Aus Anlass des 40-jährigen Bestehens der Longo mai–Bewegung publizierte die Zeitung Vorwärts* ein Interview mit Kathi Hahn, eine der Gründerinnen von Longo mai und aktiv beim Europäischen BürgerInnenforum, realisiert von Mischa Müller.
Wie bist Du zu Longo maï gekommen?
Ich bin im Frühling 1970 – also drei Jahre, bevor wir mit dem Aufbau der ersten Kooperative begonnen haben – in Wien auf Spartakus gestoßen, eine der Gründergruppen von Longo maï. Ich komme aus einer kommunistischen Familie und bei diesem familiären Hintergrund war es nicht verwunderlich, dass ich die anderen getroffen habe. Nicht nur gemeinsam politisch aktiv zu sein, sondern auch zusammen zu leben, das fand ich total attraktiv und so bin ich mit 15 in die Kommune gezogen. Es folgten zwei bewegte Jahre, in denen wir Lehrlingsaktionen, eine große Kampagne gegen die Erziehungsheime, Demos und internationale Sommerlager organisierten. Dort freundeten wir uns mit gleich gesinnten Gruppen an, darunter vor allem mit der Schweizer Lehrlingsgruppe Hydra, mit der es von Anfang an einen regen Austausch gab. Neben unserer antifaschistischen Grundhaltung standen unsere Aktivitäten unter dem 68er-Motto: «Freie Entfaltung – Selbstverwaltung». Anfang 1972 wurden wir in einem Presseartikel verdächtigt, der verlängerte Arm von Baader-Meinhof in Österreich zu sein. Das Risiko, als Terroristen kriminalisiert zu werden, wollten wir nicht eingehen. Statt in den Untergrund gingen wir in die Schweiz zur Hydra. Ein Jahr lang durchstreiften wir Europa in kleinen, mobilen Gruppen, die wir «Interbrigaden» nannten. Wir versuchten, das was noch an widerständiger Arbeiterbewegung vorhanden war, zu vernetzen. Oder wir organisierten Solidaritätskampagnen mit Betrieben, die von der Belegschaft besetzt wurden, um sich gegen die drohende Schließung zu wehren. Da hatten wir oft das Gefühl, zu spät zu kommen. Die Umstrukturierung, die damals im Gang war, hatte zur Folge, dass ganze Berufszweige verschwanden und Regionen marginalisiert wurden. Das war die Ausgangslage, in der die Idee von Longo maï entstand.
Wie ist Longo maï politisch aktiv? Also darüber hinaus, dass mehrere Leute zusammen Biohöfe betreiben.
Das ist ja gerade typisch für Longo maï: Ein anderes, selbstbestimmtes Leben mit der politischen Aktion verbinden. Für uns waren die Kooperativen kein «Zurück-zur-Natur-Projekt». Wir wollten uns hier eine Überlebensgrundlage schaffen, um unabhängig zu sein und damit eine bessere Basis für unsere politischen Aktivitäten zu haben.
Die Nachricht vom Putsch in Chile im September 1973 erreichte uns in Südfrankreich, wo wir gerade ein paar Monate zuvor mit dem Aufbau der ersten Kooperative in Limans begonnen hatten. Es war selbstverständlich, dass wir in der Schweiz gemeinsam mit einigen Freund_innen die Freiplatzaktion für Chileflüchtlinge starteten. Niemand hat gefragt, ob wir das verkraften können, denn das Überleben von Longo maï war in dieser Anfangsphase überhaupt nicht gesichert. Die Palette der politischen Aktionen, die wir im Laufe all dieser Jahre geführt haben, ist breit gefächert. Zu den Schwerpunkten zählten immer die Themen Flucht und Migration. In den 1980er Jahren waren wir in mehreren europäischen Ländern aktiv um freie, nichtkommerzielle Radios durchzusetzen. Kurz nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 gründeten wir das Europäische BürgerInnenforum mit aktiven Menschen in Ost und West. Nach dem Zerfall Jugoslawiens in den 90er Jahren führten wir eine Kampagne zur Unterstützung der Deserteure, die sich weigerten, in die nationalistischen Kriege zu ziehen, und waren ein Jahrzehnt lang Partnerorganisation eines Informations-Netzwerks unabhängiger Journalist_innen auf dem Balkan. In den letzten zehn Jahren geht es unter anderem auch vermehrt um landwirtschaftliche Fragen wie Ernährungs- und Saatgutsouveränität oder die Denunzierung der industriellen Landwirtschaft und die Solidarität mit den Migrant_innen, die sich gegen die unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen in diesem agroindustriellen System zur Wehr setzen und sich organisieren.
