MIGRATION / FRANKREICH: Über Berge und Grenzen

von Noëlle Damaj, 15.01.2022, Veröffentlicht in Archipel 310

Um den intensiven Polizeikontrollen an der italienisch-französischen Grenze zwischen Nizza und Ventimiglia zu entgehen, benützen Flüchtende und Migrant⸱inn⸱en seit Sommer 2017 die viel gefährlichere Route über die Alpenpässe oberhalb der französischen Grenzstadt Briançon. Hier sind die Helfenden überlastet und sie fordern, dass der Staat seinen Verpflichtungen für die Schutzsuchenden nachkommt.

Wenn die Geflüchteten die Überquerung der Berge von Italien nach Frankreich geschafft haben, verbringen sie normalerweise einige Tage in Briançon, bevor sie versuchen, per Bus oder Zug weiter zu reisen oder in Frankreich einen Asylantrag zu stellen. Sowohl die verschiedenen Arten der Hilfeleistungen für diese Menschen als auch die polizeiliche Repression gegen sie haben im Laufe der Jahre in der Region um Briançon ständige Veränderungen erlebt. Ich kann natürlich die jetzige Situation – und wie ich sie empfinde – beschreiben, aber schon morgen sind es vielleicht andere Menschen, andere Probleme und vielleicht sogar andere Orte, die wir verstehen und kennenlernen müssen. Doch bleiben wir vorläufig in dieser Grenzstadt, an diesem volatilen Knotenpunkt, wo sich die Wege von Skitourist⸱innen, Einheimischen und internationalen Migrant⸱inn⸱en kreuzen.

Zuflucht in der Kirche

Am 24. Oktober 2021 schloss das von den Hilfsinitiativen betriebene Refugium „Les terrasses solidaires“ (ein ehemaliges Sanatorium) seine Pforten für die ankommenden Menschen, weil deren Zahl die Aufnahmekapazität von 60 Personen weit überschritten hatte und die im Refugium aktiven Helfer⸱innen dadurch völlig überfordert waren. In der Nacht vor der Schliessung suchten 230 Schutzsuchende eine Unterkunft. Als der Grossteil von ihnen keine fand, verbrachten sie die Nacht im Bahnhof oder im Freien. Angesichts dieser Situation öffnete der Bischof von Gap zusammen mit dem amtierenden Pfarrer die Kirche Sainte Catherine in Briançon, um die Geflüchteten vorübergehend zu beherbergen. Die Geflüchteten wurden sowohl in den Kirchenräumen als auch auf dem Vorplatz in Zelten untergebracht. Zudem erlebte das „Netzwerk von solidarischen Gastgeber⸱inne⸱n“ unter den Einheimischen eine Reaktivierung.

In der Woche vom 8. November 2021 schneite es sehr viel und die Temperaturen sanken danach auf Minus 10° Celsius. Die Vereine und solidarischen Bürger⸱innen warteten immer noch auf eine längerfristige Lösung und starteten zahlreiche Aktionen und Anfragen, um eine Antwort der Behörden auf diese humanitäre Krise zu erhalten: Ein Brief ging an Martine Clavel, die zuständige Präfektin des Departements, und eine Anfrage an das Kabinett von Emmanuelle Wargon, zuständig für Wohnungen im Ministerium für den ökologischen Übergang – ohne Erfolg. Der Versuch von Helfenden, die Geflüchteten in einem ehemaligen Impfzentrum unterzubringen, scheiterte. Schliesslich, am Samstag, den 13. November, stellte „Médecins sans frontières“ (MSF), ein aufblasbares Zelt von rund 100 Quadratmetern im Garten der Kirche Sainte Catherine auf. Solche riesigen Zelte, die mit Öl geheizt werden, sind normalerweise für humanitäre Krisen im Ausland reserviert.

Der Staat tut nichts

Am Dienstag, den 16. November, reichte dann die Vereinigung „Tous migrants“ beim Verwaltungsgericht in Marseille eine Klage ein, um die Behörden zu zwingen, eine Notaufnahme und -unterbringung für die Migrant⸱inne⸱en einzurichten und zwar entsprechend des „Réferé Liberté“-Verfahrens, d. h. im Rahmen eines Dringlichkeitsverfahrens zur Beendigung eines Verstosses gegen eine Grundfreiheit oder eine öffentliche Freiheit. Das Urteil, das am Dienstag, den 30. November, erging, wies die Klage jedoch ab. Das Gericht folgt damit der Logik der Präfektur, also der Logik eines Staates, der seine Verantwortung verleugnet, seiner Pflicht, Schutz zu gewähren, nicht nachkommt, und die gesamte Last auf die Bürger⸱innen und Vereine abwälzt. Das Gericht weigert sich, den Staat anzuweisen, exilierten Menschen zu helfen, deren Menschenrechte mit Füssen getreten werden.

