KOLUMBIEN: Ausbeutung und Widerstand

von Cynthia Osorio*, 12.11.2015, Veröffentlicht in Archipel 242

Im ersten Teil dieses Artikels (Archipel Nr. 240) ging es um das Modell des Neo-Extraktionismus in Kolumbien, eine moderne Ausbeutungsmethode, bei der sämtliche natürliche Ressourcen abgebaut werden, ohne etwas im Land zurück zu lassen, und gleichzeitig die politische Kontrolle über die Nahrungsmittelproduktion von Oligarchen übernommen wird. Der folgende Teil befasst sich mit den sozialen Bewegungen gegen diese Entwicklung.

Soziale Mobilisierungen
2013 war ein sehr bewegtes Jahr für die kolumbianische Bevölkerung. Bereits die Einführung des neoliberalen Modells in den 1990ger-Jahren hatte verschiedene Gesellschaftsbereiche in die Krise gestürzt: das Gesundheitssystem, das Erziehungssystem, die Wirtschaft mit dem Anwachsen der Arbeitslosigkeit; all diese Probleme verschlimmerten sich mit der Unterzeichnung der Freihandelsvertäge mit den USA, Kanada und Europa im Oktober 2011.
Die negativen Auswirkungen dieser Verträge bedrohten bereits nach kurzer Zeit die Existenz der Kleinbauern und -bäuerinnen. Bald protestierten sie im ganzen Land, demonstrierten in Massen auf Strassen und Plätzen. Diese Bewegung erfuhr breite Unterstützung durch die Städter_innen, wodurch die Bauern und Bäuerinnen ihren Protest über lange Perioden durchhielten. Sie erfuhren dadurch ihre eigene Macht.
Dank des Dokumentarfilms Colombia 9.70, der sich im Jahr 2013 über YouTube wie ein Lauffeuer verbreitete, wurden die Beschlagnahmungen bäuerlichen Saatguts und die Bestrafungen der Bauern und Bäuerinnen, die ihr eigenes Saatgut wieder aussähten, bekannt gemacht. Diese Repressionsmassnahmen wurden auf Grund der Anwendung der Resolution 9.70, die kolumbianischen Bauern und Bäuerinnen verbietet, nicht-zertifiziertes Saatgut auszusähen, durch das Landwirtschafts- und Viehzuchtinstitut Kolumbiens ICA durchgeführt. Das Ziel solcher Schikanen ist es, den Bauern und Bäuerinnen auch das letzte Glied der Nahrungsmittelkette – das Saatgut – wegzunehmen, und die Kontrolle darüber in wenigen Händen zu konzentrieren. Den Bauernprotesten schlossen sich andere an: die Umwelt- und die Sozialbewegung. Die indigenen und die schwarzen Bevölkerungsgruppen, die mehr Erfahrung in den Auseinandersetzungen mit der Regierung haben, schlossen sich der Protestbewegung mit ihren traditionellen Forderungen nach territorialer Souveränität an.
Trotz der unterschiedlichen Bereiche innerhalb der Bewegung wurde ein einheitliches «nationales Pflichtenheft», ein gemeinsamer Forderungskatalog, aufgestellt, mit dem sich die vielfältige Protestbewegung an die Regierung richtete. Vertreter_in-nen der verschiedenen Bereiche diskutierten beim Landwirtschaftsgipfel im Mai 2014, von dieser Basis ausgehend, an einem «runden Tisch» mit Repräsentanten der Regierung. Ein sofortiges positives Resultat war das «Einfrieren» der Resolution 9.70, also die offizielle Zusage des Innenministeriums, die Resolution vorläufig nicht umzusetzen. Der Durchführung dieses «runden Tisches» folgte vollkommene Stille für den Rest des Jahres 2014. Die Demonstrationen hörten auf. Das Thema «Saatgut» verschwand aus den Medien. Was war passiert?
