LANDWIRTSCHAFT: Agrarökologie von unten

von Silva Lieberherr, Brot für alle, 15.10.2020, Veröffentlicht in Archipel 296

“Die wirklichen Lösungen für Klimakrisen, Unterernährung und so weiter, werden wir nicht finden, indem wir uns an das industrielle Agrarmodell anpassen. (...) Wir können nicht zulassen, dass die Agrarökologie als Werkzeug der industriellen Nahrungsmittelproduktion dient; wir sehen sie als wesentliche Alternative zu diesem Modell und als Mittel, um die Art und Weise, wie wir Nahrungsmittel produzieren und konsumieren, zu etwas Besserem für die Menschheit und Erde umzuwandeln.” [1] Dies ist eine Stimme von denjenigen, die vom heutigen System der Landwirtschaft am meisten betroffen sind, die Stimme von Bäuerinnen, von Hirten, von Fischerinnen und Landlosen. Aus der Solidarität mit ihnen kommen die Position und die Praxis zur Agrarökologie zustande, über die ich hier reden möchte.

Keine Agrarökologie der Konzerne!

Beginnen wir bei der Klimakrise. Die Veränderung des Klimas war wohl noch nie so offensichtlich, so bedrohlich – auch bei uns. Auch wenn wir weit weniger betroffen sind und sein werden als die Menschen in vielen Ländern des Südens, so dämmert es nun doch vielen, wie zerstörerisch unser heutiges System ist. Es entsteht der Eindruck, dass angesichts dieser Bedrohungen alle zusammen Lösungen suchen müssten: die Leute in den Ländern des Südens, die zwar nicht schuld sind aber am meisten betroffen, mit dem sogenannten Privatsektor, also auch mit den grossen Konzernen. Diese Zusammenarbeit scheint auf der Hand zu liegen: Noch nie war die Macht der Konzerne und ihrer Besitzer grösser als heute. Von den hundert grössten Wirtschaftsakteuren auf der Welt sind gerade mal 29 Länder, 71 davon sind Konzerne. Um Wirkung zu erzielen, scheint also nichts logischer, als mit diesen mächtigen Konzernen zusammen zu arbeiten. Schliesslich haben sie sich in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten die Kontrolle über Millionen Hektar Land angeeignet, über Wissen, über Forschung, über Märkte. Es scheint attraktiv, Agrarökologie zu einem Instrument der ökologischen Landwirtschaft zu machen, das auch für die Konzerne und die Investmentfunds lohnend ist.

Nur mit den Konzernen und ihrer Macht, kann man Wirkung erzielen, so könnte man denken. Aber wir sollten uns fragen, warum sie die Agrarökologie noch nicht schon längst eingeführt haben. Gerade heute, wo sich eine Krise an die andere zu reihen scheint, müssen wir klar sehen, wer denn welche Interessen hat. Die Konzerne, die Investmentfunds im Hintergrund, gewisse Regierungen – sie leben vom heutigen System, und zwar gut. Sie und das System, das sie stützen, sind dafür verantwortlich, dass die Welt so ist, wie sie ist. Sie sind reich geworden durch ein System von geistigen Eigentumsrechten und Renten daraus. Sie wollen Genome besitzen, Sorten, Technologie und Ideen. Aber Agrarökologie basiert gemäss FAO auch auf dem gemeinsamen Erarbeiten und Teilen von Wissen. Sie sind reich geworden durch die Ausbeutung von Arbeitskräften auf Plantagen und in Fabriken. Agrarökologie heisst gemäss FAO auch eine solidarische Ökonomie ohne Ausbeutung. Sie sind reich geworden, weil sie weltweit riesige Ländereien unter ihre Kontrolle gebracht haben. Aber Agrarökologie gelingt nur, wenn Land denen gehört, die es bewirtschaften. Wenn sich nun deswegen Konzerne durch Agrarökologie bedroht fühlen, dann ist das gut so.

Wenn aber die Konzerne plötzlich auch agrarökologisch arbeiten wollen und in der Agrarökologie gar eine Chance sehen – dann ist das gefährlich. Dann bedeutet das, dass sie die Agrarökologie auf ein blosses Set an biologischen Anbaumethoden reduzieren wollen. Dass sie die Agrarökologie nicht als eine wundervolle Möglichkeit für eine gerechtere und ökologischere Landwirtschaft verstehen wollen. Sie sehen es als eine weitere Möglichkeit, ihr Businessmodell der Zeit anzupassen, der Agrarökologiebewegung die Kraft zu nehmen, damit sie weiterhin Gewinne machen können. Um von dem abzulenken, was für einen Systemwechsel nötig ist: nämlich die Macht und den Besitz derjenigen, die das kapitalistische System stützen und davon profitieren, zu zerschlagen, nämlich die Macht und den Besitz der grossen Konzerne. Nur so können wirklich ökologische, gerechte, gute Ernährungssysteme entstehen.

