FRANKREICH, Flucht durch den Schnee

von Michael Rössler, 15.01.2021, Veröffentlicht in Archipel 299

Am 11. Dezember 2020 begleitete ich eine befreundete Radiojournalistin (1) nach Bri-ançon in die französischen Alpen, wo eine Pressekonferenz der „Association Nationale des Villes et Territoires Accueillants“ (ANVITA) (2) über die Situation der Mig-rant_inn_en an der französisch-italienischen Grenze stattfinden sollte. Hier wurde ich Augenzeuge einer täglichen Tragödie. Der Europaparlamentarier Damien Carême und Präsident von ANVITA, die regionale Abge-ordnete Myriam Laïdouni-Denis und der Senator Guillaume Gontard hatten zusammen mit der Vereinigung „Tous Migrants“ (3) zu diesem Anlass eingeladen – als Teil einer Delegati-on, die sich für die Rechte von Migrant_inn_en an den Grenzen einsetzt.

Wir treffen uns gegen Mittag in Briançon im Gebäude des „Maison de Jeunes et de la Cul-ture“ (MJC), in dem sich auch das „Refuge solidaire“ befindet, wo die Migrant_inn_en ver-sorgt werden, die den Weg über die Berge von Italien nach Frankreich geschafft haben: kur-zes Vorbereitungsgespräch zwischen den Abgeordneten, Journalist_innen, Bergretter_innen (den so genannten „Maraudeurs“) und Vertreter_inne_n von „Tous Migrants“ und „Médecins du Monde“, die „eine mobile Einheit“ bilden, um den in Bergnot geratenen Flüchtenden zu Hilfe zu eilen. Vor der Pressekonferenz, die erst am späten Nachmittag stattfinden soll, ist ein Augenschein an der französisch-italienischen Grenze und ein Besuch der Abgeordneten im Gebäude der Grenzpolizei „Police de l’Air et des Frontières“ (PAF) auf dem Bergpass „Col de Mon-tgenèvre“ vorgesehen. Die Volksverteter_innen sind die Einzigen, die Zugang zur PAF und ein Rendezvous mit dem Kommandanten bekommen; Journalist_inn_en und Flüchlingshelfer_inn_en müssen draussen bleiben. Doch zuerst machen wir uns alle zusammen auf, um auf einen Bergkamm hinter der PAF zu gelangen, der uns den Blick auf ein Seitental ermöglicht, wo angeblich regelmässig Migrant_inn_en versuchen, über die Grenze zu kommen. Es ist um die 14 Uhr, wir sind auf mehr als 1 900 Metern Höhe, es liegt Schnee und die Tem-peratur liegt bei Minus 5 Grad. Auf der Strasse dorthin sind uns immer wieder Fahrzeuge der Gendarmerie begegnet, die sich jetzt am selben Ort gruppieren, an dem wir gerade angekommen sind. Ein grosses, weitgehend leeres Ferienheim auf der einen Seite der Strasse, auf der anderen Seite der Blick ins Tal. Entweder sind die Gendarmen da, um uns zu über-wachen oder um Flüchtende aufzuspüren; wie sich sehr schnell herausstellen wird, geht es ihnen um beides.

Unten im Tal fliesst ein Bach wie eine schwarze Schlange durch den hellen Schnee; auf der anderen Seite ist Italien. Wir sehen von weitem mehrere Gestalten, vielleicht fünf oder sechs, die in einer Reihe durch den Schnee stapfen. Mehrere Gendarmen wollen sich auf-machen, um den Hang hinunterzuklettern. Doch die „Wandernden“ ziehen bereits den Rückzug an. Es bleibt ruhig. Ein Sprecher der Gendarmerie scheint dazu abgestellt zu sein, um auf Fragen unserer Delegation einzugehen. Die Antworten bleiben oberflächlich: „Wir machen hier nur unsere Arbeit“, die PAF sei zuständig, die Migrant_inn_en würden alle dort hingebracht.

