KOMMENTAR:Der amerikanischeTrau,Ignoranz, Arroganz, Teilnahmslosigkeit Zweiter Teil

von Ethan Hughes*, 04.06.2005, Veröffentlicht in Archipel 128

Im ersten Teil dieses Artikels begann der Autor eine Aufstellung der zehn Faktoren, die seiner Meinung nach zum Wahnsinn der USA, seiner Bürger und seiner Regierung beitragen. Den Darstellungen zu Propaganda, «Einschläferung», Schwächung von Gesundheit und Intelligenz, Angst und Gewalt folgen nun weitere, genauso wichtige Faktoren, die untereinander in Wechselwirkung stehen.

Die Abhängigkeit und die Vergiftung

Die USA sind Opfer eines Phänomens allgemeiner Abhängigkeit, hervorgerufen durch ein wirksames Marketing, das die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen in einem bis zum heutigen Tag nie gesehenen Grade manipuliert. Es handelt sich um Abhängigkeit von Alkohol, Medikamenten, Spielen, Pornographie, Shopping und anderen Konsumformen. Wir stellen ein Zwanzigstel der Weltbevölkerung dar, und wir konsumieren etwa ein Drittel der Weltressourcen. Es bräuchte ungefähr fünf Erdbälle, um den sechs Milliarden Erdbewohnern das gegenwärtige Konsumniveau des Durchschnittsamerikaners zu gewährleisten. Diese Tendenz zu Abhängigkeit und Missbrauch aller Art isoliert die Amerikaner von der Realität. Die Black Panthers hatten als Slogan:«Abhängigkeit = Sklaverei». Eine der wirksamsten Waffen unserer Regierung und der Konzerne ist es, ihre Sklaven «glücklich» zu machen, damit sie sich ihrer Sklaverei nicht bewusst sind. George Bush bietet den Konservativen wie den Liberalen das, was sie wollen, nämlich Konsum; diese Abhängigkeit bringt Verleugnung und Abstumpfung mit sich.

Die wirtschaftlichen Ungleichheiten

Innerhalb von 30 Jahren hat sich die Kluft zwischen den Reichsten und den Ärmsten beinahe verdoppelt. Eine kürzlich erfolgte Studie des Federal Reserve Board 1 zum Thema Haushaltsbudgets enthüllt, dass im Jahr 1998 ein Prozent der reichsten Haushalte im Besitz von beinahe 38 Prozent der nationalen Reichtümer waren und 5 Prozent im Besitz von 60 Prozent. In den USA gibt es eine versteckte Armut: Groß ist die Zahl der Amerikaner, die an schlechter Ernährung leiden, die obdach- und arbeitslos sind, die nicht vom Gesundheitswesen profitieren und die Opfer von Rassendiskriminierung sind.

Die Mehrheit der Amerikaner ist überzeugt, dass die Reichsten zum Vorteil der Ärmsten Steuern zahlen. Tatsächlich unterstützen die 95 Prozent der Bevölkerung, unter denen 40 Prozent der Reichtümer aufgeteilt sind, diejenigen, die Millionen, ja sogar Hunderte von Millionen pro Jahr verdienen.

Stress und Überarbeitung

53 Prozent der arbeitenden Amerikaner fühlen sich überarbeitet und erschöpft. Wenn man die aktuellen Zahlen aus der Nähe betrachtet, erkennt man, dass ein/e amerikanische/r Arbeiter/in oder Angestellte/r 1800 Stunden pro Jahr arbeitet, d.h. 350 Stunden mehr als ihre/seine deutschen Kollegen und sogar ein wenig mehr als ihre/seine japanischen Kollegen. Vier von zehn Amerikanern arbeiten nach nicht standardgemäßen Arbeitszeiten, um den Anfragen des Marktes, unabhängig von Zeitzonen, zu entsprechen. Man schätzt, dass der Stress mehr als 300 Milliarden Dollar pro Jahr kostet (Gesundheitskosten, Krankenstand, usw.); die Industrie der «Stressverminderung» hat ein jährliches Budget von 11,7 Milliarden Dollar. Mobiltelefone und Laptops geben den Arbeitnehmern das Gefühl, niemals ganz frei von ihrer Arbeit zu sein, selbst zu Hause. Ungesicherte Arbeitsplätze, unsichere Pensionen, Mangel an Arbeitskollegen, die im Fall von Abwesenheit die Arbeit sichern, ein bis zwei Wochen Urlaub im Jahr, all diese Faktoren tragen bei zum permanenten Stressklima, das die Existenz der amerikanischen Arbeitnehmer vergiftet.

Religiöser Fanatismus

Die christliche Rechte repräsentiert heute ca. 9 Prozent der US-Bevölkerung, das sind 31 Millionen Menschen. Diese sind überzeugt, dass:

  • Gott die USA und seine Bürger auserwählt hat, um die Welt von den «Bösen» und den «Ketzern» zu befreien;

  • Jesus der einzige Weg ins Paradies ist (bereut oder fahrt in die Hölle);

  • wir moralisch korrekt handeln, wenn wir das Licht Gottes in die Länder tragen, die wir befreien;

  • Homosexualität, andere Religionen, die Infragestellung irgendeines Teiles der Bibel eine Sünde sind.

