Mexiko: Hinter der Maske des Fortschritts

von Valérie Néron, Radio Zinzine Frankreich, 01.09.2019, Veröffentlicht in Archipel 284

Die Spannungen zwischen den indigenen Gemeinschaften und der neuen Regierung in Mexiko nehmen zu. Denn Präsident Andrés Manuel López Obrador (AMLO) setzt auf «Fortschritt», d.h. gigantische Infrastruktur- und Extraktionsprojekte, welche eine grosse Bedrohung für die Natur und die indigenen Gemeinschaften darstellen. Am 1. Dezember 2018 bekam Mexiko einen neuen Präsidenten: Andrés Manuel López Obrador, nach seinen Initialen Amlo genannt. Er bezeichnet sich selbst als Vertreter der Linken und ist angetreten, um die Korruption zu bekämpfen, eine gerechtere Verteilung zu fördern und das ganze Land zu entwickeln und zu verändern. Seine Wahl, die mit mehreren Jahrzehnten hegemonialer Regierungsführung zweier rechter Parteien brach, weckte eine Welle der Hoffnung in der Bevölkerung.

Mahnende Stimmen

Doch die Zapatist·inn·en feierten das 25-jährige Jubiläum ihres Aufstandes, kurz nach der Wahl von Amlo am 31. Dezember 2018, in einer sehr ernsten Stimmung, die das grosse Ausmass der Bedrohung widerzuspiegeln schien. Die Sprecher·innen der zapatistischen Befreiungsarmee EZLN protestierten heftig gegen den neuen Präsidenten und prophezeiten: «Dieser Mann, der jetzt an die Macht gekommen ist, wird das Land zerstören. Denn er ist hinterhältig. Und woraus besteht seine Hinterhältigkeit? Er tut so, als wäre er mit dem Volk von Mexiko, aber in Wirklichkeit täuscht er die ursprünglichen Völker Mexikos, die Indigenen. (....) Das Volk muss aufwachen, wir können nicht noch weitere 25 Jahre warten.»1 Und einige Monate später, Ende Juli 2019, versammelten sich auf Einladung des Nationalen Indigenen Kongresses 600 Frauen aus ganz Mexiko im Bundesstaat Veracruz. Sie verurteilten ebenfalls die neue Regierung und die geplante Vermehrung von gigantischen Projekten, die darauf abzielten, das Land durch die Plünderung der Natur und der Lebensgrundlagen zu einem immensen Industrie- und Tourismuspark zu machen.2 Während die Regierung behauptet, die indigenen Völker zu respektieren, wächst gleichzeitig die Repression. Verleumdungen, Drohungen und Morde nehmen zu. Zielscheiben sind all jene, die sich gegen den so genannten industriellen, agroökonomischen und touristischen «Fortschritt» wenden: Anwältinnen und Anwälte, Journalist·inn·en, Gemeindevor-steher·innen, Gewerkschafter·in-nen, Umweltaktivist·inn·en und viele andere. All diejenigen sind betroffen, die wissen und laut sagen, dass dieser «Fortschritt» die indigenen Gebiete sowie die Rechte und Lebensweisen der dort lebenden Gemeinschaften zerstören wird.

Für die Reichen und die Armen?