Ein Gewaltmarsch

Plötzlich Rufe aus der Richtung des Ferienheims. Sofort schlittern Gendarmen und Flücht-lingshelfer_innen den Hang neben dem Heim hinunter, Abgeordnete und Journalist_innen ihnen nach. Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, was vor sich geht. Als ich ebenfalls von der Strasse nach unten rutsche, sehe ich schon von weitem die Flüchtenden, die sich in meine Richtung durch den fast kniehohen Schnee kämpfen: Männer, Frauen und Kinder. Sie werden von den Grenzwächtern nach oben getrieben, dabei von diesen zum Teil aufrechtge-halten, und von den Flüchtlingshelfer_inne_n und Abgeordneten begleitet und gestützt. Eine Frau kann sich kaum auf den Beinen halten und ist völlig ausser Atem, auch andere Flücht-linge sind erschöpft oder gar verletzt, so dass sie kaum vorwärtskommen. Viele haben nur leichte Turnschuhe an. Eine Ärztin von „Médecins du Monde“ protestiert gegen das schnelle Tempo des Gewaltmarschs und erklärt, dass zumindest die Frau und eine andere Person so-fort ins Spital nach Briançon gebracht werden müssen. Die Kinder wirken tapfer und sind entweder auf den Armen und Schultern von Erwachsenen oder ebenfalls zu Fuss unterwegs. Eine hochschwangere Frau bleibt weiter unten zurück – umringt von Gendarmen und Hel-fer_inne_n.

Fast wieder oben an der Strasse angelangt, fotografiere ich den Marsch der Ankommenden, um diese fast unglaubliche Szene bildlich zu dokumentieren, bis sich ein Mann, auf beiden Beinen hinkend, sein Gesicht unter einer Kapuze verborgen, an mir vorbei schleppt. Ich zögere zuerst, meinen Fotoapparat wegzustecken, doch dann frage ich: „Do you need help?“ – „Yes“. Ich gebe ihm meine Hand und fordere einen jungen Gendarmen auf, dasselbe zu tun. Dieser hilft sofort mit, was mich denken lässt, dass wir es hier doch nicht nur mit Uniformen zu tun haben.

Auf der Strasse wartet schon ein grosser Landrover mit laufendem Motor und der Aufschrift „Police“, der die Kinder aufnehmen und zum Gebäude der PAF fahren soll. Eine Flücht-lingshelferin, die drei Kinder mit nach oben gebracht hat, will diese nicht abgeben. Ein Polizist reagiert harsch und beschuldigt die Frau, sie wolle die Kinder von den Eltern trennen. Die Helferin erklärt, die Eltern müssten überhaupt erst einmal gefunden werden. Zu diesem Zeitpunkt ist völlig unklar, wo diese sind. Später stellt sich heraus, dass die Mutter von den drei Kindern hochschwanger unterhalb des Ferienheims im Schnee liegt. Die Polizisten pa-cken schliesslich die Kinder in den Landrover und brausen in Richtung PAF davon, alle an-deren Geflüchteten werden in Bussen der Gendarmerie an den gleichen Ort gebracht. Ein Teil unserer Delegation folgt ihnen, um zu schauen, was mit den Ankommenden passiert. Gleichzeitig nehmen die Abgeordneten das schon zuvor vereinbarte Rendezvous mit dem Kommandanten der PAF wahr.