Wem gehört das Land?

Um die Ziele der Agrarökologie zu erreichen, ist die Landfrage zentral. Am Beispiel Land zeigt sich, wie auf allen Ebenen daran gearbeitet wird, dass das Land von den Konzernen kontrolliert werden kann. Die Weltbank beispielsweise hat ein Programm, um «Business in agriculture» zu ermöglichen. Länder werden im «Ease of doing business»-Index bewertet, unter anderem danach wie stark Land privatisiert und handelbar ist. Wenn Land zur Ware wird, dann werden bestehende Ungerechtigkeiten gestützt und wer Geld hat, kann sich das Land aneignen. Mehr Land besitzen, pachten und kontrollieren zu können ist zentral für die Profitinteressen von sowohl den Lebensmittelkonzernen wie Nestlé, den Handelsunternehmen wie Cargill, von Firmen, die Agrartreibstoffe anbauen, Schnittblumen, Kaffee oder Soja. Landgeschäfte sind profitable und die Investoren erwarten Gewinne im zweistelligen Bereich. Dieser Gewinn muss irgendwo abgeschöpft werden. Die Produktivität muss hoch sein, die Löhne tief. Und diese Gewinnmöglichkeiten müssen verteidigt werden – beispielsweise gegen Leute, die für ihr Recht auf Land kämpfen. Dafür gibt es zum Beispiel die Investitionsschutzabkommen, die meist Teil der Freihandelsverträge sind. Wenn Regierungen oder nationale Gerichte also entscheiden, die Konzerne hätten das Land widerrechtlich erworben, würden die Natur zu sehr verschmutzen und müssten das Land zurückgeben, dann dürfen Konzerne gegen diese Regierungen klagen. Und das tun sie auch. So hat beispielsweise Tansania beschlossen, die schwedische AgroEcoEnergy müsse den Leuten das Land zurückgeben, das der Investor ihnen ohne ihr Einverständnis genommen hat. Das Unternehmen hat die tansanische Regierung daraufhin auf 52 Millionen Dollar verklagt.

Die Unternehmen sind ausserdem ausserordentlich geschickt darin, ihre eigenen gewinnbringenden Aktivitäten als «gut für das Allgemeinwohl» zu verkaufen und knallhart dafür zu lobbyieren, sodass sie dafür auch öffentliche Gelder bekommen. Entwicklungsbanken geben Kredite, damit grosse Firmen immer mehr Land unter ihre Kontrolle bringen. Zusätzlich gibt es eine immer engere Zusammenarbeit zwischen Konzernen und den staatlichen und halbstaatlichen Entwicklungszusammenarbeitsinstitutionen. Gemeinsam werden Projekte realisiert, die von öffentlichen Geldern finanziert und gestützt werden, aber in erster Linie dazu dienen, die industriell-kapitalistische Landwirtschaft auf immer grössere Gebiete auszudehnen. Das bringt den Konzernen Einfluss, Absatzmärkte und Gewinn. Wenn ich Konzerne schreibe, dann meine ich nur sie und das Kapital hinter ihnen – nicht die kleinen Betriebe, denn diese versuchen oft, wirklich Verbesserungen zu erreichen. Aber mit dem heutigen System, das uns in diese existentielle Krise gebracht hat und das von den Konzern- und Kapitalinteressen gestützt wird, werden wir aus der Krise nicht herauskommen.

Es lohnt sich, doch für wen?

Zurück zur Agrarökologie: Agrarökologie funktioniert – und für die Bäuerinnen und Bauern, für die Landarbeiterinnen und -arbeiter, für die Konsumentinnen und Konsumenten hat sie eine grosse revolutionäre Kraft. Mit ihr wird es möglich, ein anderes Ernährungssystem zu denken und zu verwirklichen. Aber um dahin zu gelangen, zu einer ökologischen, gerechten Landwirtschaft, müssen wir uns genau überlegen, warum wir diese Landwirtschaft nicht schon lange haben. Es ist ja nicht so, dass es bisher noch keine Alternativen gab. Es ist nicht so, dass bisher alle meinten, es sei gut und ungefährlich, wenn Pestizide mit Helikoptern über Dörfer gesprüht werden. Es sei das Beste für bäuerliche Betriebe, wenn Syngenta die Patente auf gentechnisch veränderte Organismen besitzt. Es ist nicht so, dass bisher alle Akteurinnen und Akteure nur von der Frage getrieben wurden, wie alle Menschen ernährt werden könnten und es einfach nicht geschafft haben.