Es ist notwendig, sich die 25 «prioritären Projekte» von Amlo, ein Gemisch von enormen Infrastruktur-Baustellen und sozialen Maßnahmen, sowie seinen Aufstieg zum Präsidenten im Detail anzuschauen, um die Widersprüche, die Negation der aktuellen Umweltprobleme sowie die Auswirkungen von Scheinkonsultationen – inmitten einer zunehmenden Militarisierung – wirklich ermessen zu können. Amlo begann seinen politischen Weg innerhalb der allgegenwärtigen «Partei der institutionellen Revolution» (PRI), wechselte dann mit sozialen und ökologischen Forderungen in die Opposition und gewann dadurch Sympathien und Unterstützung bei den Linken. Dann gründete er seine eigene Partei: MORENA (Movimiento Regeneración Nacional). Nach seiner Wahl zum Präsidenten Mexikos bildete er ein sehr heterogenes Regierungsteam: Er integrierte die Sprecher·innen verschiedener sozialer Kämpfe, drängte Vertreter·innen des «Nationalen Indigenen Kongresses» dazu, in die Politik einzutreten, umgab sich aber gleichzeitig mit PRI-Mitgliedern, Repräsentanten der Polizei und Vertretern von Agrarkonzernen, die entschieden gegen die Forderungen der indigenen Völker sind. Die Einführung von sozialen Unterstützungsmaßnahmen, seine große Popularität, die auf dem Image des «Outsiders» gründet, und ein politischer Mix in Zusammenhang mit seinem doppelten Diskurs («Ich will sowohl für die Armen als auch für die Reichen regieren.») haben es ihm ermöglicht, sehr schnell zu agieren und viele Reformen anzugehen, ohne breite Kritik oder wesentlichen Widerstand hervorzurufen. Diese Reformen bestehen darin, das Land noch mehr dem internationalen und privaten Kapital für die zügellose Ausbeutung der Ressourcen zu öffnen und die bäuerlichen Gemeinschaften hinter einer nationalistischen, sozialen und fortschrittlichen Maske weiter zu zerstören. Damit befindet sich Amlo in einer Reihe mit Donald Trump oder Jair Bolsonaro, dem Präsidenten Brasiliens. Sie alle negieren die globale Erwärmung, die Umweltschäden und die Rechte der indigenen Völker.

Gefahr für Madre Tierra

Die gigantomanischen Projekte von Amlo betreffen hauptsächlich die Schaffung von Infrastrukturen für den Güterverkehr und die Steigerung der Energieerzeugung: der Bau einer Raffinerie im Bundesstaat Tabasco; der Plan Integral Morelos im Bundesstaat Morelos, der zwei thermoelektrische Kraftwerke beinhaltet, die durch eine Gasleitung verbunden sind, die unter den Hängen des Vulkans Popocatépetl und durch rund sechzig bäuerliche Gemeinden verläuft und mit dem Bau mehrerer Autobahnen und eines Aquädukts verbunden ist; des weiteren der Corredor Transistmico, der die Modernisierung von zwei Häfen und Bau einer Eisenbahn vorsieht, die den Atlantik mit dem Pazifik verbindet, das Land in zwei Teile teilt und durch Gebiete führt, in denen die indigene Bevölkerung konzentriert ist; und schliesslich der Tren Maya (Maya-Zug), eine 1‘500 Kilometer lange Eisenbahnstrecke, welche die wichtigsten archäologischen Stätten und natürlichen Reichtümer der Maya in fünf Bundesstaaten verbindet. Als Sprungbrett zur Ankurbelung der Wirtschaftstätigkeit im Süden Mexikos wird er von verschiedenen Extraktionsprojekten und grossen touristischen Infrastrukturen begleitet, welche die Ökosysteme – dies wird die grösste Fläche des tropischen Regenwaldes in Mittelamerika betreffen – sowie das Funktionieren, das Gleichgewicht und die Autonomie der bäuerlichen indigenen Gemeinschaften bedrohen. Der Name des Projekts selbst ist schon eine Beleidigung dieser Völker und ihrer lebendigen Kultur, die hier auf eine exotische Inszenierung und käufliche Attraktion reduziert wird – so wie das Pseudo-Ritual bei der Einweihung im Dezember 2018, als, nur wenige Kilometer von dem Caracol Roberto Barrios (autonomes zapatistisches Gebiet) entfernt, Amlo die Erlaubnis von Madre Tierra für das Mega-Projekt erbat. Es ist, als hätte er gesagt: «Gib mir bitte die Erlaubnis, Mutter Erde, die Ureinwohner·innen zu vernichten», kommentierten die Zapatist·inn·en wütend. Unter die Simulierung des Schutzes der Mutter Erde können wir den Vorschlag für die Umgestaltung der Bergbautätigkeit einreihen. Die derzeitigen Konzessionen (viele von ihnen sind für kanadische Firmen) decken inzwischen ein Drittel des Landes ab. Der Plan der Regierung ist nicht, die Ausbeutung der Minen zu begrenzen, sondern sicherzustellen, dass die Unternehmen «Sozial- und Umweltverträglichkeitsstudien und vorherige Konsultationen durchführen» (was auf die Absicht hinweist, neue Minen zu eröffnen), ökologische Standards einhalten und Lizenzgebühren nach den genutzten Flächen und nicht etwa nach den geförderten Mengen bezahlen (was völlig ambivalent ist).

