MAROKKO/SPANIEN: Massaker am Grenzzaun

von Marie-Pascale und Theo, EBF, 16.10.2022, Veröffentlicht in Archipel 318

Die «Association marocaine des droits humains» (AMDH) von Nador (1) hat eine genaue Untersuchung über das tödliche Drama vom 24. Juni 2022 vor der spanischen Enklave Melilla veröffentlicht.(2) Dieser Rapport sowie Zeugenaussagen, die ein Freund des Europäischen BürgerInnen Forums in Tanger, Rabat und Nador in der Woche nach den Ereignissen gesammelt hat, bilden die Grundlage dieses Artikels.

Wut und Trauer überkommen uns, wenn wir an das Drama denken, das am 24. Juni 2022 am Grenzübergang Bario Chino zwischen Nador in Marokko und der spanischen Enklave Melilla stattgefunden hat. 27 Migranten kamen dabei ums Leben, unzählige wurden verletzt, 64 Personen werden bislang noch vermisst und Hunderte sind abgeschoben worden – all dies aufgrund einer beispiellosen Repression der marokkanischen Ordnungskräfte mit der Komplizenschaft ihrer spanischen Kollegen. Nach der Beilegung ernster Unstimmigkeiten (3) hatten die beiden Länder bei einem bilateralen Treffen im Mai 2022 die gemeinsame Bekämpfung der sogenannten illegalen Migration und der Schleppernetzwerke beschlossen. Die Tragödie von Bario Chino ist in diesem Kontext zu sehen.(4)

Die Vorgeschichte

Nach der Normalisierung der Beziehungen zwischen Marokko und Spanien vervielfachten die marokkanischen Ordnungskräfte ihre Angriffe auf die Migrant·inn·en im Land. Diese polizeilichen Aggressionen fanden auf dem gesamten Territorium Marokkos, aber insbesondere auf den Gurugu-Bergen statt, die sich über der Stadt Nador und der Enklave Melilla erheben. Die ständigen Repressalien konnten einen Teil der Migrant·inn·en um 20 Kilometer von dem Grenzzaun vor Melilla zurückdrängen. So gingen die Anstürme der Exilierten gegen die Barrieren der Festung Europa erst einmal zurück. In dieser Zeit waren alle Kategorien der marokkanischen Repressionskräfte mobilisiert: Gendarmerie und mobile Polizei sowie Agenten und Hilfskräfte der Behörden unter der persönlichen Aufsicht des Gouverneurs von Nador. Die gewalttätigsten Angriffe auf die Lagerstätten der Migrant·inn·en wurden am 23. Mai und zwischen dem 17. und 23. Juni registriert. Hier ist zu sehen, dass Marokko perfekt seine Rolle als Gendarm an der Grenze zu Europa spielt, sofern gewisse Forderungen des Königreichs, wie z.B. nach mehr Geld, von der EU berücksichtigt werden.

Vor allem die arabischsprachigen Geflüchteten aus dem Sudan und Südsudan, aus Eritrea und dem Tschad sahen sich mit diesem beispiellosen Anstieg der Repression konfrontiert. Etwa zwei Drittel der 1500 Menschen, die am 24. Juni 2022 den Grenzübergang Bario Chino stürmten, waren junge Männer aus Ostafrika. Die meisten von ihnen hatten sich vier bis fünf Jahre zuvor auf den Weg gemacht, um ein Leben abseits der Kriege und Verwüstungen zu suchen oder um sich der Zwangsarbeit und dem obligatorischen Militärdienst zu entziehen. Als sie nach Marokko gelangten, hatten sie bereits in Libyen die Hölle durchlebt. Dort waren sie von bewaffneten Milizen verfolgt und eingesperrt worden. Viele ihrer Familien hatten keine andere Wahl, als ihr Hab und Gut zu verkaufen, um das Lösegeld für die Rettung ihrer Söhne oder Töchter zu bezahlen. Die in Marokko Angekommenen waren von der Hoffnung getrieben, bei den UNHCR-Vertretungen im Königreich Gehör zu finden und ein wenig Würde zurückzugewinnen.