Es ist genauso erschrekkend, wie es erscheint: Wahrscheinlich aufgrund des vollkommenen Mangels an Sinn im Leben vieler Amerikaner gewinnt die christliche Rechte immer mehr Anhänger. Ebenso tragen kinderreiche Familien und auf Angst basierende Gehirnwäsche zu diesem Zustrom bei. Die christliche Rechte ist dabei, die Kontrolle über Bundesregierung, Justiz und Konzerne zu übernehmen. Ihre Anhänger glauben, dass die Welt im Feuer enden wird, und viele – ich habe selbst welche kennen gelernt – sind sehr erregt von der Idee eines Armageddon. Es ist ziemlich beunruhigend zu wissen, dass viele unserer «gewählten» Parteiführer in diese Kategorie passen, mit eingeschlossen natürlich der führende Mann des Landes, Präsident Bush, gewählt von Gott.

Die Liberalen sind Bestandteil des Systems

«Wie kann man gegen ein System protestieren, während man sich anschickt, seine Vorteile zu genießen?» (Vinoba Bhave, Schüler von Gandhi).

Das liberale Amerika ist in Unruhe, jedoch nicht so sehr, dass es infolgedessen handeln würde. Einige nehmen am Wochenende an Demonstrationen teil, aber nur ganz wenige entziehen den Banken ihr Geld, verkaufen ihre Aktien, hören auf Auto zu fahren oder weigern sich, ihre Steuern zu zahlen. Die Liberalen leben zum Großteil in den amerikanischen Großstädten. Diese Städte sind Tempel des Konsums. Es ist dort unmöglich, eine Hütte zu bauen, seine Nahrung oder Kleidung zu produzieren, und man wird dort somit abhängig vom System. Jeder, der seine Steuern zahlt und fossilen Brennstoff verbraucht, stimmt de facto für Bush. Die amerikanischen Liberalen leben zu sehr im Komfort, und durch ihre Abhängigkeit vom Komfort werden sie von dieser militärisch-industriellen Regierung in der Hand gehalten. Einige unserer kritischsten Intellektuellen sind vollkommen gefangen in einem Universitätssystem, das von den multinationalen Konzernen finanziert wird. Es wird viel geredet in den liberalen Kreisen der Vereinigten Staaten, aber gehandelt sehr wenig.

«Die, die wissen und nichts tun, wissen nicht»

Weitere zum amerikanischen Paradigma hinzuzufügende Faktoren müssen erwähnt werden:

  • die kontinuierliche Massa-krierung und Unterdrückung der Native Americans 2 und die nationale Leugnung dieses Zustandes (mit den daraus resultierenden erhöhten Kosten für die amerikanische Psyche);

  • die Vorstellung – geerbt aus der Zeit der «Pioniere» und immer noch lebendig –, dass der Mensch über der Natur steht. Nach Henry Ford «wird sich vieles ändern, wir müssen lernen, Gebieter und nicht Sklaven der Natur zu sein»;

  • die Tatsache, dass es seit 100 Jahren keinen Krieg auf amerikanischem Boden gegeben hat, und dass der Großteil der Amerikaner keine Vorstellung davon hat, was das ist, Krieg;

  • schließlich die Anziehungskraft von «Action-Männern» auf zahllose Amerikaner, von John Wayne bis Arnold Schwarzenegger, dem gegenwärtigen Gouverneur von Kalifornien.

In ihrer Wechselwirkung bilden all diese Faktoren – und die Liste ist nicht komplett – einen tödlichen Cocktail. Die Einschläferung, die Angst, die geschwächte Gesundheit und Intelligenz machen die Amerikaner verwundbar für die Propaganda und die Abhängigkeit, die wiederum den Stress nach sich ziehen, der in einer Erhöhung der Gewalt resultiert, was die Angst verstärkt usw. Diese Phänomene breiten sich aus, und sie sind wirksam; in Kombination provozieren sie ein hohes Maß an Teilnahmslosigkeit und somit Untätigkeit. Sie drängen die Menschen dazu, Auswege zu suchen: Konsum und Abhängigkeit. Alle diese Faktoren müssen einzeln und in Wechselwirkung untersucht werden, weil nur so die nötigen Schritte gesetzt werden können, um diesen Tendenzen entgegen zu wirken; und dies zuerst in Hinsicht auf sich selbst, bevor man das System im Ganzen angreift. Ich werde in einem späteren Artikel auf dieses Thema zurückkommen, aber ich werde zeigen, dass es auch andere, positive Tendenzen gibt, die in den USA in Arbeit sind: «community supported agriculture» 3, alternative (und kostenlose) öffentliche Bildung, «saubere» (nicht von den Konzernen finanzierte) Kandidaten, um nur einige wenige zu nennen.

Ethan Hughes*

*Ethan lebt in einer Landkommune ohne Erdöl, gegen die Globalisierung und mit direktem Handel in Oregon.

Quellen:

Der Großteil der in diesem Artikel

zitierten Zahlen, Statistiken und

Fakten entstammen der New York Times, dem National Geographic (USA), The Independent (GB) und Le Monde (F).

  1. Föderales Reservesystem; Institution, die die Funktionen der Zentralbank in den USA ausübt

  2. Die von uns als Indianer bezeichneten Ureinwohner Amerikas

  3. Gruppierung von Landwirten, die auf lokalem Niveau von einer Gruppe von Konsumenten unterstützt wird