In der Falle der Schein-demokratie

Und was die vielbeschworene Achtung der indigenen Völker betrifft, so können wir die Scheinkonsultationen erwähnen. Gemäss dem Abkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) und der von Mexiko ratifizierten UNO-Erklärung über indigene Völker haben diese das Recht, sofern sie von einem Projekt betroffen sein könnten, im Voraus informiert und konsultiert zu werden. Aber das ist alles sehr theoretisch. Es gab noch nie ein festgelegtes Protokoll, um diesen Konsultationsprozess zu regeln, genauso wenig wie die Achtung der Meinungen, Kritiken, Vorschläge oder Widersprüche, die von der Bevölkerung vorgebracht wurden. Letztendlich ist es doch der Staat, der die Entscheidung trifft. Und dieser berücksichtigt keineswegs das kollektive Wesen der indigenen Gemeinschaften, welches immer noch nicht rechtlich verankert ist, obwohl diese Anerkennung eine Hauptforderung der indigenen Völker darstellt. Und schlimmer noch, diejenigen, die gegen die Projekte Einwände haben und versuchen, ihre Rechte zu verteidigen, werden regelmässig bedroht und kriminalisiert. Dadurch wird die Konsultation zu einer Falle. In der Kontinuität einer kolonialen Beziehung zu den indigenen Territorien und ihren Einwohner·in-ne·n sind die Projekte von Amlo invasiv und gründen auf Ausbeutung und nicht etwa auf einer Entwicklung in Symbiose mit all dem, was bereits vorhanden ist. Der «transistmische Korridor» ist typisch dafür – mit enormen Auswirkungen auf ein sehr grosses Gebiet.

