Lebendige Wälder oder Waldwüsten

von Nick Bell, EBF, 10.03.2020, Veröffentlicht in Archipel 290

Unter diesem Titel fand am 23. und 24. Oktober 2019 auf der «Domaine de Villarceaux» in der Nähe von Paris die nationale Tagung von SOS-Forêt (SOS-Wald) statt – in einem entscheidenden Moment der Neuorientierung für die Zukunft der Wälder in Frankreich. 2. Teil. Es ist ein echter Kampf, wie wir unsere Wälder in Zukunft bewirtschaften sollen. Welche Bewirtschaftungsmethode und welche Bestände werden die beste Kohlenstoffbilanz gewährleisten und damit zur Minderung der globalen Erwärmung beitragen? Das Problem ist, dass es in dieser Hinsicht weder innerhalb der Försterkreise noch bei Forscher·inne·n und politischen Entscheidungs-träger·inne·n einen Konsens gibt. In Frankreich binden die Wälder derzeit rund 20 Prozent der Treibhausgas-Emissionen. An der SOS-Forêt-Konferenz stellte Gaëtan du Bus (Wissenschaftler und unabhängiger Forstexperte in der Region Aude und Initiator des RAF: Netzwerks für Alternativen in der Forstwirtschaft)1 seinen Bericht «Waldbewirtschaftung und Klimawandel» vor, der im Dezember von den Vereinen Canopée und Fern2 veröffentlicht werden soll. Eines der Hauptziele dieses Berichts ist es, eine wissenschaftliche und fundierte Antwort auf eine im Juni 2017 vom «Nationalen Institut für Agrarforschung» (INRA) veröffentlichte Studie3 zu geben. Die Berechnungen sind sehr komplex und für Normalverbraucher·innen schwer verständlich – glücklicherweise planen die Autor·inne·en eine zugänglichere Synthese dieser Antwort auf die von ihnen kritisierte INRA-Studie: «Diese INRA-Studie ist heute bei Behörden und Verwaltung massgebend. Sie kommt ihnen sehr gelegen, aber Umweltverbände und Pro Sylva finden wenig Gefallen daran und mir gefällt sie überhaupt nicht. Es werden drei Szenarien vorgestellt: Erstens, ein ‘Extensivierungs’- Szenario, d.h. grob gesagt, die ökologischen und sozialen Funktionen nehmen zu, wir reduzieren allmählich die Menge des geernteten Holzes, wir lagern mehr Holz in Wäldern, deren Bewirtschaftung nicht industrialisiert ist. Es gibt ein Szenario der ‘territorialen Dynamik’, bei dem jedes Gebiet die Richtung wählt, in die es sich bewegt. Jedes Gebiet arbeitet demnach dezentral nach eigenem Gutdünken. Und dann gibt es ein ‘Intensivierungs’- Szenario, das von einem klaren, staatlich subventionierten und gelenkten nationalen öffentlichen Willen getragen wird, der auf zwei Prinzipien beruht: einerseits brauchen wir mit der Energiewende mehr Holz für Material und Energie, und andererseits müssen wir schnell auf den Klimawandel reagieren».4