Der Präfektin fiel unterdessen nichts Besseres ein, als die Hilfsinitiativen der Bürger⸱innen für „eine Sogwirkung“ verantwortlich zu machen. „Die Zunahme des Angebots an Unterbringungsmöglichkeiten durch das Refugium der ‚Terrasses solidaires‘ ist den Schleppernetzwerken gut bekannt“, behauptete sie. Die fast permanente Überlastung dieser Struktur nahm sie nicht zur Kenntnis. Dem Antrag der Vereine auf Eröffnung einer von den Behörden verwalteten Aufnahmestelle, um die Empfangskapazitäten zu erhöhen, erteilte sie eine deutliche Absage: „Die verstärkten Kontrollen um Briançon ermöglichen uns in diesem Stadium eine Steuerung des Migranten-Stroms; von uns wird keine Aufnahmestelle initiiert werden.“

Die Stadt Briançon liegt nur wenige Kilometer von der französisch-italienischen Grenze entfernt und jede Nacht kommen hier Männer, Frauen und Kinder erschöpft und frierend an. Der Weg über die Berge bis hierher – bei Minustemperaturen und Schnee – ist ausgesprochen schwierig und gefährlich. Deshalb ziehen wir weiterhin als freiwillige Helfer⸱innen los, um präsent zu sein, damit die Menschen sich nicht verirren oder verletzen, nicht abstürzen oder erfrieren. Wir treffen viele Familien, oft zwischen zehn und zwanzig Erwachsene und Kinder – vor allem Kleinkinder. Sie kommen meistens aus Afghanistan und dem Irak. Alleinstehende Männer sind in der Regel aus Nordafrika. Die Anzahl der Menschen, die pro Tag kommt, ist sehr verschieden, es können aber leicht vierzig Personen oder mehr sein. Wenn sie nach mehr als zehn Stunden Fussmarsch endlich Zuflucht finden, haben sie in Briançon die Möglichkeit zu essen, sich aufzuwärmen und umzuziehen.

Bürger⸱innen helfen

Da die „Terrasses solidaires“ mit einer Kapazität von 60 Betten seit Anfang Dezember wieder geöffnet sind, wird alles getan, um diesen Menschen Schutz zu bieten. Hier gibt es Schlafsäle mit Feldbetten, und solidarische Freiwillige sind immer anwesend, um die Mahlzeiten zuzubereiten, die Betten aufzustellen und alle notwendigen Kleidungsstücke und Materialien aus Sammlungen entgegenzunehmen und für die Ankommenden bereit zu halten. Der Aufwand ist enorm und aus diesem Grund gibt es im Refugium auch Angestellte, welche die Aufgabe haben, die Betreuung zu koordinieren. Diese Koordination erfolgt auch mit der Kirche Sainte Catherine, wo das MSF-Zelt noch immer steht – für den Fall, dass die 60-Personen-Marke der „Terrasses“ überschritten wird. Deshalb gibt es auch Angestellte für eine Nachtpräsenz sowohl im Refugium als auch in der Kirche.

Glücklicherweise tragen die vielen Aufrufe zur Solidarität ihre Früchte. Es gibt eine ständige Erneuerung von Freiwilligen, was sehr hilfreich ist. Denn wer hier lange aktiv ist, läuft Gefahr, ein Burn-out zu bekommen – vor allem die Helfer⸱innen, die in der Region leben und ständig mit allen Schwierigkeiten konfrontiert sind, die durch die Repression und die klimatischen Bedingungen entstehen. Die verschiedenen Gruppen, Vereine und Freiwilligen müssen sich in immer komplexeren und sich ändernden Situationen bewegen und koordinieren.

Die Gesundheitskrise erfordert noch mehr Management, da alle Migrant⸱inn⸱en, die den Zug nehmen, einen Covid-Test machen müssen, bevor sie aus Briançon abreisen können. Praktisch alle wollen weiter – in Richtung Paris, Grossbritannien oder Deutschland. Nur Wenige bleiben in der Region hängen. Mit den Menschen, die von Vereinen und Freiwilligen vorläufig aufgenommen und unterstützt werden, ist die Kommunikation wegen Sprachproblemen oft eingeschränkt. Da diese Geflüchteten in der Regel nicht lange in der Gegend bleiben, muss man Erklärungen, Ratschläge usw. immer wieder von vorne beginnen. Dazu kommt noch die ganzen „Nebenarbeiten“ wie die Verwaltung des Heizöls, des Brennholzes und die Aufnahme und Einführung von neuen Freiwilligen, die im Durchschnitt nur zwei Wochen bleiben. Doch das ist längst nicht alles. Es geht auch darum, die Medien zu informieren, Anfragen an die Behörden zu formulieren, eventuellen Verhaftungen nachzugehen und Prozesse gegen freiwillige Helfer innen zu begleiten. Regelmässige Organisationstreffen werden abgehalten. Auch Informationsveranstaltungen für die Bevölkerung sind wichtig: Organisierung vom „Tag der Migration“, Konferenzen, Filmvorführungen und vieles mehr.