Trotz der Dokumente des UNHCR, die für die Menschen aus dem Sudan, dem Tschad und aus Eritrea ausgestellt wurden und deren Asylantrag belegten, erhielten sie nicht den Schutz, den sie sich erhofft hatten. Stattdessen wird ihnen das Leben schwer gemacht, genauso wie den westafrikanischen Subsahara-Afrikaner·inne·n, die sich bereits seit zwei Jahrzehnten niedergelassen haben. So müssen sie beispielsweise das Doppelte des üblichen Preises bezahlen, um ein schäbiges Zimmer mieten zu können. Die meisten von ihnen sind gezwungen, auf der Strasse oder in den Wäldern zu überleben. Schnell mussten sie feststellen, dass auch in Marokko Gewalt gegen Menschen mit schwarzer Hautfarbe ausgeübt wird. Aboubakr Hassan, ein 27-jähriger Sudanese, erzählt: «Wir haben hier keine Sicherheit gefunden; die Marokkaner sind in der Nacht mit Messern gekommen und haben uns das Geld und die Telefone weggenommen. Wir hatten Angst, deshalb mussten wir weiter. Wir wollten nach Melilla. Wir sagten uns alle, dass wir uns auf dem Berg El Marug treffen würden, doch selbst dort haben sie uns nicht in Ruhe gelassen. Sie kamen jedes Mal, um uns anzugreifen und zu schlagen.»

Repression, Widerstand, Aufbruch

Im Juni strömten dann Hunderte von Migrant·inn·en in die Gurugu-Berge, insbesondere aus der arabischsprachigen Gemeinschaft. Die verschiedenen marokkanischen Polizeieinheiten unter der Aufsicht des Gouverneurs von Nador setzten alles daran, sie zu vertreiben. Sie suchten sogar mehr als zwanzig Kilometer vom Grenzzaun entfernt nach ihnen und setzten Drohnen und Hubschrauber ein, um die Lagerstätten aufzuspüren. Bei diesen Angriffen jagte die Polizei die Exilierten in dem steilen Gelände und zerstörte alles, was diese auf ihrer Flucht nicht mitnehmen konnten. Mit geschwollener Lippe und einer Verletzung auf der Stirn berichtet Maluat Majiir John aus dem Südsudan von den Tagen vor dem versuchten Durchbruch in Bario Chino: «Sie haben uns angegriffen, wir rannten, und am selben Tag wechselten wir von einem Berg zum anderen, dann griffen sie uns wieder an. (Er zeigt seine Wunde im Gesicht): Ich habe das von dort, sie schossen auf mich mit einer kleinen Pistole, die auf Arabisch ‹Buban› genannt wird.» Doch zum ersten Mal begannen die Verfolgten gegen diese alltäglichen Schikanen Widerstand zu leisten. Der 14-jährige Abdelziz Mohamat Ismail aus dem Tschad berichtet: «Einige haben gesagt: Wir dürfen nicht mehr einfach weglaufen; wenn wir weglaufen, geht alles verloren. Also haben wir uns ein Herz gefasst und uns gegen sie gestellt. Als wir uns gewehrt haben, gab es viele Verletzte.» Zwischen dem 17. und 20. Juni kam es zu einer Konfrontation zwischen den Geflüchteten der subsaharischen arabischsprachigen Gemeinschaft und den Ordnungskräften. In Tränengas-Wolken antworteten Steine auf Gummigeschosse und Schrotpistolen. Es gab Verletzte auf beiden Seiten.

Nach Angaben der «Association marocaine des droits humains (AMDH)» war jedoch der 23. Juni der härteste Tag. Die Auseinandersetzungen dauerten den ganzen Tag an, bis die Migranten sich auf einen anderen Berg zurückzogen. Am Morgen des 24. Juni, ihrer Überlebensmöglichkeiten im Wald beraubt und in die Enge getrieben, bewaffneten sich die knapp 1000 Ostafrikaner mit Stöcken und Steinen, bevor sie den Berg in Richtung Grenze verliessen. Ihnen schlossen sich andere Migranten u. a. aus Burkina Faso, Guinea und Senegal an. So machten sich etwa 1500 Menschen auf den Weg zum Grenzübergang Bario Chino vor Mellila. Obwohl deren Bewegungen offensichtlich überwacht wurden, zogen es die marokkanischen Polizeikräfte vor, nicht einzugreifen, bevor die Menschenmenge den Zaun erreicht hatte. An diesem Tag gab es keine Zusammenstösse, und die Stöcke und Steine wurden vor dem Ansturm zurückgelassen.

