Am 7. August 2022 wurden Gustavo Petro als erster linker Präsident in der jüngeren Geschichte Kolumbiens und Fráncia Marquez als erste schwarze Vizepräsidentin vereidigt. Schon während der Zeremonie bricht der neue Amtsträger mit langjährigen Traditionen. Ein Ausblick auf das, was in Kolumbien noch folgen könnte.
Die Leute drängen sich auf dem «Plaza Bolívar» in Bogotá, der Hauptstadt Kolumbiens, aneinander. Mittendrin David Alexander Silva Barbosa. Der 34-Jährige wartet bereits seit Stunden und starrt gebannt auf einen der Grossbildschirme, die die Zeremonie in der ganzen Stadt übertragen werden. Es ist das erste Mal, dass die Vereidigung eines Präsidenten in Bogotá über 100.000 Zuschauer·innen anzieht. Die ganze Veranstaltung gleicht mit über 70 nationalen Musiker·inne·n und Artist·inn·en eher einem Openair-Festival. Es wird gelacht und getanzt. Immer wieder ertönen Salsa-, Cumbia- und Vallenato-Klänge, die für das multikulturelle Kolumbien stehen. Hier und da ein Hauch von Revolution, der sich in symbolträchtigen Liedern oder Gesten manifestiert. Am «Plaza Bolivar» steht das Regierungsgebäude «Casa de Nariño», vor dem eine riesige Festbühne aufgebaut ist. Der Platz steht auch für die landesweiten Demonstrationen, bei denen ein beträchtlicher Teil der kolumbianischen Bevölkerung vor etwas mehr als einem Jahr gegen die scheidende Regierung, Polizeigewalt und für soziale Gerechtigkeit demonstriert hat.
Doch an diesem 7. August 2022 ist alles anders. Denn heute werden Gustavo Petro als Präsident und Fráncia Marquez als erste schwarze Vizepräsidentin vereidigt. Zusammen bilden sie die erste linke Regierung in der jüngeren Geschichte Kolumbiens. Für Barbosa war es sehr wichtig, heute hier zu sein. Der 34-jährige gut ausgebildete Kolumbianer gehört zu dem grossen Teil der kolumbianischen Bevölkerung, die eine Regierung satt hat, die sich durch Korruption und Menschenrechtsverletzungen ins Abseits befördert hatte. Barbosa selber hat aus erster Hand erfahren, was es bedeutet, für diese Regierung zu arbeiten. Als Finanzprüfer war er mehr als fünf Jahre für das Bildungsministerium tätig. Mittlerweile hat er seinen Job aber wegen Bestechungsversuchen und mehrfachen Drohungen gekündigt. Er verfolgt die politische Karriere Petros schon seit seinen Anfängen, als dieser für das Bürgermeisteramt in Bogotá kandidierte. Barbosa, der in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen ist, sagt: «Wegen ihm beschloss ich, das erste Mal in meinem Leben von meinem Wahlrecht Gebrauch zu machen.» (…) Heute hofft er, dass dieser neue Präsident dem Land den lang geforderten Wandel bringen wird.
Das Schwert von Bolívar
Die Zeremonie findet in Anwesenheit von mehreren lateinamerikanischen Präsidenten statt. Darunter Gabriel Boric aus Chile, Guillermo Lasso aus Ecuador, Mario Abdo Benítez aus Paraguay, Luis Arce aus Bolivien und Alberto Fernández aus Argentinien. Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador lässt sich von seiner Frau Beatriz Gutiérrez und dem mexikanischen Aussenminister, Marcelo Ebrard, vertreten. Aus den USA ist Samantha Power, Direktorin der US-Behörde für internationale Entwicklung (USAID) angereist. Auch der König von Spanien, Felipe VI, ist vor Ort. Als er die Bühne betritt, wird er vom Publikum mit Buhrufen empfangen.