Sinnlose Repression

Auf dem Montgenévre-Pass, zwischen der italienischen Stadt Oulx und Briançon, sind die freiwilligen Helfer⸱innen, die aus ganz Frankreich kommen, immer wieder Gegenstand von Identitätskontrollen, Verfolgungen oder Verhaftungen durch die Grenzpolizei, die immer mehr Uniformierte einsetzt, um die Grenze zu „schützen“. Neben den Aktivist⸱inn⸱en, die sich auf Französisch „Maraudeurs“ nennen, sind auch Ärzte und Personal von „Médecins du Monde“ im Einsatz. Sie sind eine grosse Hilfe und auch oft in der Nacht, ergänzend zu den Freiwilligen, unterwegs.

Noch wesentlich schlimmer als die Schikanen gegen die „Maraudeurs“ ist die Verfolgung der Migrant⸱inn⸱en durch Polizei und Gendarmerie. Die Geflüchteten werden geradezu gejagt, und wenn sie aufgegriffen werden, landen sie auf dem Posten der Grenzpolizei „Police Aux Frontières“ (PAF), von wo aus, in den allermeisten Fällen, deren Rückschiebung nach Italien stattfindet. Ein Beispiel für eine der tragischen Folgen dieser Situation war die Trennung von zwei schwangeren Frauen, die wegen ihrem physischen Zustand ins Spital nach Briançon gebracht werden mussten, von ihren Kindern und Ehepartnern, die zur gleichen Zeit nach Italien zurückgeschafft wurden. Die einzige Antwort des Staates auf dieses Phänomen der Migration ist die massive Verstärkung der Militarisierung an der Grenze. Die Migrant⸱inn⸱en sind so gezwungen, hier in den Bergen immer höher gelegene und gefährlichere Wege zu nehmen. Es ist unmenschlich und illusorisch zu glauben, dass das Problem der Flucht durch diese Militarisierung gelöst werden kann, zumal diese Menschen vor Krieg, Hunger, Gewalt und Verfolgung fliehen. Die polizeiliche Repression soll offenbar dazu dienen, alle vor Ort handelnden Personen zu destabilisieren, egal wer sie sind. Daher ist es wichtig, dass das Recht auf Hilfe und Solidarität eingefordert wird.

Als sich die Helfer⸱innen in der Zeit des Lockdowns mit einer Genehmigung der Vereinigung, der sie angehörten, ausweisen mussten, um sich auf den Montgenèvre-Pass begeben zu können, sah die Polizei natürlich bei den Kontrollen, dass die Freiwilligen für die Flüchtlinge in Bergnot unterwegs waren. Damals wurde also toleriert, dass sie Hilfe leisteten, aber warum wird dann so viel Druck ausgeübt? Regelmässig kommt es zu Anschuldigungen, dass durch deren Solidarität die Migrant⸱inn⸱en in den Bergen gefährdet würden, obwohl völlig klar ist, dass die Flüchtenden vor der Polizei Angst haben und sonst vor niemandem. Solange die Freiwilligen auf französischem Territorium bleiben und sie nicht die Grenze zu Italien übertreten bzw. nicht hin und her gehen, darf die Hilfe nicht kriminalisiert werden.

Alle wissen es: Die abgewiesenen Migrant⸱inn⸱en werden immer wieder zurückkommen – wenn nicht heute, dann morgen. Deshalb noch einmal unsere Frage: Warum soll man sie durch eine immer stärkere Polizeipräsenz in Gefahr bringen? Und warum wird darauf beharrt, dass dieses Land nicht offen sein kann für alle, die sich hier niederlassen oder durchreisen wollen?

Die Initiativen vor Ort – Refuges Solidaires, Tous Migrants, Terrasses Solidaires, Les Solidaires de Briançon – und die Hilfsorganisationen Médecins du Monde, Secours Catholique, Caritas France und alle freiwilligen Helfer_innen, wiederholen ständig ihre Forderungen an die staatlichen Behörden: - für einen echten Dialog mit den Vereinen, Bürger⸱innen und Betroffenen; - die Einrichtung eines staatlichen Notaufnahmesystems als Ergänzung zur privaten Hilfe;

  • für den Zugang zu Covid-Tests, um die Gesundheit zu schützen und die Weiterreise der Migrant⸱inn⸱en zu gewährleisten; für einen erleichterten Zugang zu Transportmitteln.

Nach wie vor gilt die Parole: Unsere Berge dürfen nicht zu Friedhöfen werden!

Noëlle Dimai