Nicht in Panik verfallen

Die Autoren des INRA-Berichts entscheiden sich eindeutig für dieses dritte Szenario. Für Gaëtan du Bus ist es «fraglich, wie sich dies in Zahlen ausdrückt: die tatsächlich geerntete Holzmenge und die Folgen für die Ökosysteme. Dies ist eine extrem pessimistische Sichtweise des Klimawandels. Es ist wahr, dass wir das Sterben von Wäldern miterleben. Ich befinde mich in einer Region, der Aude, die sehr stark dem Klimawandel ausgesetzt ist. Ich bewirtschafte viele Plantagen und Wälder in niedriger Höhe. Es ist hart, zusehen zu müssen, wie die Wälder verkümmern, aber im Laufe der Jahre habe ich mich daran gewöhnt zu erkennen, was wirklich verloren ist und was nicht, und nach Zeichen der Hoffnung zu suchen. Es gibt oft mehr Hoffnung als wir denken. Für mich ist es eine Form der Verschmutzung unserer Vorstellungskraft, wenn wir uns im Voraus vorstellen, dass der Wald sowieso sterben wird. Das ist es, was das INRA macht. Es stellt sich in ein Szenario des massiven Absterbens des französischen Waldes und erklärt, dass es, da sich dieses Absterben für alle Bestände beschleunigen wird, absolut notwendig ist, vorzugreifen und die bedrohten Wälder durch Aufforstung mit ausgewählten, angepassten Arten zu ersetzen, im irrationalen Glauben, dass der Mensch in der Lage ist, die genetischen Ursprünge der Arten auszuwählen, um mit Sicherheit davon ausgehen zu können, dass sie weniger bedroht wären als die vorhandenen Wälder». Vincent Magnet ist ebenfalls Forsttechniker und Mitglied des RAF. Er lebt auf dem Millevaches-Plateau im Limousin. «Ich weiss, dass die Natur eine Stärke und eine Erfindungsgabe hat, die wir bei Weitem nicht erreicht haben, und dass wir immer noch so anmassend sind, wieder einmal ein Problem lösen zu wollen, das wir selber geschaffen haben; wir glauben, wir seien klüger als die Ökosysteme. Wir müssen die Waldwelt noch beobachten und sie auf mehreren Skalen verstehen, vom Waldbestand bis zum Gebirgsmassiv. Jedenfalls gibt es keine Wunderholzart, im Gegensatz zu dem, was einige intensive Holzindustriebetreiber uns glauben machen wollen. Wir müssen uns daher mit dem Erbe der Vergangenheit auseinandersetzen, zu dem wir schliesslich einige Arten hinzufügen werden, die wir für angemessen halten, aber nicht in uniformer Weise.» Auch wenn Vincent Magnet einen Verlust an Waldkultur und Know-how feststellt, glaubt er, «dass wir dieses leicht zurückgewinnen könnten, falls die Wirtschaft und der Druck der Aktionäre des Holzmarktes und der Industrie uns die nötige Zeit dafür lassen. Das Hauptproblem ist, dass aus Zeitmangel alles zu stark vereinfacht wird. Wir lassen den Menschen nicht die Zeit, sich zu bilden und zu verstehen. Das Geschäft soll schnell abgewickelt werden, wir sollen drei Baumsorten produzieren, nicht fünfzehn, wir sollen pflanzen und nicht warten, bis die Natur ihre Arbeit tut. Für mich ist es das Wichtigste, sich Zeit zu nehmen und nicht in Panik zu verfallen.»

Der natürliche Mischwald

Am 3. November 2019, zehn Tage nach dieser Konferenz, organisierte die «Europäische Kooperative Longo maï» ein Treffen über den Wald in Basel. Zu den Referenten gehörte Ernst Zürcher, ein Schweizer Forstingenieur, Forscher und Professor, der sich auf zahlreiche Fragen rund um den Wald und die Eigenschaften des Holzmaterials spezialisiert hat. In seinem Vortrag erläuterte er den grundlegenden Unterschied zwischen einem echten Mischwald und einer Plantage: «Ein Wald, der sich natürlich regeneriert, der spontan wächst, wenn man ihm Raum gibt, schafft Waldassoziationen. Es handelt sich nicht um eine zufällige Mischung von Pflanzen. Es gibt Pflanzen, die sehr gut zusammenpassen und andere, die sich gegenseitig ausweichen. Dies wird Pflanzensoziologie genannt. Diese Wälder arbeiten auf eine äusserst interessante Weise. Unter der Erde befindet sich genauso viel Biomasse wie es sichtbare Biomasse gibt. Die Wurzeln, die lebende Materie, aber auch die Wurzeln, die absterben und die abgeworfenen Blätter, sind organische Materie, die sich zersetzt, die organisches Leben, Bakterien, Insekten und Pilze entstehen lässt. All dies funktioniert auf komplementäre Weise, nach dem Prinzip der Symbiose, der Synergie, die für das Bodenleben sehr wichtig ist. Bäume mit tiefen Wurzeln suchen bei schwierigem und trockenem Wetter in der Tiefe nach Wasser, man nennt dies den Wasserauftrieb. Sie bringen Wasser an die Oberfläche für ihre flacheren Wurzeln, und diese Wurzeln transpirieren. Es ist wie ein unterirdischer Regenfall, der den Boden befeuchtet und damit den Oberflächenwurzeln anderer Arten zugute kommt. Chemisch gesehen gibt es auch eine Komplementarität, die Chemie der Eiche zum Beispiel ist anders als die der Linde. Dennoch, müssen wir uns für die Plantagen interessieren und alles tun, um sie nach und nach und mit viel Geduld in Mischwälder zu verwandeln.» Bei seinem Vortrag in Basel verwies Zürcher auf ein Experiment, bei dem ein reiner Eichen-, ein reiner Linden- und ein gemischter Eichen- und Lindenbestand verglichen wurden. Das Ergebnis war für die beiden Arten viel besser, wenn sie gemischt wurden, wobei die Bäume zwischen 20Prozent und 30 Prozent grösser wurden als in einer Monokultur. «Was macht man mit einem reinen Stand? Die Isolierung einer Art trennt sie von allen möglichen Partnern, die bereit wären, mit ihr zu arbeiten. Man pflanzt sie an einem Ort zur gleichen Zeit. Diese Sämlinge werden ihre Wurzeln auf der gleichen Ebene haben und suchen das Gleiche am gleichen Ort, das gleiche Wasser, die gleichen Mineralsalze und Spurenelemente. Ein solcher monospezifischer Bestand ist programmiert an Mangelerscheinungen zu leiden, weil die Bäume alle dasselbe suchen müssen und nicht genug davon finden können. Ein solcher Wald ist programmiert zu verkümmern und krank zu werden, weshalb wir Dünger und Pestizide brauchen, damit er funktioniert. Denn diese Pflanzen haben nicht die Vitalität von Pflanzen in einem Mischwald. Hier haben wir ein System der Partnerschaft und Symbiose durch ein System des reinen Wettbewerbs ersetzt. Diese Plantagen leiden auch mehr unter Wasserstress, weil sie viel mehr um Wasser kämpfen als natürliche Wälder.»