Grüne Entwicklung und Militarisierung

Schliesslich bietet einer der wenigen Vorschläge, der sich an Kleinbäuerinnen und -bauern richtet und sich soziale, ökologische und kulturelle Verantwortung auf die Fahnen geschrieben hat, ein Beispiel dafür, wie die indigenen Gemeinschaften unter dem Deckmantel der «grünen Entwicklung» zerstört werden sollen. Das Programm «Leben säen» zielt darauf ab, im Laufe von sechs Jahren auf einem Gebiet von einer Million Hektar Bäume zu säen, um später den Wald nutzen zu können, in Verbindung mit Flächen für den Gemüseanbau, mit dem Ziel, «die ländliche Armut und Umweltzerstörung zu bekämpfen, die Gemeinschaften zu regenerieren und die lokale Wirtschaft zu reaktivieren». Im Jahr 2007 startete Präsident Felipe Calderon ein ähnliches Projekt namens ProÁrbol, das Greenpeace fünf Jahre später als Propagandamaske mit enormer Geldverschwendung und einer minimalen Überlebensrate für die Baumplantagen bezeichnete. Dies wirft kritische Fragen über das Amlo-Projekt auf. Denn es reicht nicht aus, auf den geschädigten Böden einfach auszusäen, sondern es ist notwendig, diese zuerst vorzubereiten und dann die Pflanzen in einer lokalen Land- und Forstwirtschaft in einem langfristigen und integrierten Programm zu erhalten. Einige Beobachter·innen weisen bereits auf mehrere Probleme hin: Das Projekt erscheint zu ehrgeizig in Bezug auf die Zeit, die für seine Durchführung zur Verfügung steht; es gibt keine Überwachung, die geplant ist, um die Auswirkungen auf die Umwelt zu beobachten und diese mit der Frage des Klimawandels zu verbinden; es gibt keine Folgemassnahmen für die Vermarktung des Holzes und der Ernten; und insbesondere das Programm, das von einem technischen Team überwacht wird, betrachtet Gemeindeversammlungen nicht als Gesprächspartnerinnen. Es ist geplant, jedem Teilnehmer und jeder Teilnehmerin individuell ein Monatsgehalt mit einem Kreditkartensystem zu bezahlen. Es genügt, seine Volljährigkeit nachzuweisen und die Disponibilität von 2,5 Hektar Land für die Aussaat. Dieses Vorhaben wird zu einer Neukonfiguration der traditionellen kollektiven Organisationspraktiken führen.3 Diese Politik, die wieder einmal die Gemeinschaftssysteme leugnet, birgt die Gefahr, die Gemeinschaften zu spalten und eine Atmosphäre zunehmender Konflikte zu schüren, die dann häufig zur Rechtfertigung der weiteren Militarisierung genutzt wird. Amlo hat bereits eine Nationalgarde geschaffen, die angeblich «eine Institution zivilen Charakters und von ziviler Ausrichtung» sein soll. Tatsächlich steht sie aber unter der Leitung und Autorität der Landesverteidigung, der Marine und der Bundespolizei. In der vom Parlament und vom Senat verabschiedeten Bestimmung gibt es keine klaren Grenzen für die Rolle, die sie einnehmen soll. Jedenfalls könnte die Entwicklung dieser Nationalgarde eine Erhöhung und Beschleunigung der Präsenz von Waffen in den Dörfern bedeuten, indem junge Menschen aus der Bevölkerung direkt vor Ort rekrutiert würden, wo sich bereits militärische und paramilitärische Kräfte vermischen sowie alle Arten von Interessen für die Nutzung und Ausbeutung der ländlichen Gebiete. Jetzt, da wir all diese Informationen haben, können wir die folgende Reaktion der Zapatist·inn·en gut verstehen: «Heute, am 1. Januar 2019, wollen wir uns zum 25. Jahrestag unseres bewaffneten Aufstandes vom 1. Januar 1994 zu Wort melden. Trotz aller ideologischen, politischen, wirtschaftlichen, militärischen und paramilitärischen Bedrohungen möchten wir euch erneut sagen, dass wir hier sind, um die Autonomie für das Leben unserer Völker weiter zu entwickeln: hier in den zapatistischen Dörfern, die von den Räten der guten Regierung und den aufständischen autonomen zapatistischen Gemeinden regiert werden, wo es keinen Platz für Demütigung, Manipulation, Täuschung, Lügen oder Scheinkonsultationen gibt. Deshalb werden wir kein Projekt zulassen, welches das Leben der Menschheit zerstören will und zum Tod unserer Mutter Erde führen wird, denn hinter all den Machenschaften stehen die Interessen der grossen nationalen und internationalen Kapitalisten. Egal wie sehr sie auch versuchen, uns mit all ihren repressiven Kräften, wie zum Beispiel mit der Nationalgarde, zu demütigen, wir werden nicht aufhören, unsere Mutter Erde zu verteidigen, denn in ihr wurden wir geboren, in ihr leben wir, und in ihr werden wir sterben. In diesem Land der rebellischen Männer und Frauen müsst ihr wissen, dass wir uns nicht ergeben, dass wir uns nicht verkaufen, dass wir nicht nachgeben werden und dass wir nicht das Blut, das Leben und den Tod unserer Kameraden und Kameradinnen, die im Laufe unseres Kampfes gefallen sind, verraten werden.»4 In diesem August zeigten die Zapatist·inn·en erneut ihre Beharrlichkeit und Vitalität. Sie kündigten in einer Erklärung die Schaffung weiterer autonomer Gemeinden und die Gründung neuer Caracoles5 an, in denen zukünftig verschiedene Treffen stattfinden sollen, über die wir bald berichten werden.

  1. Rede von Kommandant Moises, EZLN,
  2. Dezember 2018
  3. Las indígenas buscan respuestas anticapitalistas, Gloria Muñoz Ramírez - La Jornada, 3. August 2019
  4. Sembrando vida, virtudes y riesgos de un programa visionario, Raul Benet, Onlineartikel, auf verschiedenen Plattformen zu finden.
  5. Geheimes indigenes revolutionäres Komitee, Generalkommando der zapatistischen Armee der nationalen Befreiung EZLN, 1. Januar 2019
  6. Caracoles sind zapatistische Regierungszentren.