Barbosa starrt gespannt auf den Grossbildschirm, während nach der Vereidigung Petros dessen Worte über die Lautsprecher ertönen: «Ich, als Präsident, bitte die kolumbianische Armee, das Schwert von Bolívar zur Zeremonie zu bringen.» Jubel bricht aus. Das Schwert steht für die Unabhängigkeit Kolumbiens und die Souveränität Lateinamerikas. Denn Simón Bolívar war es, der die Unabhängigkeitskriege gegen die spanische Kolonialherrschaft in Venezuela, Kolumbien, Panama und Ecuador anführte.
Doch das Schwert steht am heutigen Tag noch für ein anderes historisches Ereignis. Die städtische Guerilla «Movemiento 19 de Abril» (M-19), in der auch Petro Mitglied war, hat es in den 1980er-Jahren gestohlen und erst nach deren Demobilisierung der kolumbianischen Regierung ausgehändigt. Der scheidende Präsident Iván Duque hatte zuvor die Bitte von Gustavo Petro, das Schwert herauszugeben, abgelehnt.
Dass Petro kurz nach seiner Amtseinweihung das Schwert bringen lässt, freut Barbosa. Dies sei eine Machtdemonstration «Damit zeigt Petro, dass es jetzt anders läuft», sagt er mit einem Lachen auf dem Gesicht. Als der General mit dem symbolträchtigen Schwert auf der Bühne erscheint, erheben sich auch die Ehrengäste von ihren Stühlen, um Petro zu applaudieren. Nur der spanische König Felipe VI. bleibt regungslos und mit versteinerter Miene sitzen. In Spanien wird dieser Akt noch zu einer Kontroverse führen.
Bruch mit der Tradition
Petro lässt sich im Anschluss auf den Jubel die Präsidentenschärpe von María Jose Pizarro umlegen. Sie gehört zum «Pacto Histórico», Petros Bündnis, und ist die Tochter des ehemaligen Guerillero und Präsidentschaftskandidaten Carlos Pizarro Leongómez, der 1990 ermordet wurde. Auch er war Mitglied der M-19. Ein bezeichnender Akt des neuen Präsidenten, denn nach Protokoll hätte ihm das glänzende Stück Stoff von Senatspräsident Senator Roy Barreras umgelegt werden sollen.
Gustavo Petros Vergangenheit wird von der politischen Opposition immer wieder gegen ihn verwendet, auch weil die M-19 für den Anschlag auf den kolumbianischen Justizpalast in Bogotá am 6. November 1985 verantwortlich war. Petro aber hat sich während seiner Zeit in der Guerilla stets gegen Gewalt ausgesprochen. Petros Mitgliedschaft in der M-19 stört Barbosa nicht. «Für mich ist die Rebellion einer Guerilla kein Verbrechen, wenn sie ein politisches Ziel verfolgt, das sich gegen die Ideen einer schlechten Regierung richtet», sagt er. Leute wie Barbosa glauben, dass Petro und Márquez den Frieden bringen. «Seit der Wahl der neuen Regierung liegt eine gewisse Aufbruchstimmung in der Luft», sagt er. Die Wahl des Kabinetts, das von kolumbianischen Medien «Kabinett des Wandels» genannt wird, steht wegweisend für die Richtung, die Petro und Márquez zu verfolgen scheinen. Mehr als die Hälfte der Ministerposten sind von Frauen besetzt. Rund 13 Posten gehen an linke Aktivistinnen und Aktivisten. Doch auch Konservative besetzen Ministerien wie das der Justiz oder des Verkehrs. Etwas mehr als die Hälfte der ernannten Ministerinnen und Minister haben bereits ausserhalb von Kolumbien gelebt oder gearbeitet.