Teile und herrsche
Nach dem alten Motto «Teile und herrsche» versuchte die Regierung, jeden einzelnen Bereich durch Kompensationszahlungen, unter anderem für die möglichen Verluste, die durch Freihandelsvertäge entstehen, «einzukaufen». Die Regierung schlug den Verhandlungspartnern vor, Projekte für jeden Sektor zu erarbeiten, über welche sie die Verminderung der negativen Folgen unterstützen würde. Die Organisationen machten sich an die Arbeit, Projekte auszuarbeiten und zu präsentieren, um an die Geldfonds zu gelangen. Doch welche waren die Kriterien, um das Geld an die Organisationen zu verteilen? Was passiert mit den Bereichen, die an den Verhandlungen nicht teilgenommen haben? Was geschieht mit den politischen Grundsatzthemen? «Die Verhandlungen wurden auf das Versprechen der Regierung konzentriert, einen Fonds für Projekte zu schaffen, doch dies hat vom politischen Teil abgelenkt, z.B. bezüglich der Minenausbeutung oder der bäuerlichen Territorialität. Sogar für kleine Projekte für das Jahr 2014 gab es Schwierigkeiten, nur wenige von ihnen wurden akzeptiert (...). Für die anderen Bereiche des «Pflichtenhefts» zieht die Regierung die Verhandlungen in die Länge. Beim politischen Seminar des Landwirtschaftsgipfels stellten wir ein Ultimatum und es gab den Vorschlag, einen Generalstreik für Ende dieses oder Anfang nächsten Jahres zu organisieren.»1 Zum Glück gelang es den Organisationen in all ihrer Unterschiedlichkeit, die Einheit zu bewahren. «Interne Unterschiede existieren, das verstecken wir nicht. (...) Es ist wichtig, dass wir über diese Probleme auf dem Landwirtschaftsgipfel in vertrauensvoller Atmosphäre diskutieren können, und dafür müssen wir die Einheit stärken», so José Santos, Sprecher von PCN, der Organisation der Gemeinschaften schwarzer Bevölkerungsgruppen. «Dem Verbindenden den Vorrang über das Trennende zu geben scheint uns ein sinnvolles Kriterium für einen auf lange Sicht angelegten Einigungsprozess.»2
Die sozialen Bewegungen gehen weiter, doch auch die Ermordungen ihrer Anführer_innen. Der letzte Fall war die Ermordung von Carlos Alberto Petraza, der an der Spitze zahlreicher wichtiger sozialer Kämpfe verschiedener Bewegungen stand und Mitglied des Volkskongresses und des Landwirtschafts- und Bauerngipfels war.
Trotz der Versuche, die Bewegung zu spalten, der nicht eingelösten Versprechungen der Regierung, der Morde und Bedrohungen und der illegal im Gefängnis Festgehaltenen3, sind neue Mobilisierungen geplant. «Da die Verhandlungen mit der nationalen Regierung nicht stattfinden, die regionalen Rundtische nicht funktionieren und die Regierung die Sache anscheinend nicht ernst nimmt, werden neuerliche Mobilisierungen nötig sein, um einen Generalstreik zu organisieren», heisst es in einer Erklärung.
Der Friedensprozess in Havanna ist notwendig und wichtig, entspricht aber nicht ausreichend den Erwartungen des kolumbianischen Volkes, weil er das Ende des grundsätzlichen Konflikts nicht näher bringt: die kolumbianische Regierung will nicht über das wirtschaftliche Modell und die Rolle der Armee sprechen, Drohungen und Ermordungen gehen weiter. Für die Organisationen der sozialen Bewegung bedeutet Friede, «dass unsere Rechte respektiert werden, und man uns in Ruhe und Würde in unserem Land leben lässt.» Daher schlagen sie einen dritten runden Verhandlungstisch vor, und zwar unter Einbeziehung der sozialen Organisationen.
Konfiszierungen
Über das, was sich im Bereich des Saatguts abspielt, hüllt sich der Staat in Schweigen. Der zweite Punkt des am gemeinsamen runden Tisch verfassten «Pflichtenhefts» richtet sich mit deutlichen Forderungen bezüglich Saatgut und Ökologie an die Regierung, doch bisher konnte mit dieser darüber nicht verhandelt werden. Das Thema wird jedoch in anderen Zusammenhängen gründlich bearbeitet. Im RSLD (Netzwerk für freies Saatgut Kolumbiens) wird über die Resolution 9.70 und das neue Gesetzesprojekt debattiert. Welche Strategie wird die Regierung wohl anwenden, um die UPOV 914 doch wieder einzuführen? Über die letzten Saatgutkonfiszierungen haben die Medien nicht informiert. Genaue Informationen haben wir nur bis 2012, in diesem Jahr wurden über 4.000 Tonnen Saatgut konfisziert! Unter vielen anderen Fällen wurden 11.645 kg lokal produzierte Baumwollsamen konfisziert und «aus sanitären Gründen» zerstört. Sieben Monate später bestätigte die zuständige Sanitätsbehörde, dass das Saatgut gesund und in Ordnung war. Die Bauern und Bäuerinnen hatten inzwischen, soweit sie dazu noch in der Lage waren, das einzige zur Verfügung stehende, genmanipulierte Saatgut von Monsanto gekauft und gesät. Viele dieser Pflanzungen wurden von Krankheiten befallen, Millionenverluste waren die Folge.