Der Grund, warum fast eine Milliarde Menschen hungern, warum jährlich – gemäss UN – 200'000 Menschen an den Folgen von Pestiziden sterben, ist bei den Konzernen und ihren Besitzern zu suchen, die Profit daraus schlagen. Hungernde und Tote werden von ihnen zwar nicht gewollt, aber sie spielen auch keine Rolle, zumindest nicht in Gewinnberechnungen. Es lohnt sich für die Konzerne, Menschen gewaltsam zu vertreiben, um Soja anzupflanzen und immer noch mehr Fleisch zu produzieren. Es lohnt sich, Arbeiterinnen und Arbeiter, sogar Kinder, auf Plantagen arbeiten zu lassen für Palmöl oder Schokolade. Es lohnt sich, Geflüchtete illegal zu belassen, damit sie zu sklavenartigen Bedingungen unsere Tomaten produzieren können. Es lohnt sich, Millionen dafür auszugeben, für Pestizide und Dünger zu lobbyieren, damit diese entgegen besseres Wissen nicht verboten werden. Es lohnt sich, bäuerliche Sorten zu enteignen, um die Sorten dann bei Bedarf teuer zu verkaufen. Das ist kein Auswuchs des kapitalistischen Systems, sondern sein tägliches Funktionieren.

Wenn wir nichts anderes tun, als Agrarökologie als Technik und Anbaumethode einzuführen, dann lohnt sich all das immer noch. Wenn wir agrarökologische Methoden anwenden, die zu Recht viel mehr Arbeit brauchen, dann lohnt es sich umso mehr, diese Arbeiterinnen und Arbeiter auszubeuten. Wenn wir die Konsument_inn_en davon überzeugen, mehr für ihre agrarökologischen Lebensmittel zu bezahlen, kann man noch höhere Margen abschöpfen, dann lohnt es sich noch mehr, Leuten das Land wegzunehmen, um darauf für diejenigen zu produzieren, die es bezahlen können. Wenn wir agrarökologische Methoden benützen, die auf lokalem Wissen basieren, dann hört Syngenta – vielleicht – auf, hochgefährliche Pestizide zu verkaufen. Dafür eignet sie sich aber dieses lokale Wissen an, patentiert und verkauft es.

Wir müssen dafür sorgen, dass sich all das nicht mehr lohnt. Dass es nicht mehr möglich ist, etwas zu machen, nur weil es sich lohnt – obwohl es Menschen ihrer Lebensgrundlagen beraubt, ausbeutet und die Natur und das Klima zerstört. Eine solche Welt ist möglich und dafür steht die Agrarökologie. Land muss den Leuten gehört, die darauf arbeiten – seien es Kleinbäuerinnen oder Landarbeiter. Wissen und Saatgut muss frei zugänglich und demokratisch besessen und organisiert werden. Forschung muss darauf ausgerichtet sein, was den Menschen und der Umwelt dient, nicht dem Gewinn. Leute müssen demokratisch darüber entscheiden können, was angebaut werden soll und was gehandelt.

Von Grund auf

Wir müssen viel Überzeugungsarbeit leisten, um eine solche grundlegende gesellschaftliche Umorganisation der Landwirtschaft, einen Systemwandel der Welt zu erreichen. Aber warum sollten sich die grossen Konzerne, die jährlich Milliarden profitieren, auf so eine Umorganisation einlassen? Eine Umorganisation, die darin besteht, dass diese Konzerne schlussendlich allen gehören oder nicht mehr existieren? Wenn sich die Konzerne bessern wollen – nur zu. Niemand steht ihnen im Weg. Kleinere Firmen sind oft an echter Veränderung interessiert. Selbstverständlich. Auch einzelne Akteure der Konzerne, auf jeden Fall. Aber die grossen Konzerne und das Kapital, das sie stützt, machen das Gegenteil. Gemäss dem Report von Global Witness war 2017 das Agribusiness die grösste Ursache von Gewalt gegen Menschen, die sich wehren. Aktivisten und Aktivistinnen, die dafür kämpfen, über ihr Land und ihre Ressourcen selbst zu bestimmen, werden immer stärker verfolgt, eingesperrt, eingeschüchtert, umgebracht. Aber sie machen weiter.

Auf ihrer Seite müssen wir stehen. Aus ihren Erfahrungen, aus ihren Bewegungen ist die Ernährungssouveränität gewachsen. Und die Agrarökologie ist ein Teil dieser wunderschönen, dieser möglichen Utopie.

Silva Lieberherr, Agrarwissenschaftlerin ETH Landwirtschaft und Landrechte, Brot für alle Rede am Welternährungstag 2019 in Zollikofen (CH)

[1] Zitat vom Agrarökologie-Treffen 2015 in Nyeleni, Mali