Wiederaufforstungen

Angesichts des alarmierenden Ausmasses der Auswirkungen der globalen Erwärmung wurde nun festgestellt, dass selbst eine vollständige Einstellung der fossilen Brennstoffe nicht ausreichen wird, um den Temperaturanstieg auf weniger als 2°C zu begrenzen. Deshalb gibt es zahlreiche Pläne für eine massive Wiederaufforstung zur Erhöhung der Kohlenstoffbindung, die sich zum Teil auf die Billionen von Bäumen beziehen, die weltweit gepflanzt werden. Leider wird hier oft falsch informiert und wahllos gepflanzt. Viele Menschen werden durch Aufrufe zum Pflanzen von Bäumen animiert, wobei vergessen wird zu präzisieren, dass es vor allem darum geht, bestehende Mischwälder zu schützen und die Zerstörung von Wäldern zu verhindern. Hinter einigen Megaplantagenprojekten stehen multinationale Konzerne wie Total oder Shell, die riesige Flächen von Monokulturen mit möglichst kurzer Rotation anlegen, um den wachsenden Appetit des biomassebasierten Energiesektors zu befriedigen. Andere wiederum fördern Mischwälder, die mit landwirtschaftlichen Flächen durchsetzt sind. Ernst Zürcher: «In der Schweiz sind wir gesetzlich verpflichtet, den Wald als natürliches System zu bewirtschaften. Die Pflanzung wird durch das Forstgesetz überhaupt nicht gefördert. Das geerntete Holz wird zur Revitalisierung des Waldes verwendet. Ein natürlicher Wald, der dynamisch bewirtschaftet wird, indem er durch die Art der Ernte dosiert wird, macht den Wald zu einer Kohlenstoffpumpe. Ein gepflegter Mischwald ist das einzige System, das langfristig produktiv ist, da es keine Inputs benötigt. In unserem Land verbietet das Gesetz den Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden. Diese Art der Forstwirtschaft muss zur Option für die grossen Wiederaufforstungsprojekte werden, die so gemischt werden müssen, dass sie auf sehr vielfältige Weise mit der gesamten Fauna und Flora dieses Waldes funktionieren können. Der Naturwald ist das letzte Refugium der wilden Fauna und Flora, er ist der Genpool der gesamten Biodiversität. Wenn sie sich dann wieder mit den offen gebliebenen Flächen, den landwirtschaftlichen Flächen, verbinden, wird all diese Wachstumskraft und die Kraft der Fauna in die Anbauflächen ausstrahlen können. Die öffentliche Meinung will nicht mehr, dass das Land mit Pestiziden vergiftet wird. Sie will nicht, dass die Insekten und die Vögel verschwinden und sie erkennt, dass wir zum ökologischen Landbau übergehen müssen und dass dies dank der Bäume funktionieren wird.» Die Wälder unseres Planeten sind ein gemeinsames Gut, es liegt an uns allen, dafür zu sorgen, dass sie erhalten bleiben oder lebendig werden. Monospezifische Plantagen oder bewaldete Wüsten können nicht als Wälder bezeichnet werden. Sie sollten verboten werden.

  1. www.alternativesforestieres.org
  2. www.canopee.asso.fr und www.fern.org.
  3. «Welche Rolle spielen die Wälder und der französischen Forstsektor bei der Eindämmung des Klimawandels», Koordinator/in Jean-François Dhôte und Alice Roux.
  4. Alle Zitate in diesem Artikel sind Auszüge aus Interviews, die an der Konferenz (mit Ausnahme von Ernst Zürcher, der in Basel interviewt wurde) von Nick Bell geführt wurden. Radio Zinzine strahlte eine Serie von drei Sendungen mit dem Titel «Lebendige Wälder oder bewaldete Wüsten» aus: www.radiozinzine.org