«Sie schlugen uns bis es Tote gab»

Erst gegen 10.30 Uhr, einige Minuten nachdem die Menge begonnen hatte, den Zaun zu überwinden, griffen die Polizeikräfte ein – und zwar mit extremer Brutalität. Die Gewalt richtete sich vor allem gegen die mehreren hundert Migranten, die den Grenzposten erreicht hatten und auf der ersten Linie der Zäune sassen. Auf den von der AMDH verbreiteten Videos ist zu sehen, wie die Gruppe, die versuchte, die Tore und Drehkreuze des Grenzübergangs zu durchbrechen, mit Steinen, Gummischrot und Tränengas beschossen wurde. In dieser Atmosphäre, unter den Geschossen sowohl des marokkanischen Königreichs als auch des spanischen Staates, kam es zu Rempeleien und einer Art Massenpanik. Die Behörden führten die 23 toten Migranten, die sie am Tag nach der Tragödie eingestehen mussten, auf diese Tatsache zurück. Die Zeugenaussagen und Bilder lassen jedoch Zweifel an dieser Version aufkommen. Als die marokkanischen Beamten nach ihrem einstündigen Beschuss der Menge das Gelände des Grenzübergangs betraten, misshandelten sie die Menschen auf grausamste Weise. Sie schlugen mit Schlagstöcken auf jeden ein, der es noch wagte, ein Lebenszeichen von sich zu geben; sie traten die wehrlosen Körper, die nach Luft schnappten, schleiften und stapelten sie dann wie leblose Materie zusammen. Da lagen sie: blutverschmiert, übereinandergeworfen oder ineinander verschränkt, ohne zwischen Lebenden und Toten unterscheiden zu können.

Die spanische Guardia Civil, als Komplizin dieses brutalen Einsatzes, übergab den marokkanischen Grenztruppen etwa 100 Geflüchtete, die gerade den Zaun überwunden hatten. Diese Abschiebungen beraubten die Schutzsuchenden ihres Rechts auf Asyl. Nur 130 der 1500 Exilierten schafften es, das Aufnahmezentrum in Melilla zu erreichen. Der Geflüchtete Ahmad Abdalh Ahmad berichtet: «In Wirklichkeit war das keine Schlacht, es wurde gesagt, es sei eine Schlacht, aber es war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ein grausames Massaker. Wir haben uns nur versammelt, um uns zu verteidigen. Wenn wir uns gewehrt haben, dann für ein bestimmtes Ziel, es ging um unsere Zukunft und unsere Sicherheit. Es war keine Schlacht, um den Zaun zu schützen; wenn es eine Schlacht war, dann, um Menschen zu töten.»

Der 14-jährige Abdelziz Muhamat aus dem Tschad hat nur knapp überlebt: «Die Spanier fingen uns und übergaben uns an die Marokkaner. Sobald die Marokkaner uns hatten, schlugen sie uns, sie schlugen uns auf eine sehr seltsame Art und Weise; sie schlugen uns bis es Tote gab. Drei Menschen sind neben mir gestorben, einer war auf mich gefallen, und die Polizei hat ihn weggeholt. Ich wurde zu den Toten geschleppt, aber ich habe überlebt.»

