MEXIKO: Viele Grüsse aus Mexiko

von Georges Lapierre, 04.06.2010, Veröffentlicht in Archipel 175

Diesen Bericht, den Sie in dieser und den folgenden Ausgaben des Archipel lesen können, schickte uns George Lapierre, von dem wir bereits eine Artikelreihe mit demselben Titel in den Nummern 115 bis 118 (2004) veröffentlicht haben. Lapierre lebt in Mexiko und in Frankreich. An allen Straßen Mexikos sind neue Tafeln aufgetaucht. In farbigen Zahlen ist darauf ein einziges Datum zu lesen - immer dasselbe - 2010, ruta 2010. Das heutige Mexiko, das Mexiko von Señor Fécal, auch Calderón genannt, bereitet sich vor, mit großem Prunk den 100sten Jahrestag der mexikanischen Revolution zu feiern und auch den Beginn des Kampfes um Unabhängigkeit vor 200 Jahren, sozusagen ihren 14. Juli. Der kleine Unterschied liegt darin, dass der 14. Juli 1789 den Anfang der französischen Konterrevolution bedeutet. Dies mit militärischen Aufmärschen zu würdigen, stört die kleinen französischen Staatsmänner keineswegs. Das Jahr 1910 aber erinnert an den Beginn des zapatistischen Aufstands, el votan Zapata. Hier wissen wir alle, dass Zapata nicht tot ist und der Kampf für die Madre Tierra und um Freiheit nie aufgehört hat. Das Jahr 1810 seinerseits war Auftakt zum Befreiungskampf der indianischen Völker. Wir sollten nicht vergessen, dass die Armeen der Priester Miguel Hildago und José Maria Moralos sich aus den Volksstämmen der Purhépecha und der Nahua aus Michoacán rekrutierten, die nicht Spanisch sprachen und vor allem die Befreiung von den spanischen und kreolischen Unterdrückern begehrten. 1810, 1910... geben mir den Eindruck, als ob die Regierung mit dem Aufstellen all dieser Tafeln ruta 2010 entlang der Straßen, eine nahe Zukunft abwenden will, die sie anscheinend fürchtet. Die Jungfrau von Guadelupe Dieses Jahr hat das Volk der Nahuatl von Ostula mehrere tausend Hektar Land zurück erhalten. Das kleine Dorf liegt in der Sierra Madre im Staat von Michuacán auf Seiten des Pazifiks. Mit Unterstützung von staatlichen Einrichtungen hatten sich zuvor einige zwielichtige und schamlose Personen dieses Land angeeignet. Am 7., 8. und 9. August 2009 trafen sich Vertreter aus Ostula und der Nationale Kongress der Indigenas. Die Gemeindevertreter erinnerten bei dieser Gelegenheit an die Jungfrau von Guadalupe, die universelle Mutter Erde und Schutzpa-tronin ihres Dorfes. Die zapatistischen Truppen haben die Jungfrau von Guadalupe als Symbol für ihre Fahnen gewählt, wie damals die Armeen von Miguel Hidalgo. Die kleinen mexikanischen Staatsmänner werden versuchen, die mexikanische Revolution und den Befreiungskampf der Indigenas umzudichten und ein reines Spektakel mit Fanfaren und Lichterspielen daraus zu machen. Wir aber vergessen nicht, dass der Widerstand und Befreiungskampf der Völker noch aktuell ist und Bestandteil der mexikanischen Realität. In Mexiko wie auch anderswo kämpfen wir dagegen an, dass man versucht, uns ein anderes Bild von der Realität zu geben, als sie eigentlich ist. Hier hingegen ist der Kontrast so groß zwischen Darstellung und Realität, dass wir nicht darauf reinfallen. Die ideale Lebensart, die von der Konsumgesellschaft propagiert wird, mit großen, jungen, schlanken Blondinen und jungen Männern mit Aktenkoffern nach angelsächsischem Vorbild, ist viel zu weit von unserem täglichen Leben entfernt, um reizvoll zu sein. Wir sind noch mit der Realität des kollektiven Lebens verbunden. Die Vorstellung einer entmenschlichten Zukunft mit Aftershave als Höhepunkt der Verlockung, hat wenig Einfluss auf unsere Gedankenwelt, genauso wenig wie die Lügen des Staates. Nur ein ganz kleiner Teil der Gesellschaft lässt sich von den Versprechungen einer sterilen und demokratischen Zukunft