Worin besteht der Reichtum verschiedene Höfe, verteilt auf mehrere Länder, betreiben zu können?
Reisen, in verschiedenen Ländern zu Hause zu sein, weil man dort Freund_innen hat, wenn man will, den Ort wechseln, Bekanntschaft mit anderen Kulturen machen, Sprachen lernen… Das alles gehört für mich zur Lebensqualität unseres Archipels der Longo-maï-Höfe.
40 Jahre Longo maï. Du warst und Du bist dabei, eine kurze Rückblende:
Am Anfang war die Grenze zwischen «innen und außen», «dazu gehören oder nicht», ziemlich dicht. Heute ist sie durchlässig. Es gibt «Ehemalige», mit denen wir enge Beziehungen haben und die uns regelmäßig besuchen. Oder Freund_innen, die z. B. ein paar Monate im Jahr in einer Kooperative verbringen. Auch Neuankömmlinge müssen nicht alle Brücken abbrechen und sich für ein «entweder – oder» entscheiden. Grundsätzlich finde ich diese Entwicklung sehr positiv. Sie birgt aber auch die Gefahr einer gewissen Unverbindlichkeit und ich frage mich, ob es Longo maï noch geben würde, wenn wir das in der Anfangszeit auch so gehandhabt hätten?
Natürlich hat sich auch der politische Kontext in den letzten 40 Jahren sehr verändert. Die Krisen des Systems verschärfen sich zunehmend, sodass wir heute von vielen Menschen gar nicht mehr als weltfremde Spinner angesehen werden.
Land und Musik: Welche Formen nimmt diese Freundschaft an?
Gesungen haben wir schon in der Zeit vor Longo maï, z. B. antifaschistische Lieder von Erich Mühsam, Bert Brecht, Kurt Tucholsky… und das haben wir auch in den Kooperativen weiter getan. Aufs Feiern verstehen wir uns ebenfalls gut. So spielte die Kulturgruppe von Longo maï, «Comedia Mundi», auf den verschiedenen Hof- und Erntefesten von Melodien aus dem Balkan, bis zu Tanzmusik aus aller Welt. Comedia Mundi ging in den 1980er Jahren mit Eigenproduktionen von Musiktheaterstücken auf Tournee.
Eine andere Art von musikalischer Betätigung war und ist die Gestaltung von verschiedenen Musiksendungen, die von «Radio Zinzine» ausgestrahlt werden, dem Freien Radio, das in der ältesten Longo-maï-Niederlassung in Südfrankreich seit 1981 rund um die Uhr sendet. In dieser Kooperative gibt es auch einen gemischten Chor, in dem neben den Leuten aus Longo maï auch Freund_innen und Bekannte aus der Region mitsingen. Aber auch in den anderen Kooperativen wird gesungen und musiziert.
Wie reagieren die Kooperativen auf die vielfältigen Interessen, Vorstellungen und Wünsche der nachkommenden Generationen?
Obwohl die Kooperativen sehr unterschiedlich sind, was ihre Größe, die Aktivitäten und die Anzahl der Belegschaft betrifft, haben doch alle gemeinsam, dass die Mitglieder der Gründergeneration, die an allen Orten anzutreffen sind, ins Rentenalter kommen. Deshalb stellen sich überall ähnliche Fragen: Wie lebt es sich zu mehreren Generationen am gleichen Fleck? Wie können Wissen, Kenntnisse und Erfahrungen weitergegeben, wie kann Verantwortung gemeinsam getragen werden? Und – ganz wichtig – wie macht man Platz und lässt die Jungen auch selbst und nach den eigenen Vorstellungen machen? Das sind mehr Fragen als Antworten, denn wir stecken mitten in diesem Ablöseprozess, der manchmal auch mühsam ist.