Schlussfolgerungen

Die AMDH beklagt das lange Warten der Überlebenden auf medizinische Versorgung und beschuldigt sowohl Marokko als auch Spanien der «unterlassenen Hilfeleistung». Die Ambulanzen, die gegen 11.30 Uhr mobilisiert wurden, waren zunächst gekommen, um die Toten wegzubringen. Erst viel später wurden Verletzte evakuiert; die letzte Fahrt fand gegen 21 Uhr statt. Stundenlang lagen die Menschen in der prallen Sonne, und es waren einzig die Polizeikräfte, welche die Verletzten entweder zu den Bussen für deren Abschiebung brachten oder zu den Krankenwagen, die zum Hassani-Krankenhaus in Nador fuhren. Die internationalen Institutionen haben nie eine unabhängige Untersuchungskommission entsandt, obwohl verschiedene Menschenrechtsorganisationen dies gefordert hatten, und die europäischen Medien haben nur kurz und völlig ungenügend über die Ereignisse berichtet. Umso wichtiger ist der Untersuchungsbericht der AMDH von Nador. Er hilft uns, die Hintergründe der Tragödie am Grenzübergang Bario Chino zu verstehen. Er stützt sich auf übereinstimmende Aussagen von zurückgewiesenen und abgeschobenen Überlebenden sowie auf die Beobachtungen von zivilgesellschaftlichen Hilfsinitiativen in Nador.

Die Versuche der Migrant·inn·en, die einzige Landgrenze zwischen dem afrikanischen Kontinent und Europa zu überqueren, waren seit 2015 drastisch zurückgegangen – zweifellos aufgrund der Verstärkung der Barrieren, welche die Grenze ausmachen: ein dreifacher Zaun von mehr als 6 Metern Höhe, dazwischen eine Grube; dazu kommt der Einsatz von unterirdischen Sonden und von Drohnen in der Luft. Die Abschiebungen von der spanischen Seite aus wurden im Frühjahr 2021 wieder aufgenommen, als Marokko 10.000 Migrant·inn·en absichtlich passieren liess und damit menschliche Existenzen als Erpressungsobjekt einsetzte. Bis zum ersten Quartal 2022 wurden die Aufenthaltsorte der Migrant·inn·en in den Wäldern kaum gestört, und die Anstürme auf Melilla fanden weniger Widerstand, wie es drei von ihnen am 2., 3. und 8. März 2022 gezeigt haben. Damals konnten immerhin 900 von 2500 Geflüchteten nach Spanien gelangen.

Die Tragödie vom 24. Juni 2022 ist offensichtlich das Ergebnis einer abrupten Kehrtwende in der marokkanischen Flüchtlingspolitik nach der Beilegung von Konflikten mit Spanien. So kam es zum Höhepunkt der Gewalt, die im zweiten Quartal 2022 in den Bergen von Nador mit aller Härte gegen die Exilierten eingesetzt wurde. Diese unerträgliche Situation für die Geflüchteten führte zu einem entschlossenen Ansturm auf den Zaun als einzige Hoffnung, die unmenschlichen Lebensbedingungen verlassen zu können. Darüber hinaus scheinen die zuvor aufgetretenen gewalttätigen Zusammenstösse bei den Polizisten einen besonderen Hass geschürt zu haben. Denn diese waren schon tagelang unterwegs auf der Jagd nach den Migranten, die ihnen jedoch gleichzeitig und zum ersten Mal die Stirn boten. Der Wunsch, die Rebellion definitiv niederzuschlagen, war vermutlich einer der Hauptgründe für die extreme Brutalität, welche die marokkanischen und spanischen Ordnungskräfte an den Tag legten. Doch jede Revolte gegen das unmenschliche Grenzregime der Festung Europa ist legitim. Sie wird nicht die letzte sein.

Marie-Pascale und Theo

  1. Marokkanische Vereinigung für Menschenrechte von Nador

  2. «La tragédie au poste frontalier de Bario Chino, un crime ignoble des politiques migratoires européennes espagnoles et marocaines», AMDH Nador, 20. Juli 2022; dt.: Die Tragödie am Grenzübergang Bario Chino, ein schändliches Verbrechen der europäischen, spanischen und marokkanischen Migrationspolitik

  3. Brahim Ghali, der Polisario-Chef und Erzfeind von Marokko, wurde in Spanien medizinisch versorgt. Dies führte zu einer temporären Abkühlung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern.

  4. Siehe auch Archipel Nr. 316, Juli/August 2022