KOLUMBIEN: Ein «Erdbeben» gegen Polizeigewalt

von Michael Rössler, EBF, 15.01.2022, Veröffentlicht in Archipel 310

In Kolumbien gingen von April bis Juli 2021 hunderttausende Menschen auf die Strasse. Doch die Proteste wurden mit brutaler Gewalt niedergeschlagen. Mutige Aktivist⸱inn⸱en haben die schweren Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und setzen sich für die Opfer ein.

Am Anfang der Proteste, im April 2021, wurde ein landesweiter Streik ausgerufen, und in vielen Regionen fanden überwiegend friedliche Massendemonstrationen statt. Die Menschen fordern soziale Gerechtigkeit und wollen einen gesellschaftlichen Wandel erwirken – weg von der systemischen Gewalt, hin zu einem friedlichen Ausgleich. Eine so noch nie da gewesene Volksbewegung war entstanden. Doch die staatliche Repression war unerbittlich: Zahlreiche Menschen wurden getötet, hunderte verletzt, inhaftiert und gefoltert; viele werden vermisst. Die Stadt Cali, die sehr stark von Ungleichheit, Ausgrenzung und strukturellem Rassismus gegen die afrokolumbianischen Einwohner⸱innen geprägt ist, wurde zum Epizentrum der Proteste und zur besonderen Zielscheibe der Repression.

Juristische Begleitung der Opfer

Wir waren von Freund⸱inn⸱en in Kolumbien über die Situation informiert worden und so ergriffen wir verschiedene Initiativen, um auf die kolumbianische Regierung einzuwirken und über die ganze Problematik zu berichten.(1) Gleichzeitig suchten wir mögliche Partner⸱innen in Kolumbien, um genauere Informationen zu bekommen und unsere Hilfe anzubieten. So lernten wir die NGO «Temblores» («Erdbeben» auf Deutsch) (2) kennen, die aus jungen Jurist⸱inn⸱en und Aktivist⸱inn⸱en besteht, und sind seither mit ihr in regelmässiger Verbindung. Temblores leistet den Opfern der blutigen Unterdrückung Rechtsbeistand mit der mobilen «Justiz-Klinik» unter dem Namen POLICARPA. Auch heute noch werden Menschen, die in der sozialen Bewegung aktiv waren, insbesondere Jugendliche, verfolgt oder sogar getötet.

Temblores hat in Zusammenarbeit mit zwei anderen Menschenrechtsorganisationen die zahlreichen Verstösse der kolumbianischen Polizei gegen die Interamerikanische Menschenrechtskonvention (IACHR) aufgedeckt. In einem Bericht vom Juli 2021 erklärt die NGO: «Während des landesweiten Streiks hat der kolumbianische Staat systematisch seine Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte im Zusammenhang mit der Ausübung des Rechts auf friedliche Demonstrationen verletzt sowie die Normen des Internationalen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Regulierung und Kontrolle des Einsatzes von Sicherheitskräften im Kontext sozialer Proteste missachtet.»

Forderung nach einer Polizeireform

Temblores nimmt die Aussagen der Opfer und anderer Zeugen entgegen, verteidigt die Geschädigten und veröffentlicht Untersuchungen und Statistiken über die systematische Gewalt der Sicherheitskräfte auf ihrer Internetplattform GRITA (3).

Die Organisation kritisiert hauptsächlich die folgenden gewalttätigen Praktiken der Polizei: den wahllosen und unverhältnismässigen Einsatz von Schusswaffen; den Gebrauch nicht direkt tödlicher, aber gefährlicher Waffen wie Tränengas, Lähmungsgas, Gummigeschossen und Granaten; den Einsatz von «Venom»-Granatwerfern, die 30 Abschussrohre besitzen und sofort grosse Mengen an Reiz-Chemikalien über ein grosses Gebiet verteilen können; den Beschuss von Häusern und Wohngebieten mit Tränengas und/oder Lähmungsgas; die Verletzung des Grundsatzes der Öffentlichkeit von Polizeiverfahren wie das Verbergen der Dienstausweise der Beamten, die Belästigung und Inhaftierung von Journalist⸱inn⸱en; Schläge und Folter an willkürlich inhaftierten Personen, rechtswidrige Forderungen an dieselben im Austausch für ihre Freiheit; sexuelle Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen; Verschwindenlassen von Menschen. Allein in den wenigen Monaten des Streiks und der Demonstrationen registrierte GRITA rund 5.000 Gewalttaten der Polizeikräfte im ganzen Land. Bis jetzt ist die Polizei in Kolumbien dem Verteidigungsministerium unterstellt. Für etwaige Verfahren gegen die Polizisten ist die Militärjustiz zuständig, die ohne Öffentlichkeit agiert. Es fehlt also jegliche Transparenz, und es ist faktisch ausgeschlossen, dass gewalttätige Polizisten von der eigenen Hierarchie verurteilt werden. Temblores fordert öffentliche Prozesse, die Verurteilung der gewalttätigen Beamten, das Verbot bestimmter Waffen und eine gross angelegte Polizeireform.

