Villaggio Don Bosco der Stiftung Emmaus. Nach der Tomatenernte können sie in einer anderen Region weiterarbeiten – sie müssen nie mehr ins Ghetto. NO CAP vermittelt Arbeitsplätze und Unterkünfte. Meine Motivation: der Glaube und das Bestreben, den Leuten zu Würde zu verhelfen. Es ist wichtig, dass ihr da seid und berichtet!»

Casa Betania

Das Gebäude für das «Haus der Würde» in Serra Marina di Bernalda wurde von der Caritas zur Verfügung gestellt, renoviert und bietet ca. 30 Migranten ein Zuhause. Wir werden von Moudy empfangen, einem Sudanesen. Er kam vor zehn Jahren als Flüchtling nach Italien, hat inzwischen studiert und eine Anstellung als Integrationsberater. Ausserdem fungiert er als eine Art Hausmeister im Casa. Don Antonio stösst zu uns – er bezeichnet sich als revolutionären Priester. Beide berichten über die katastrophalen Lebensumstände in den nahen Ghettos und betonen, dass die Zusammenarbeit mit NO CAP ein Segen sei. Das Casa Betania bietet spezialisierte landwirtschaftliche Ausbildung mit Hilfe von Feldversuchen. Das Projekt basiert auf interaktivem Lernen, das von der Vorbereitung des Bodens bis zum fertigen Produkt Lebensmittel reicht. Philosophie ist, die Natur zu schützen, die Ethik zu bewahren und den Menschen Würde zu geben. Moudy betont, dass es einen Paradigmenwechsel im Denken und Verhalten der Afrikaner geben müsse – weg von der Opferhaltung hin zu Selbstverantwortung.

Weitere Stationen unserer Reise waren Matera, das Ghetto Tendopoli in San Fedinando bei Rosarno und Riace. Wir haben auch überall, wo wir waren, nach den Frauen gefragt. Die Antwort war meistens die Gleiche: Frauen und Kinder würden nicht in Ghettos wohnen, bekämen mehr Unterstützung und oft Wohnraum in Dörfern oder Städten, arbeiteten oft als Prostituierte... Leider hatten wir zu wenig Zeit, diese Aussagen zu verifizieren und Organisationen zu treffen, die sich speziell um Frauen kümmern. Hoffentlich ist das ein anderes Mal möglich.

Was können wir tun?

Leider sind in der Schweiz in nur wenigen Läden NO CAP-Produkte erhältlich. Je mehr gesicherte Abnehmer·innen NO CAP hat, desto mehr Migranten können aus den Ghettos geholt werden und mit fairen Verträgen arbeiten. Wer von den Leserinnen und Lesern Zugang zu Geschäften hat und den Verkauf von fairen Produkten unterstützen will, kann sich bei folgender Adresse melden. Von hier aus wird der Vertrieb in Deutschland organisiert: info@oeko-und-fair.de

Margrit Moser, pensionierte Aktivistin, Lehrerin, Sozialarbeiterin, Projektleiterin...

Weiterführende Infos:

www.associazionenocap.it www.nocap.oeko-und-fair.de www.casasankara.it www.primabio.farm www.nocap.oeko-und-fair.de/casa-betania-house-of-dignity