Im achten Monat schwanger

Ich bleibe da und mache mich wieder auf den Weg nach unten zu der Frau, die im Schnee liegt. Die Frau stöhnt in regelmässigen Abständen und ruft immer wieder verzweifelt „My baby“. Die Helfer_innen und Gendarmen wirken hilflos, drei Bewohner_innen des ansonsten leeren Ferienheims kommen dazu, um zu helfen. Ob der medizinische Notfalldienst (SA-MU) von Briançon verständigt sei, fragt eine Frau. Ja, natürlich, sie wisse schon was zu tun sei, meint eine Polizistin verärgert. Doch es dauert zu lange und weder die Grenzschützer_innen noch die anwesende Ärztin von „Médecins du Monde“ haben das nötige Equipe-ment, um die Frau evakuieren zu können. Jemand kommt auf die Idee, eine Bahre zu besor-gen, womöglich aus dem Ferienheim (es gibt ja immer Skiunfälle während der Saison, die allerdings dieses Jahr wegen Corona ausfällt). Das Vorhaben klappt und die Frau wird – unter den Anweisungen der Ärztin – von mehreren Helfer_innen und Gendarmen auf die Bahre gehievt und in das Heim hinaufgetragen. In diesem Moment habe ich den Eindruck, dass wir alle in der Not zusammen halten könnten, unabhängig von der Weltanschauung und menschenfeindlichen Befehlen. Oben im Heim angekommen, immer noch nach längerem Warten, trifft endlich der ärztliche Notfalldienst ein. Der Sanitäter fragt in gebrochenem Eng-lisch eine mutmassliche Verwandte der schwangeren Frau, in welchem Monat der Schwangerschaft sich diese befände. „eight months“, ist die Antwort. Ausserdem stellt sich heraus, dass die schwangere Frau aus Afghanistan kommt und dass sie tatsächlich die Mutter der drei Kinder im Alter von dreieinhalb, sieben und neun Jahren ist, welche die Polizei zuvor zur PAF verfrachtet hatte. Neben den beiden Frauen, ist ein Mann mitgekommen, der sich ein Bein verstaucht hat und gefrorene Füsse aufweist. Er wird am Ort vom Notdienst ambu-lant behandelt. In der ganzen Panik kann ich leider nicht herausfinden, ob es sich um den Ehemann der schwangeren Frau handelt oder ob dieser schon in der PAF ist, denn ein Gen-darm hat gerade nichts Besseres zu tun als meinen Ausweis und den von ein paar anderen Anwesenden zu kontrollieren. Immerhin erfahre ich, die Afghanin sei mit ihrem Mann un-terwegs gewesen. Die inzwischen weinende Frau wird von der Bahre auf das Notfallbett gehievt und in die Ambulanz geschoben und direkt nach Briançon ins Spital gefahren. Das Ganze hat rund eineinhalb Stunde gedauert und es ist zu hoffen, dass das ungeborene Baby die Tortur unbeschadet überstanden hat. Die Frau ist die einzige, die direkt ins Spital kommt, alle anderen finden sich im Gebäude der PAF von Montgenèvre wieder.

Unerträgliches Warten

Als ich unten bei der PAF ankomme, sind alle Helfer_innen vor dem Gebäude versammelt, während die Abgeordneten noch drinnen beim Kommandanten sind. Gleichzeitig sind junge Aktivist_inn_en aus Italien aufgetaucht, die von den Ereignissen erfahren haben. Sie blockieren spontan den Autozoll vor der PAF, so dass es zu grösseren Staus kommt, und fordern die sofortige Herausgabe aller Geflüchteten. Noch ist es hell, doch die Zeit schreitet voran. Alle harren aus und es wird dunkel. Dann trifft ein Sanitätsfahrzeug nach dem anderen vom Notfalldienst aus Briançon mit lautem Martinshorn und blinkendem Blaulicht ein. Doch nichts rührt sich, ausser den drehenden Lichtern auf den Ambulanzen, die auf dem Schnee gespenstische Muster zeichnen. Ein langes Warten, bis die drei Kinder und der Mann der schwangeren Frau endlich zu ihr ins Krankenhaus gefahren werden. Wir hören, dass der Mann zuvor ein Papier unterschreiben musste, das ihn und seine Familie dazu verpflichtet, das französische Territorium wieder zu verlassen. Ein noch längeres Warten, bis die Frau, die kaum gehen konnte und unter akuter Atemnot litt ebenfalls ins Spital abtransportiert wird. Insgesamt sind es dreizehn Afghan_inn_en – Kinder und andere Verwandte der Kran-ken – die nach und nach in Richtung Briançon evakuiert werden. Mehrere von ihnen werden auf Bahren herausgetragen. Alle anderen Geflüchteten schicken die Grenzbeamten nach Ita-lien zurück. Insgesamt sind 25 Menschen – hauptsächlich aus Afghanistan – angekommen, die schon seit mehr als eineinhalb Jahren unterwegs sind. Gerüchte sprachen hingegen von 40 angekom-menen Geflüchteten: Sicherlich wären alle zurückgeschickt worden, wenn nicht die Delega-tion da gewesen wäre. Denn die Polizisten und Gendarmen haben die Anweisung von ganz oben, niemanden durchzulassen. Die Anzahl der Grenzwächter wurde in den letzten Wochen verdoppelt – auch mit Anti-Terror-Soldaten des „Plan Vigipirate“, die sonst schwerbewaffnet in Bahnhö-fen und Flughäfen patrouillieren. Der Staat will seinen Bürger_inne_n nach den letzten At-tentaten mit islamistischem Hintergrund zeigen, dass er handlungsfähig und stark ist. Ob hier der richtige Ort für Terrorbekämpfung ist, muss allerdings bezweifelt werden. Vielmehr werden die Flüchtenden durch dieses militarisierte Grenzregime generell als Gefahr für den Staat und dessen Bevölkerung stigmatisiert, womit von den wirklichen Problemen abgelenkt wird.