Was unter anderem wünschst Du Longo maï?
Dass wir in Bewegung und deshalb eine Bewegung bleiben, die sich auch in Zukunft politisch und gesellschaftlich einmischt. Und dass wir es schaffen, sowohl die Erfahrungen aus der Vergangenheit weiterzugeben als auch offen für neue Leute, Ideen und Projekte zu bleiben.
Longo maï - Es möge lange dauern!
Das alte provenzalische Grußwort als Name der Europäischen Kooperativen hat sich bewährt: 40 Jahre selbstverwaltetes, gemeinschaftliches Leben in neun Genossenschaften vornehmlich in den Berg- und Randgebieten von Frankreich, der Schweiz, Österreich, Deutschland und der Ukraine; dazu die Finca Sonador in Costa Rica, ursprünglich ein Flüchtlingsprojekt und heute ein multikulturelles Dorf.
In den europäischen Kooperativen leben heute über 200 Erwachsene aus verschiedenen Ländern mit ihren Kindern und Jugendliche aller Altersstufen. Longo maï ist politisch unabhängig und religiös nicht gebunden. Jede Genossenschaft basiert auf Landwirtschaft, Tierzucht, Handwerk, der Verarbeitung lokaler Rohstoffe und der Direktvermarktung der Produkte. Die Erträge fließen in eine gemeinsame Kasse, um die Bedürfnisse der Genossenschafter_innen und der Kooperativen abzudecken. Der Verzicht auf einen individuellen Lohn, die Hilfe und Unterstützung vieler Menschen, ermöglicht es, Mittel für das Ganze freizusetzen und gleichzeitig menschliche Werte wie gegenseitige Hilfe und Solidarität im täglichen Leben in den Vordergrund zu stellen. Jede Kooperative verwaltet sich selbst. Dinge, die alle betreffen, werden gemeinsam diskutiert und entschieden. Um die Höfe herum sind durch die langjährige Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung Netze der Solidarität entstanden. Über den regionalen Zusammenhang hinaus empfangen die Kooperativen zahlreiche Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen.
Die Utopie der Widerspenstigen,
Die Ausstellung, realisiert von Andreas Schwab, die dem erfinderischen politischen Beitrag von Longo maï, der Idee vom Bruch mit der Gesellschaft gewidmet ist, beinhaltet vier thematische Bereiche, in denen sich die für Longo maï wichtigsten Fragen widerspiegeln. Die Art der Darstellung soll das Interesse der Besucher_innen wecken. Es geht um Selbstverwaltung im täglichen Leben, Landwirtschaft und Handwerk, die Ökonomie in den und um die Kooperativen, die Politik in Idee und Aktion. Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt in der Gegenwart; sie zeigt die Gemeinschaft in ihrer heutigen Erfahrung und gelebten Gesellschaftskritik. Es geht ihr nicht darum, Antworten zu liefern sondern das Publikum dazu anzuregen ihre eigenen Fragen zu formulieren. In jedem der vier Bereiche werden die verschiedenen Elemente durch verschiedenste Objekte dargestellt: Filmdokumente, Plakate und Platten von früher, aktuelle Photographien aus den Kooperativen, Produktionswerkzeuge, Interviews und Dokumentationen, Zeitungsartikel, Porträtvideos von zahlreichen in Longo maï lebenden Personen…
Die Ausstellung wird vom 19.Oktober bis zum 2.November im Ackermannshof in Basel und vom 3. bis zum 21. Dezember im Grütli - maison des arts in Genf zu sehen sein. 2014 wandert sie über Zürich, Lausanne und Bern nach Südfrankreich und dann nach Berlin.
Um dem internationalen Charakter von Longo maï zu entsprechen, ist sie gänzlich zweisprachig: deutsch und französisch. Mehrere kulturelle, poetische und politische Events werden die Ausstellung begleiten; Lesungen, Konferenzen, Konzerte…
Das komplette Ausstellungsprogramm von «Die Utopie der Widerspenstigen – 40 Jahre Longo maï» ist zu finden auf prolongomaï.ch.
Bertrand Burollet
Longo maï
eine Ausstellung