Vor 60 Jahren, in der Nacht zum 17. Jänner 1961, wurde Patrice Lumumba ermordet. Nur ein knappes Jahr zuvor war er – nach fast 80 Jahren brutaler Kolonialherrschaft – zum ersten Premierminister des Kongo gewählt worden. Bis heute gilt er als einer der wichtigsten Freiheitshelden. Sein tragischer Tod in der Ära der Dekolonisierung der 1960er Jahre markiert eine Zäsur in der jüngeren afrikanischen Geschichte. 1. Teil (1)
Lumumba wurde unter aktiver Mitwirkung der ehemaligen Kolonialmacht Belgien und verschiedener westlicher Geheimdienste gefoltert und hingerichtet. Um jegliche Erinnerung an ihn zu unterdrücken, vernichteten belgische Polizisten seine Leiche. Der Mord an Lumumba bleibt bis heute ungesühnt. Keiner der Drahtzieher, keiner der Geheimdienste, keiner der beteiligten Staaten, keiner der Mörder kam je vor Gericht.
Nach dem kurzen Aufbruch in Unabhängigkeit, Frieden und Prosperität folgten Jahre des Krieges und viele Jahrzehnte der Diktatur, toleriert und unterstützt vom Westen. Für Befreiungsbewegungen rund um den Globus wurde Lumumba in besonderem Masse beispielgebend: Seine Ermordung gilt bis heute als Symbol für koloniale und neokoloniale Unterdrückung, sein Erbe als Versprechen auf zukünftige Emanzipationsbestrebungen.
Die Zeit vor der Unabhängigkeit
Das Jahr 1885 markierte einen brutalen Einschnitt in die Geschichte des Kongo: Damals fand die Berliner Afrika-Konferenz statt, bei der sich die damaligen Kolonialmächte grosse Teile des Kontinents praktisch untereinander aufteilten. König Leopold II von Belgien gelang es, sich den Kongo als Privatbesitz anzueignen und mit der Ausbeutung von Kautschuk astronomische Profite zu erzielen. Laut Adam Hochschild, dem Verfasser des Buches „Schatten über dem Kongo“, fielen dem Terror von König Leopold zwischen acht und zehn Millionen Menschen zum Opfer. Im Jahr 1905 wurde der Kongo zur offiziellen belgischen Kolonie. Dem vorangegangen war eine Skandalisierung der Verbrechen von König Leopold II, die oft als die erste internationale Menschenrechtskampagne bezeichnet wird. Doch auch unter offizieller belgischer Kolonialherrschaft ging die Ausbeutung der Ressourcen des Landes unvermindert weiter.
Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Unabhängigkeitsbewegungen überall auf dem Kontinent immer mehr Zulauf gewinnen, sticht im Kongo vor allem ein Mann hervor: Patrice Emery Lumumba, Mitgründer des „Mouvement National Congolais“, der Nationalbewegung des Kongo. Geboren am 2. Juli 1925 in der Provinz Kasai, ist er zunächst Postbeamter und Gewerkschafter. Schnell macht er sich als talentierter und charismatischer Redner einen Namen. Er spricht sich für einen geeinten Kongo jenseits von ethnischen Barrieren aus und ist ein vehementer Gegner der Kolonialherrschaft. Im Dezember 1958 reist er in die ghanaische Hauptstadt Accra zur „All-African Peoples' Conference“, einer grossen Panafrikanischen Konferenz, an der auch Frantz Fanon teilnimmt. Im Gegensatz zu anderen Parteiführern strebt Lumumba nicht nur die formelle Unabhängigkeit an, sondern will das Land auch in die wirtschaftliche Unabhängigkeit führen.
Im Jänner 1959 kommt es in der Hauptstadt Leopoldville, dem heutigen Kinshasa, zu Massendemonstrationen gegen die Kolonialherrschaft, die blutig niedergeschlagen werden. Die Unruhen breiten sich in die ländlichen Gebiete aus und erfassen das ganze Land. Im April ruft Lumumba die politischen Parteien des Kongo zu einem Kongress in Luluabourg, dem heutigen Kananga, zusammen. Mittlerweile ist auch den Belgier·inne·n klar: Die Unabhängigkeit des Kongo lässt sich nicht länger hinauszögern. So beginnen am 20. Januar 1960 in Brüssel die Unabhängigkeitsverhandlungen – zunächst ohne Lumumba; der sitzt wegen so genannter „antikolonialer Umtriebe“ im Gefängnis. Doch die kongolesischen Delegierten solidarisieren sich mit ihm und fordern seine Befreiung. Die Kolonialregierung lenkt ein, er kommt nach Brüssel – mit noch verletzten Handgelenken. So kann er am berühmten „table ronde“, den Verhandlungen am „Runden Tisch“, teilnehmen. Die kongolesischen Delegierten agieren geschlossen, Belgien gibt dem Druck nach: Am 30. Juni 1960 soll der Kongo unabhängig werden. Nach Beendigung der Verhandlungen finden am 25. Mai 1960 im Kongo Parlamentswahlen statt, von denen Lumumbas Partei MNC als Sieger hervorgeht. Kurz vor den Unabhängigkeitsfeiern sagt Lumumba zu einem Freund: „Endlich werde ich mich ausruhen.“ Er sollte sich auf tragische Weise irren...