Der Weg zum «totalen Frieden»
Barbosa will sich jetzt ein Bier holen, das es aber nur ausserhalb des abgesperrten Geländes gibt. Die Veranstaltung ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass sich eine grosse Menge von Besucherinnen und Besuchern in Richtung Ausgang bewegt. Die Menschen mussten sich beim Betreten der Strasse, die zum Plaza Bolívar führt, abtasten lassen. In langen Schlangen standen dort schon am frühen Morgen unzählige Schaulustige, um sich die Plätze mit der besten Sicht zu sichern. Eine knappe Stunde später steht der Kolumbianer an einem Kioskwagen. Nebst kolumbianischem «Poker»-Bier werden hier auch Kaugummis, Zigaretten und Hot Dogs verkauft. Silva Barbosa nimmt einen Schluck aus der gelben Dose und erzählt, dass er, wenn er auch Hoffnung in den neuen Präsidenten setze, ihm nicht blind vertraue. Enttäuscht hat ihn im Vorfeld zur Amtseinweihung, dass sich Petro mit Ex-Präsident Álvaro Uribe, seinem politischen Gegner, getroffen hat.
Gegen Álvaro Uribe läuft ein Verfahren, er wird sich noch dieses Jahr wegen Bestechung und Verwicklung in paramilitärische Strukturen verantworten müssen. Gleichzeitig ist die Sonderjustiz für den Frieden («Justicia Especial para la Paz», JEP) an der Aufarbeitung des Verbrechens der «Falsos positivos (Falschen Positiven)» beschäftigt. Dabei wird der Mord an über 6400 Zivilistinnen und Zivilisten untersucht, die während der Amtszeit von Uribe zwischen 2002 und 2008 als in bewaffneten Kämpfen gefallenen Guerillakämpfer·innen ausgegeben wurden. Noch heute suchen die Angehörigen der Opfer Gerechtigkeit. Silva Barbosa beurteilt das Treffen zwischen Petro und Uribe kritisch: «Es muss von einem neutralen Standpunkt aus bewertet werden», sagt er. Er glaubt, dass Petro mit dieser Geste versucht habe, im Einklang mit seinen Ideen zu handeln, die den Begriff des Dialogs und des «paz total» (des totalen Friedens) impliziere, «Für viele Kolumbianerinnen und Kolumbianer ist dieses Treffen aber natürlich ein Verrat an den Wählern oder ein Zeichen, dass Petro nun vor dem Mann auf die Knie geht, der für unzählige Morde an Unschuldigen verantwortlich ist, so Silva Barbosa. Den Begriff des «totalen Friedens» verwende Petro immer, um sich von vorangehenden Regierungen abzugrenzen, die sich öffentlich mit dem Friedensvertrag zwischen der Farc-Guerilla und der Regierung (2016) brüsteten, in der Praxis aber nie an einem friedlichen Zusammenleben arbeiteten. Wie Petro in den nächsten Tagen ankünden wird, will er nicht nur das Gespräch mit der Opposition herstellen, sondern auch mit paramilitärischen Dissidenten wie dem «Clan del Golfo» oder mit bewaffneten Gruppen wie die der Farc-Dissidenten oder der ELN-Guerilla («Ejercito de Liberación Nacional»).
Der kolumbianische Hochkommissar für den Frieden, Iván Rueda, wird eine knappe Woche nach der Amtseinweihung Petros nach Havanna reisen, um sich dort mit dem kubanischen Aussenminister Álvaro Leyva zu treffen. ELN-Mitglieder, die in Kuba stationiert sind, hatten im Vorfeld bereits ihre Bereitschaft zum Dialog bekundet.