Zerstörte Augen

Ein spezieller Bericht, der Anfang Dezember 2021 veröffentlicht und gratis als Broschüre verteilt wurde, widmet sich den Gesichts- und Augenverletzungen durch Geschosse und Gase: Zerstörung der Iris, Netzhautablösung, Glaskörperblutung und Traumata des Auges und der Augenhöhle. Die Opfer haben dadurch vorübergehende oder bleibende Schäden davongetragen, die ihr weiteres Leben stark beeinträchtigen. 103 Fälle werden dokumentiert.

Temblores wurde seit seiner Gründung im Jahr 2016 (4) während der Periode des Friedensabkommens zwischen der damaligen Regierung und der FARC-Guerilla immer wieder bedroht. Doch seit dem Streik und den Demonstrationen haben sich die Einschüchterungsversuche und die staatlichen Verfolgungsmassnahmen gegen die Organisation intensiviert. Sie ist durch ihre engagierte Arbeit mehr als unbequem für die Eliten in Politik, Polizei und Militär. So mussten zwei Repräsentanten von Temblores nach der Veröffentlichung des Berichts über die Augenverletzungen das Land verlassen. Sie hatten Hinweise bekommen, dass gegen sie ermittelt würde. In ihrem vorläufigen Exil im Ausland verlangen sie Aufklärung von den staatlichen Stellen über die Vorwürfe, die ihnen zu Last gelegt werden, und auch über Abhörmassnahmen seitens der Behörden gegen sie.

Ein grosses «Erdbeben»

Alejandro Lanz, Co-Direktor von Temblores, erklärt «Erdbeben», den Namen der Organisation, mit dem historischen Moment, den Kolumbien seit dem Friedensprozess durchlebt. Er vergleicht die Transformation der kolumbianischen Gesellschaft und des Landes mit einer grossen Bewegung von tektonischen Platten: «Wir wollen diesen Wandel mit starken Bewegungen herbeiführen, die mit den Gewaltdiskursen brechen und den Aufbau einer demokratischeren und gerechteren Gesellschaft für diejenigen Menschen fördern, die Gewalt erfahren haben und nie Zugang zu Justiz und staatlichen Dienstleistungen hatten.»

Das Logo von Temblores ist ein sich aufbäumender Elefant. Die Organisation will durch diese Metapher (5) zeigen, dass sie versucht, grosse, unausgesprochene Probleme sichtbar zu machen und gegen diese vorzugehen. Damit Temblores diese Aufgabe noch lange erfüllen kann, unterstützen wir diese wichtige Initiative auch international. Das «Erdbeben» in der kolumbianischen Gesellschaft für Gerechtigkeit und Frieden muss weitergehen!

Michael Rössler, EBF Schweiz

(1) siehe Archipel Nr.306, September 2021 (2) https://www.temblores.org (3) GRITA: Grabar, Registrar, Investigar, Triangular, Asistir (Aufnehmen, Aufzeichnen, Untersuchen, Abgleichen, Assistieren). (4) Seit seiner Gründung versucht Temblores, die Gewalt gegen Gruppen sichtbar zu machen, die in Kolumbien seit jeher an den Rand gedrängt werden: LGBTI-Personen, sozial ausgegrenzte junge Menschen, Drogenabhängige, Inhaftierte und Obdachlose. (5) Der Elefant im Raum ist eine ursprünglich russische, im englischen Sprachraum weit verbreitete Metapher (elephant in the room), die aber inzwischen auch im Deutschen und in anderen Sprachen vorkommt. Der Anglizismus bezeichnet ein offensichtliches Problem, das zwar im Raum steht, aber dennoch von den Anwesenden nicht angesprochen wird.