Als die Abgeordneten die PAF schliesslich verlassen haben, wird die Pressekonferenz im Freien improvisiert. Die Abgeordneten erzählen, dass mehrere Geflüchtete unter ihren Au-gen in der PAF einen Asylantrag stellen wollten. Der Kommandant hätte den Volksvertreter_inne_n jedoch schon vorher klar gemacht, dass kein Antrag an der Grenze gestellt wer-den könnte. Die PAF hätte auch kein Formular dafür, das einzige Papier, das sie besässen, sei die „Verpflichtungserklärung zum Verlassen des französischen Territoriums“ (OQTF), verbunden mit der sofortigen Abschiebung. Diese Praxis widerspricht der Genfer Konvention, die „Refoulements“ (Rückschiebungen) verbietet, und auch einer Entscheidung vom 27. November 2020 des „Conseil d’Etat“, dem obersten Verwaltungsgericht Frankreichs. Doch die Präfektin des „Departements Hautes Alpes“ – und damit der Staat – unterstützen nach wie vor dieses Vorgehen. Die Grenzen sind also durch staatlichen Befehl zu rechtlosen Zo-nen geworden, wo Brutalität und Grausamkeit gegenüber Schutzsuchenden an der Tages-ordnung sind. Diese Tatsache hat nicht nur den „Conseil d’Etat“ auf den Plan gerufen, sondern auch die Verwaltungsgerichte von Nizza und Marseille, nachdem mehrere humanitäre Organisationen Klagen eingereicht hatten. Die Urteile vom Dezember 2020 kommen zum Schluss, dass für medizinische und juristische Hilfe der Zugang zu den, in den Gebäuden der PAF festgehaltenen Migrant_innen gesichert werden müsse. Bisher wurde dieser Zugang verweigert, weil es sich – laut PAF – um keine Freiheitsberaubung handeln würde, sondern lediglich um eine zeitweilige „Beherbergung“ (mise à l’abri). Es ist zu hoffen, dass sich die Justiz gegenüber dem Staat durchsetzen wird. Vielleicht können wir dann einmal von einem Rechtsstaat sprechen. Doch es braucht auch ein grosses, utopisches Umdenken von allen, um nicht mehr solche Szenen erleben zu müssen wie an diesem 11. Dezember auf dem Alpen-pass vom Montgenèvre. Ich denke, dass es nur eine Menschheitsfamilie gibt, deren Mitglie-der sich gegenseitig helfen und stützen sollten… Oder ist inzwischen auch das Träumen verboten?

  1. radiozinzine.org, Sendung: Passeuses et passeurs d‘infos
  2. Vereinigung von politischen Gemeinden in ganz Frankreich, die sich für einen würdigen Empfang von Geflüchteten in ihren Städten und Dörfern einsetzt.
  3. www.tousmigrants.org

Kasten: Seit 2016 haben über 11 000 Migrant_inn_en die französich-italienische Grenze in den Al-pen in Richtung der Stadt Briançon überquert, oft in Kälte und Schnee, wobei mehrere Menschen den Tod fanden. Oft jagt sie die Grenzpolizei und bringt sie in Lebensgefahr. Während in den letzten Jahren vor allem junge Afrikaner_innen die Überquerung wagten, sind es heu-te Männer, Frauen und Kinder – auch ganze Familien – aus Afghanistan, Iran, Syrien und Pakistan, die oft schon monatelang auf der Balkanroute unterwegs waren und Schutz in Frankreich oder Grossbritannien suchen wollen. „Médecins du Monde“ organisiert zusammen mit dem Verein „Tous Migrants“ Expeditionen von Freiwilligen, um den Flüchtenden in den Bergen beizustehen. Immer wieder werden Helfer_innen verhaftet, angeklagt und verurteilt. Dagegen sind die Aktivisten der rechtsextremen „Génération identitaire“, die im April 2018 eine Grenzschliessung zwischen Frankreich und Italien in den Alpen veranstalte-ten und sowohl Migrant_inn_en als auch deren Unterstützer_innen bedrohten, am 16. Dezember 2020 in zweiter Instanz freigesprochen worden: ein Blankoscheck für weitere rassis-tische und fremdenfeindliche Taten.