Annäherung unter Nachbarn
Ebenfalls werden Gustavo Petro und der Präsident Venezuelas, Nicolás Maduro, ankünden, dass sie bei einem Gespräch die diplomatischen Beziehungen zwischen den Nachbarländern wieder herstellen. Ebenfalls sollen Pläne für die Wiedereröffnung der Grenze «seriös» angestrebt werden. Der Flugverkehr zwischen den Ländern ist seit der Amtszeit Duques unterbrochen, dies obwohl rund zwei Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner in Kolumbien wohnen. Was in Kolumbien umstritten ist, wird von Barbosa begrüsst. «Wenn zwei Länder eine gemeinsame Grenze haben, wer ist dann am meisten vom Abbruch der Beziehungen betroffen?» Die Entscheidung Petros spiegelt seiner Meinung nach seine Sensibilität für die an der Grenze zu Venezuela lebenden Menschen wider. Die Xenophobie ist gegenüber den Venezolaner·inne·n sind laut Barbosa auch das Resultat einer vorgängigen Politik, die das Nachbarland Venezuela als Staatsfeind erklärt hatte.
Auch steht die Bekämpfung der Kriminalität, die vor allem an der Grenze sehr hoch ist, auf der Themenliste Petros. Er steht vor einer schwierigen Aufgabe, denn in Venezuela ist ein grosser Teil bewaffneter Gruppen untergebracht. Doch damit soll sich das neue Ressort «Frieden, Sicherheit und Koexistenz» befassen. Der Präsident des Senats, Roy Barreras, und der Verteidigungsminister, Iván Velásquez, haben sich bereits mit diesem Thema befasst. Zu diesem Ressort soll auch die kolumbianische Polizei gehören. Ein weiteres Beispiel dafür, dass Petro das Wort «Frieden» zum Beinamen seiner Regierung machen will.
Kämpferin für soziale Gerechtigkeit
Gleichzeitig wird Vizepräsidentin Francia Márquez in den kommenden Tagen verkünden, dass sie das «Ministerium für Gleichstellung» schaffen wird, wo sie alle sozialen Aufgaben der Exekutive unter einem Dach zusammenfassen will. Die Afrokolumbianerin konnte mit ihren Botschaften viele nicht-gehörte Stimmen erreichen. Sie stammt aus Suárez im Departement Cauca, einem Departement, das repräsentativ für die systematische Diskriminierung von ethnischen Gemeinschaften steht, insbesondere der schwarzen und indigenen Bevölkerung. Dort kämpfte Márquez seit ihren Jugendtagen als Menschenrechts- und Umweltaktivistin für mehr soziale Gerechtigkeit und wurde international dafür ausgezeichnet. Durch ihre Herkunft und ihren Kampf verkörpert sie neben Petro den Wandel, den Kolumbien so dringend braucht. Grundsätzlich wird sich schon in den ersten Tagen der Amtszeit der neuen Regierung zeigen, dass sich die politische Agenda des kolumbianischen Parlaments nach Mitte-links verschoben hat.
Auf dem Plan steht wegen dem Wirtschaftsdefizit das neue Steuerpaket, welches zu landesweiten Demonstrationen geführt hat und an welchem seine Vorgänger kläglich gescheitert sind. Petros Vorschlag sieht eine Besteuerung von zuckerhaltigen Getränken und weiterverarbeiteten Lebensmitteln vor. Bei hohen Renten, Selbstständigkeit und Dividenden soll der Steuersatz erhöht werden. Mit dem Mehrertrag von umgerechnet rund 11 Milliarden Franken jährlich sollen Sozialprogramme querfinanziert werden.
In der «Carrera Séptima», der Strasse, die zum «Plaza Bolívar» führt, hat sich am Abend des 7. August die Lage beruhigt. Die Besucherinnen und Besucher konnten das Areal ohne Zwischenfälle verlassen und scharen sich in kleinen Grüppchen um Strassenmusikant·inn·en oder essen Hamburger und Empanadas. Barbosa ist müde. Er hatte den ganzen Tag vor Aufregung nichts gegessen und macht sich auf den Heimweg Richtung Chapinero. Der Wind bewegt die kolumbianische Flagge, die sich Barbosa für die Zeremonie über die Schultern geworfen hatte. Er lacht verschmitzt und wirft einen Blick zurück – dorthin, wo heute kolumbianische Geschichte geschrieben wurde.
Samina Yasmin Stämpfli, freie Journalistin, Kolumbien