einfangen, die von Waren überquillt. Diese Diskrepanz zwischen Realität und deren Darstellung lässt uns hier leichter als in der «Ersten Welt» erfassen, was heutzutage auf dem Spiel steht. Seit Erscheinung des modernen Staates, gegründet auf Ausbeutung der Arbeit für die Ware, hat sich nichts geändert, die Probleme sind die gleichen wie seit Jahrhunderten. Seit die Warenproduktion die ganze Gesellschaft durchdrungen hat, kennen wir nur noch ein implodierendes soziales Leben, in dem alle Formen kollektiven Lebens - seien sie nur ein wenig autonom - dabei sind, zu verschwinden. Das Warendenken ist, wie alles Denken in diesem Namen, praktisch, es ist, wie alles Denken in diesem Namen ein spekulatives Denken. Es spekuliert auf einen Handel, der noch nicht stattgefunden hat, auf einen künftigen Handel. Es ist ein spekulatives Denken und praktisch effektiv: Ohne Unterlass presst es die Arbeit für einen künftigen Gewinn aus. Das spekulative Warendenken ist ein Denken, dass zwanghaft alle Aktivität in unserer Welt antreibt. Es ist die objektive Form des Kapitals geworden. Es geht um das Finanzkapital, und dieses Denken beeinflusst die Warenproduktion, die Arbeit, die gedanklich schon ausgeschlossen ist (Geld als Spekulation) und den Warenhandel (Geld als Verwirklichung des Denkens). «Der Wert ist nur ein soziales Verhältnis, den Menschen untereinander determinieren, dem sie eine Fantasieform des Verhältnisses der Dinge untereinander zukommen lassen», schrieb Marx zu seiner Zeit. Die Warenproduktion, das, was man die Arbeit nennt, hat nichts zu tun mit der damaligen Arbeit, nichts mit der Sklavenarbeit in alten Zeiten - es ist nicht mehr die Geissel, die die modernen Sklaven arbeiten lässt - es ist vielmehr das herrschende Denken in den Köpfen der Sklaven - ein Denken, das objektiv die Form des Geldes angenommen hat. Wir sind angehalten, den Satz von Marx zu präzisieren und zu komplettieren: Alle sozialen Verhältnisse, das ganze soziale Leben, ist bestimmt durch das Denken und dieses Denken ist das Denken des Tausches. Es konnte das Denken unter Männern und Frauen, die den Tausch nach von allen anerkannten Regeln praktizieren, sein oder das einer Aristokratie, die ein Vasallensystem in der Mitte der Gesellschaft eingerichtet hatte. Mit der Waren- oder kapitalistischen Welt haben wir es mit einem sozialen Verhältnis der Menschen untereinander zu tun, bestimmt durch ein abgespaltenes Denken, welches ihnen fremd ist und ebenso fremd für das soziale Leben selbst. Das ist das Paradox der kapitalistischen Welt und auch ihre totalitäre Seite: eine Welt, die sich von dem zerstörten sozialen Leben nährt. Dieses Warensystem hat die Regeln des gemeinsamen Lebens aufgehoben, um auf dem gesamten Planeten eine Form des Seins durchzusetzen, die das kollektive Leben zerstört und uns zwingt, nur noch abstrakte Individuen nach dieser Form zu sein: Individuen, reduziert auf ihr Ego, auf das innere Gefühl eines Mangels, das es zu befriedigen gilt in einem Krieg jeder gegen jeden. Akkumulierung des Kapitals In einem Artikel, der am 14. August 2009 in La Jornada erschien, hinterfragte Raul Zibechi unter dem Titel «Imperium, Militärstützpunkte (es handelt sich um kolumbianische) und Akkumulierung durch Enteignung» das heutige Funktionieren des kapitalistischen Systems. Er bemerkt, dass das System seit einigen Jahrzehnten das Finanzkapital dem produktiven Kapital bevorzugt und dabei durch Enteignung oder Aneignung allen Gemeingutes eine Akkumulierung anstrebt. Diese Form der Akkumulierung, schreibt der Autor, hat große Ähnlichkeiten mit dem was Marx die «ursprüngliche Akkumulation des Kapitals» nannte. Es bedeutet das Ende des Wohlfahrtstaates (oder der fortschrittlichen Staaten in Lateinamerika), Raub, Verarmung