Hüter_innen des Saatguts
Im März 2014, nach unserer Europatournee, hatten wir – zusätzlich zu unserer eigenen Arbeit – viele neue Engagements und Verantwortungen übernommen. Dank der Unterstützung durch Patenschaften und einige europäische Stiftungen sind wir bei unseren Vorhaben gut vorangekommen. Trotz der verschärften Saatgutgesetze halten wir an unserer Arbeit und unserem Engagement fest, Nutzpflanzen aus unserer Region, die vom Verschwinden bedroht sind, weiter zu vermehren, agro-ökologisches Qualitätssaatgut zu produzieren und damit den Anbau regional angepasster Sorten zu stärken. Unser Netzwerk Red de Guardianes de Semillas de Vida (RGSV) – Hüter_innen der Samen des Lebens – wächst, heute sind wir 400 Personen. Wir haben fünf Kerngruppen für sechs Regionen. Mit Vertreter_innen jeder Gruppe organisierten wir im September die 9. landesweite Versammlung des Netzwerks. Es waren 150 «Samenwächter_innen» dabei, und zum Markttag kamen mehr als 200 Personen.
Die Versammlung fand im Cauca statt, einer Region, in der wir bisher nicht sehr präsent waren, für uns eine zusätzliche Herausforderung. Viele unserer langjährigen «Sa-menwächter_innen» waren nie aus Nariño herausgekommen und freuten sich diese benachbarte, aber doch entfernte Region kennenzulernen. Bei diesem Treffen wurden die individuellen und kollektiven Engagements unserer nun vergrösserten Gruppe bekräftigt.
Saatgut-Zentren
Wir sind uns der immensen Gefahr für die einheimischen Samen bewusst, von der industiellen Saatgutproduktion verdrängt zu werden, Gesetzgebung hin oder her. Die Regierung macht bemerkenswerte Investitionen und Anstrengungen, um genmanipuliertes und – wie sie es nennen – «verbessertes» Saatgut zu fördern: Landwirtschaftsprogramme, Werbung, Forschungsprogramme etc. Wir stellen uns dagegen und kämpfen dafür, die Kampagne für Erhalt und Anbau der lokalen Sorten zu stärken. Dank der Unterstützung durch unsere internationalen Patenschaften konnten wir zwei Gewächshäuser mit Bewässerungsanlage für die Produktion von Gemüsesaatgut bauen. Dieses Saatgut wird an die «Samen-wächter_innen» zur Weiterzucht und für den Erhalt der Sorten verteilt und auch an Nachbarn und Freund_innen abgegeben. Letztes Jahr wurden 700 Samensäckchen mit verschiedenen Sorten Lupinen und Amarant verteilt. Wir arbeiten dafür auch mit der «Koalition der Völker für Nahrungsmittelsouveränität» zusammen. Über gastronomische Messen, Feste, Märkte und mehr wollen wir diese Sorten wieder in den täglichen Speiseplan integrieren und den Sortenerhalt so auf eine solide Basis stellen.
Die Aktivitäten unserer Samenzentren in den verschiedenen Regionen sehen folgendermassen aus: In Nariño funktionieren Verkauf und Tausch weiterhin gut, 2014 haben wir an mehr als 1500 Personen «Samen des Lebens» verkauft. Im Samenzentrum von Pasto konnten wir 700 erhaltene Sorten registrieren. Mehr als 40 Ausbildungen für Aufbau und Verwaltung eines Saatgutzentrums wurden durchgeführt. Die Kerngruppen aus dem Cauca, aus Antioquia und Cundinamarca haben mit der Schaffung solcher Zentren begonnen, und legen Inventare über die heimischen Pflanzensorten und ihre Beschaffenheit und Eigenschaften an.
Solidarwirtschaft
Zum Thema solidarisches Wirtschaften: die Spar- und Kreditfonds funktionieren und nehmen zu und wir haben uns mit der Agro-solidarischen Föderation Nariño zusammengeschlossen, um gemeinsam zu diesem Thema zu arbeiten. Es ist uns gelungen, klare Spielregeln aufzustellen, um die Lebensprojekte unserer Mitglieder mit einem selbstverwalteten Fonds zu unterstützen, und wir ermuntern die anderen Kerngruppen, ebenfalls diese Strategie anzuwenden, die uns von den Banken unabhängig macht. Ausserdem entwickeln wir weiterhin mit dem Verkauf von Saatgut das System des solidarischen Handels und wollen es noch verbessern. Immer mehr Bauern und Bäuerinnen wollen wieder zu den alten Sorten zurückkommen, daher müssen die produzierten Mengen erhöht und Selektion, Lagerung und Verpackung des Saatguts verbessert werden. Obwohl wir wissen, dass es sich nach dem Gesetz dabei um einen Akt zivilen Ungehorsams handelt, machen wir den Saatgutverkauf auf unserer Webseite und bei den Veranstaltungen, an denen wir teilnehmen, bekannt. Von den anderen Medien bekommen wir dabei keine Unterstützung. Die agro-ökologischen Märkte entwickeln sich mit den so genannten «grünen Körben» und für 2015 haben wir uns zum Ziel gesetzt, diese Initiative durch einen fixen Verkaufspunkt in Pasto zu verstärken. Im Cauca ist die Gruppe RGSV der ACIN5 beigetreten, um mit agro-ökologischen Produkten an den Bauernmärkten teilzunehmen.