Der Tag der Unabhängigkeit und die Rede Lumumbas
- Juni 1960, Palais de la Nation, Léopoldville. Die Kongolesinnen und Kongolesen feiern die Unabhängigkeit, müssen aber die arrogante und herablassende Rede des belgischen Königs Baudouin, Onkel des heutigen Königs Philippe, hören, in der er die angeblichen Wohltaten von König Leopold II rühmt. Kein Wort zu den unvorstellbaren Gräueltaten an der kongolesischen Bevölkerung, kein Wort zu den Millionen Opfern von Ausbeutung und Unterdrückung. Ein Schlag ins Gesicht der Kongoles·inn·en. Während der König spricht, notiert Patrice Lumumba in Windeseile eine Rede. Ohne dass es im Protokoll vorgesehen wäre, ergreift er das Wort. Was dann folgt, ist eine spektakuläre Abrechnung mit Belgien und ein flammendes Bekenntnis zur Überwindung der Kolonialherrschaft. König Boudoin ist erzürnt. Obwohl Lumumba beim Empfang, der auf die offizielle Zeremonie folgt, eine zweite, viel versöhnlichere Rede hält, bahnt sich bereits zu diesem Zeitpunkt an, dass die ehemalige Kolonialmacht brutal zurückschlagen wird. Denn allen ist klar: Lumumba schickt sich ernsthaft an, der Ausbeutung des Kongo ein Ende zu bereiten. Ein Schreckensszenario für Belgien, für die mächtige Bergbauunion „Union Minière“ und die Konzessionäre... Der kongolesische Autor und Aktivist Emmanuel Mbolela erklärt: „Die Kolonialmächte wussten, dass es für sie nicht mehr möglich sein würde, sich ohne Wenn und Aber den Ressourcen des Landes zu bedienen, wenn Lumumba an der Spitze des Staates stünde. Sie wussten, dass Lumumba alle bisherigen Wirtschaftsbeziehungen neu verhandeln würde. Das war inakzeptabel, denn das hätte die Entwicklung Europas viel zu sehr gebremst.“
Nur zwei Tage nach den Unabhängigkeitsfeiern erheben sich die Soldaten in Leopoldville gegen das belgische Offizierskorps. Neben Lohnerhöhungen fordern sie, dass die Spitze des Militärs, das ausschliesslich aus Belgiern besteht, ebenfalls entkolonialisiert wird. Es kommt zu Morden an weissen Siedler·inne·n und zu einem Exodus der Belgier·innen. Die Lage spitzt sich immer mehr zu. Gegen den Widerstand der kongolesischen Regierung landen belgische Truppen im Kongo. Am frühen Morgen des 10. Juli 1960 steigen vom Luftstützpunkt Kamina Maschinen der belgischen Luftwaffe auf, über Luluabourg werden Fallschirmspringer abgesetzt. Belgische Soldaten entwaffnen unter Zwang kongolesische Militärangehörige.
Doch es kommt noch schlimmer: Moishe Tschombé, Präsident der Provinz Katanga, erklärt an diesem Tag die Abspaltung des riesigen und rohstoffreichen Landesteils. In seinen separatistischen Bestrebungen wird er augenblicklich von Belgien unterstützt. Die belgische Presse giesst Öl ins Feuer und diskreditiert Lumumba. Er sei ein Kommunist und trage Schuld an den Aufständen in der Bevölkerung und in der Armee. In kolonialer und rassistischer Manier schreibt die Presse: „der Urwaldpolitiker“, „Poltergeist Lumumba“, „halb Scharlatan, halb Missionar“ – ein Schock nach dem Erfolg der Verhandlungen in Brüssel vom Frühjahr.
Alexander Behr, EBF Wien
- Im 2. Teil, der in der nächsten Archipel-Ausgabe erscheint, geht es um die letzten Monate vor dem gewaltsamen Tod Lumumbas, um die Zusammenarbeit zwischen den belgischen und amerikanischen Geheimdiensten mit dem zukünftigen Diktator Mobutu, um die weltweiten durch die Ermordung Lumumbas ausgelösten Proteste und schliesslich um das Erbe Lumumbas und den Bezug zu „Black Lives Matter“.