und polizeiliche oder militärische Kontrolle über die Menschen. Ich möchte hinzufügen, dass die Nationalstaaten nur einen Moment in der kapitalistischen Herrschaft darstellen. In geographischer Hinsicht einer weltweiten Ausbreitung dieser Vorherrschaft wäre es besser, von Wirtschaftsimperien zu sprechen und der Konfrontation zwischen diesen Imperien um die Vorherrschaft. Auf der Ebene von Imperien ist Protektionismus noch denkbar, gilt aber nicht mehr für Nationalstaaten. Jeden Tag machen die lateinamerikanischen Staaten, die im Einflussbereich des angelsächsischen Nordens liegen, diese traurige Erfahrung. Aber kommen wir auf die These von Raul Zibechi zurück, um ihr eine etwas andere Perspektive zu verleihen. Meiner Meinung nach kann man eigentlich das produktive Kapital nicht vom Finanzkapital trennen. Das Finanzkapital ist im strikten Sinn des Wortes dann produktiv, wenn es der Gedanke ist, der die Warenproduktion bewirkt und auf die Realisierung eines Warenaustausches abzielt. Wenn Raul Zibechi von «Akkumulierung durch Enteignung» spricht, macht er eine Anspielung auf einen anderen Aspekt der kapitalistischen Tätigkeit: der Kapitalismus als Kriegsmaschine gegen alle Formen eines autonomen sozialen Lebens. Die Gier des Warenhandels auf das, was Raul Zibechi «das Gemeingut» nennt (Bodenschätze, Minen, Erde, Wasser, Erdöl, biologische Vielfalt) ist nur das Mittel, um das eigentliche Ziel der kapitalistischen Welt zu erreichen: Die Zerstörung des kollektiven Lebens. Folglich handelt es sich um eine Akkumulierung durch Enteignung, die dem Anschein nach nur materielle Güter betrifft. In Wirklichkeit werden die Menschen ihres Geistes beraubt, der ihr Leben ausmacht. Man raubt ihnen das Denken auf der Grundlage des Tausches. Tatsächlich stellt sich das Kapital oder die Akkumulierung des Kapitals als hervorragend praktischer Prozess heraus, der weltweit das eigene Denken enteignet. Alles autonome kollektive Leben stellt folglich gleichzeitig ein Hindernis für den Vormarsch der Warenwelt dar, aber auch ein Antriebselement, welches den Entfremdungsprozess voran treibt und nährt. Umgekehrt gefährdet jeder soziale Widerstand den Entfremdungsprozess und die kapitalistische Aktivität und muss als solcher zerstört werden. Die Dominierung durch die Warengesellschaft macht jede andere Form der Dominierung überflüssig. Diese völlige Beherrschung hat aber auch die letzte mögliche Widerstandsbastion gegen den Totalitarismus des Denkens aufgezeigt. Alle bisherigen Staatsformen haben nur der kapitalistischen Vorherrschaft zum Durchbruch verholfen, ob es sich nun um den Wohlfahrtsstaat, um christliche, fortschrittliche oder despotische Staatssysteme handelt. Diese Erfahrung aus der Geschichte lässt uns erkennen, dass im Wiederaufbau kollektiver Lebensstrukturen und in der Existenz von Völkern mit Regeln des gegenseitigen Austausches die einzig mögliche Opposition zum Totalitarismus und die einzig wirkliche Kritik am Despotismus des Denkens verankert ist. Die heutige Epoche hat das Privileg, zwei extrem kontroverse Denkweisen gegenüber zu stellen. In Mexiko besteht noch die Möglichkeit eines interkulturellen Dialogs zwischen denen, die sich der so genannten westlichen Gesellschaft widersetzen und der indianischen Welt, die mit einer eigenen Kultur und sozialen Organisation verbunden ist. In gewisser Weise könnte dies eine Alternative zur kapitalistischen Welt bieten. Diese Debatte findet sich in einigen Konzepten wieder: «l-humano-pueblo», die Gemeindlichkeit, das Territorium... Warum sind wir, was wir sind? Während meines Aufenthaltes hatte ich zweimal Gelegenheit, Xaab Nop zu treffen und über sein Buch zu sprechen. Er ist Mixe (Ayuujk) und hat mit anderen versucht, eine