KOMPLIZIERTER ORIENT: Stimmen aus dem Orient

von Isabelle Bourboulon, 11.10.2016, Veröffentlicht in Archipel 251

Bei diesem Plenum setzten sich Stephane Lacroix, Forscher am Institut für internationale Studien (CERI) und Spezialist für Saudi-Arabien, Loulouwa al Rashid, Politologin aus dem Irak, Fadwa Suleiman, syrische Schauspielerin und Dichterin sowie die türkische Soziologin Pinar Selek mit einigen Aspekten des „komplizierten Orients“ auseinander. Eine kurze Zusammenfassung:

Die Politik Saudi-Arabiens
Stephane Lacroix zufolge ging es der saudi-arabischen Politik bis vor kurzem auf sehr pragmatische Weise um den Schutz der eigenen Interessen; sie sei das Ergebnis einer langjährigen Arbeitsteilung zwischen politischer und religiöser Führung.
Als Verbündete der USA seit 1945 (die Erdölkompanie „Saudi Aramco“ wurde von den Amerikanern gegründet!), richtete sich die ultrakonservative Politik der Saudis gegen jede Form der Veränderung: gegen Nasser während des Kalten Krieges an der Seite des Schah in den 1960-70er Jahren, gegen den Iran von Khomeini, der in den Augen der Saudis einen revolutionären Islam verkörperte.
Zu Beginn der 1990er Jahre kommt es mit der Invasion Kuweits zu einer Art Trendwende. Paradoxerweise misstrauen die Saudis den sunnitischen Islamisten, die ein System unter der Herrschaft der Scharia fordern. Sie unterstützen den Staatsstreich von General Sissi in Ägypten und die syrische Revolution als einen Weg, einen Verbündeten des Iran, Bashar El Assad, loszuwerden.
Mit dem Machtantritt des 30-jährigen Erbprinzen Mohammed ben Salman könnte sich die Situation im Land verändern. Er hat einen neoliberalen Reformplan vorgelegt, der das wahabitische Königreich mithilfe von Milliarden Dollar von der Spitze her völlig umkrempeln soll.
Konfessionelles Gift im Irak
Loulouwa al Rachid erinnert daran, dass es im Irak auch einen „Frühling“ gegeben hat, auch wenn das Land seit den 1980er Jahren im Kriegszustand lebt. Mitten in der Konfusion nach der Invasion 1991, fand eine so genannte „Intifada“ gleichzeitig im Norden des Landes (das kurdische Experiment einer eigenen Regierung) und im Süden statt, wo dieser Aufstand allerdings niedergeschlagen wurde, weil sich die Koalition weigerte, eine Flugverbotszone über dem Territorium zu schaffen wie im Norden). Diese Rebellion und die darauf folgende Repression hinterliessen ein großes Trauma in der irakischen Gesellschaft.
Nach einer nationalistischen, von Saddam Hussein geprägten Phase, hat das irakische Regime den Islamismus instrumentalisiert und die Feindschaft zwischen Schiiten und Sunniten angeheizt. Das Ergebnis war das Aufkommen des Islamischen Staates (IS) 2014 in Mossul, die Schwächung des Staates, die Erschöpfung der Zivilgesellschaft aufgrund der Kriege und Invasionen und die Migration von 3,5 Millionen Menschen.
Aus Syrien ins Exil
Bis vor vier Jahren setzte sich Fadwa Suleiman unermüdlich für den Frieden in ihrem Land ein. Als die Todesstrafe über sie verhängt wurde, lebte sie noch eine Weile im Untergrund bis ihre Freund_innen sie überredeten, das Land zu verlassen, um ihr Leben zu retten. Sie flüchtete nach Frankreich, doch was in Syrien geschieht trifft sie emotional zutiefst. So definiert Fadwa Suleiman die Situation in Syrien:
Der Westen, dessen Politik in dieser Region vor allem an den Erdölressourcen interessiert ist, verbreitet die Fabel von den arabischen Völkern, die angeblich unfähig sind, sich selbst zu regieren, und unterstützen die autoritären Regimes. „Syrien ist ein gebildetes Land, welches das Glück hatte, lange Zeit in Sicherheit zu leben, das aber das Pech hat, in der Nähe von Israel zu liegen und ein Eingangstor zu dieser Region ist“, fasst Fadwa zusammen. Sie hat keinerlei Vertrauen in die Vereinten Nationen, um diesen Konflikt zu regeln. Der Sicherheitsrat sei monopolisiert von fünf „Grossmächten, die sich untereinander arrangieren und die Massaker zulassen.“ Vom IS denkt sie, dass es sich um eine internationale Konstruktion handelt, da die salafistische Denkweise in Syrien nicht verwurzelt ist. „Eines Tages werden sich die Syrerinnen und Syrer wieder erheben, aber bis dahin ist diese Situation eine Schande für die Menschheit.“
Chaos in der Türkei
Kindheit und Jugend von Pinar Selek sind geprägt von Erinnerungen an Gefängnis und Folter. Ihr Vater war im Gefängnis, sie selbst auch – damals gab es 40‘000 politische Gefangene. Als vor zehn Jahren wieder ein Haftbefehl gegen sie erlassen wurde – diesmal sollte ihr Engagement für mehr Freiheit im Land mit lebenslänglichem Freiheitsentzug bestraft werden – musste sie über Nacht fliehen. Die Feministin und Antimilitaristin sieht die Entwicklung in ihrem Land folgendermassen: Die muslimischen Bruderschaften (z.B. die Gülen-Bruderschaft, einst Verbündete Erdogans und heute seine erbittertste Feindin), von denen einige die die herrschenden Wirtschaftsmächte unterstützen, spielen eine wichtige Rolle in der Türkei. Seit dem Putschversuch im Juli 2016 herrscht Chaos. In allen Schichten der Gesellschaft kommt es vermehrt zu Verhaftungen. Milizen werden parallel zur Armee gegründet. Ein immer aggressiverer neoliberaler Kapitalismus herrscht; die türkische Bourgeoisie ist nicht mehr national, sondern transnationalen Interessen verpflichtet.
Inmitten dieser chaotischen und gefährlichen Situation finden die türkischen Aktivist_innen trotz allem Ressourcen, um sich zu schützen. Pinar erklärt, dass in den 1980er Jahren die militanten Kreise von linksextremen Bewegungen dominiert waren, heute aber neue Bewegungen entstanden sind (feministisch, anarchistisch…), die unabhängig von ihren ursprünglichen Strukturen ein neues Organisationspotential haben. Diese neuen Netzwerke führen neue Formen von Kämpfen und passen sich taktisch an die Repression an. Die Besetzung des Taksim-Platzes 2013 war möglich dank dieser Vernetzungen.