Ausbildungen
Auch die Erziehung ist uns ein Anliegen: Dieses Jahr haben wir mehr als 100 Ausbildungen im Rahmen von Ecoversité auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene vorgeschlagen. Die zentralen Themen sind: das System der agro-ökologischen Landwirtschaft, die Gewinnung von Saatgut, Verwaltung der Saatgutzentren, Lagerung, Inventar, der Erhalt alter Sorten, solidarisches Wirtschaften, das Netzwerk Hüter_innen der Samen des Lebens.
Mit dem RSLC (Netzwerk für freie Samen Kolumbiens) und dem RSLA (Netzwerk für freie Samen Amerikas) haben wir die normativen Aspekte und das Thema der genmanipulierten Organismen (GMO) studiert. Im Juni fand die Jahresversammlung des RSLC statt, auf der wir über die Notwendigkeit einer konstitutionellen Reform sprachen, um das Land zur GMO-freien Zone erklären zu können. Mit diesem Ziel wird jede Organisation auf lokaler Ebene weiterarbeiten. Die Jahresversammlung des RSLA hat im Oktober in Ecuador stattgefunden. Wir führen auch Analysen durch, um GMOs aufzudecken. Über die Resultate werden wir Euch auf dem Laufenden halten. All dies bedeutet viel kontinuierliche Arbeit. Dabei ist es schwierig, die Zeit zu finden, um zu schreiben und den Kontakt zu halten. Während ich schreibe, spüre ich, dass die Verbindungen, die wir vor einem Jahr in Europa geschaffen haben, weiter existieren. Wir wissen, dass jede_r von seinem/ihrem Land aus zur notwendigen Veränderung beiträgt.

*Umweltwirtschaftswissenschaftlerin, Koordinatorin von Nodo Cauca – Red de Guardianes de Semillas de Vida, oscinta(at)yahoo.es, www.colombia.redsemillas.org

  1. Bericht von Robert Daza, Mitglied der Nationalen Koordinationsgruppe für Landwirtschaft (CNA) und Vertreter der Mesa Unica National, vor der Delegiertenversammlung in Nariño (7. und 8. Februar 2015).
  2. Aus: Colombia Informa, 6.Okt. 2014.
  3. Allein im Juli 2015 wurden 15 Delegierte des Landwirtschaftsgipfels verhaftet, der Rebellion beschuldigt und ohne legale Prozedur eingesperrt.
  4. Als Voraussetzung für das Inkrafttreten des Freihandelsabkommens mit den USA wurde in Kolumbien im April 2012 das Gesetz 1518 verabschiedet, mit dem die Internationale Konvention zum Schutz der Pflanzenzüchtung, UPOV 91, anerkannt wurde. Angesichts der Reaktion von vielen Personen und Organisationen, die dem kolumbianischen Verfassungsgericht Dokumente geschickt hatten, welche die schädlichen Auswirkungen der Anwendung von UPOV 91 in Kolumbien aufzeigten, erklärte das Gericht im Dezember 2012 das Gesetz für ungültig, weil «die indigenen und afrokolumbianischen Gemeinschaften nicht zuvor konsultiert worden waren». Dies war ein grosser Erfolg für die sozialen Bewegungen. Dennoch wurde dieses Gesetz in Bezug auf die geistigen Eigentumsrechte und Saatgut in anderer Formulierung wieder aufgegriffen, entsprechend den Verträgen von UPOV 1978, und hat derzeit Gültigkeit durch das Gesetz 1032 von 2006 und die Verordnung 9.70 des ICA. Eine Konsultierung hat noch nicht stattgefunden.
  5. Vereinigung der Regierungen der Indigenas im Norden des Cauca.
    Widerstand
    Es ist jetzt schon fast ein Jahr her, dass Alba, Antonio und ich, drei Kolumbianer_innen im Rahmen der europäischen Kampagne «Saatgut und Widerstand» sechs europäische Länder durchquerten, um über die Situation der bäuerlichen Landwirtschaft und der Saatgutproduktion in Kolumbien zu informieren. Zweiter Teil.