Überlegung, die sich das Volk der Ayuujk (Mixe) aus Tlahuitoltepec (Oaxaca) gestellt hatte, ins Spanische zu übersetzen. Sie stellten sich folgende Frage: «Warum sind wir, was wir sind?» Die Gemeinschaft musste fünfmal zusammenkommen, um diese existenzielle Frage annähernd zu beantworten. Titel des Buchs ist Wejën - Kajën 1 und der Untertitel lautet «Das Denken in Dimensionen und Bildung des gemeinschaftlichen Wissens». Seine Lektüre bringt uns der Kosmosvision des Ayuujk-Volkes näher und lässt ein Konzept erkennen, das uns fremd geworden ist. Die Autoren übersetzen es mit l-humano-pueblo, was in etwa mit «das menschliche Wesen-Volk» übersetzt werden kann. Noch lieber würde ich sagen, «das menschliche Wesen-Kollektiv», menschliches Wesen-Ayuujk. Ja wejën bedeutet wachrufen, Interesse wecken, entdecken, ja kajën bedeutet entknoten, entwirren, in Ordnung bringen, entwickeln. Damit haben wir die Elemente, die das Erlernen des gemeinschaftlichen Lebens und das Heranwachsen des menschlichen Wesen-Ayuujk ausmachen. Dieses Lernen berührt die drei Dimensionen, die nach Auffassung der Ayuujk das menschliche Wesen ausmachen: die Dimension yaa-jkên ist die biologische und psychische Ebene, die Dimension wënmää-ny, die geistige Ebene des Denkens und Wissens, die Dimension jää-wën die emotionelle und spirituelle Ebene. Dieses Heranwachsen oder Reifen des Ayuujk-Wesens geht in vier großen Etappen (jede Etappe beinhaltet vier Momente) vor sich und findet an verschiedenen Orten statt: zu Hause, in der Milpa, in der Dorfversammlung, während Zeremonien, Ritualen und Festen der Gemeinschaft. Es ist vor allem eine Einführung in das gemeinschaftliche Leben. Welche Aufgabe oder soziale Funktion der humano-pueblo zu Gunsten der Gemeinschaft übernimmt, hängt von seiner psychischen, emotionellen und spirituellen Reife ab. Die Dorfversammlung kann einen Verantwortlichen oder eine «Autorität» bestimmen (vom Topile bis zum Principal), einen Majordomo oder Capitan (der mit der Organisation von Festen beauftragt ist), den Schamanen, den Heiler, die Hebamme, den Musiker... Das Ayuujk-Wesen, das Kollektiv-Wesen (wir könnten auch allgemeiner gefasst vom menschlichen Wesen sprechen, wenn wir das Sozialverhalten des Menschen als wesentlich ansehen), bewahrt das Denken seiner sozialen Praxis: Wir arbeiten und handeln innerhalb von Beziehungen; der Andere ist immer vorhanden und der geistige Horizont schließt die Tauschbeziehung mit dem Anderen immer ein, wenn alle Handlungen sich auf die Anderen beziehen. Dieses Denken im Rahmen von Tauschbeziehungen ist die geistige Begründung unseres sozialen Lebens. Entweder entspricht diese Denkweise noch unserer Natur und gleicht dem Wesen der Ayuujk und unser Denken ist so strukturiert, dass eine Arbeit damit abgegolten ist, wenn eine wirkliche soziale Anerkennung stattfindet und sich in zukünftigen Tauschbeziehungen von allen mit allen ausdrückt: im Fest, das vorbereitet wird, in der Guelaguetza und in der Kunst des Gebens und Empfangen. Sollte uns diese Art zu denken fremd geworden sein, ist es in diesem Fall vom Warenfluss und der Kapitalplatzierung vereinnahmt. Wir werden so zum getäuschten Zuschauer einer verschwenderischen Fülle, die uns nicht befriedigt und dessen soziales Miteinander des Sinnes beraubt wurde. Die blinkenden und glitzernden Waren denken und feiern an unserer Stelle, verlieren aber ihre Attraktion, sobald man sie besitzt. 1. Por el H. Ayuntamiento de Tlahuitoltepec, Mixe, Oaxaca, México, Coordinado por : Xaab Nop Vargas Vásquez. Colaboradores: Palemón Vargas Hernández, Rigoberto Vásquez Garcia, Lilia Heber Pérez Díaz, Wejën - kajën, las dimensiones del pensamiento y generación del conocomiento comunal. Primer acercamiento, México 2008