Katalonien

von Isa Fremeaux, 04.08.2008, Veröffentlicht in Archipel 161

Vom Süden Spaniens fahren wir der Küste entlang in Richtung Barcelona. Zwischen Granada und Murcia staunen wir über geheimnisvolle Wildwestfilm-Landschaften, so weit das Auge reicht. Doch bald beginnt die Verwüstung. Durch den Massentourismus ist die Küste vollkommen entstellt: Über 600 km eine einzige Anhäufung von Betonwürfeln, einer scheußlicher als der andere, Bars, die All day breakfast oder «Currywurst» anbieten. Mit Golfplätzen werden die letzten Wasserreserven dieser sehr trockenen Region geplündert, überall hängt der Gestank der ausgetrockneten Wasserläufe. Ich muss unweigerlich denken, das sei der Geruch der Zukunft: die Ausdünstungen eines Systems, das in seiner Geld- und Profitbesessenheit, in seinem heiligen Wachstumswahn verfault. Wie ein ekelhafter Hinweis darauf, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, das sein eigenes Wohngebiet zerstört.

Barcelona Die Ankunft in Barcelona verbessert meine Laune nicht: Wir kommen bei Nacht an und landen in einer riesigen Industriezone. Nach einer Irrfahrt zwischen dem Hafengebiet und den Parkplätzen der Peripherie beschließen wir, die Nacht am Meer zu verbringen. Wir befinden uns in einem Quartier, das für die Olympischen Spiele 1992 «rehabilitiert» wurde; eine Immobilienfirma hat die Gelegenheit ergriffen, hier einen Vorort zu schaffen, der vielen anderen zum Verwechseln ähnlich sieht: Gebäude aus Metall und Glas, deren große Fenster auf einen Platz ohne Seele blicken, verziert mit Überwachungskameras, die auf den Ausgang des unterirdischen Parkplatzes gerichtet sind.

Am nächsten Morgen geht’s weiter in Richtung Can Mas Deu, ein Projekt, das in der Antiglobalisierungsbewegung einen geradezu mystischen Ruf genießt. Bald werde ich verstehen warum…

John hat den Ort schon einmal besucht und übernimmt daher das Steuer. Nach zwanzigminütiger Fahrt auf einer Umfahrungsstraße kommen wir in Canyelles an, einem populären Viertel an der Endstation einer Metrolinie. Ich mache mir Sorgen, dass wir zu spät zu unseren Gastgebern kommen könnten. «Kein Problem, wir sind in zwei Minuten dort», versichert mir John. Ich frage mich, wie das möglich ist. Er scheint sich seiner Sache ganz sicher zu sein, doch ich habe immer gehört, dass es sich um ein ländliches Projekt handelt, auf der Basis von biologischer Landwirtschaft. Hier befinden wir uns hingegen in einem durch und durch städtischen Viertel...

Nach dem Frühstück setzen wir uns wieder in unseren Minibus und fahren noch einige hundert Meter. An einem rechts abzweigenden Weg, der mit einer Kette abgesperrt ist, steht ein Schild mit der Aufschrift: Vall de Can Mas Deu. Da sind wir also, John hatte Recht. Wir steigen aus und beginnen, einen steilen Weg mitten in einem dichten Wald hinaufzugehen. Der Landschaftswechsel ist abrupt und überraschend. Nach einigen Minuten taucht auf der Höhe ein riesiges Gebäude auf, umgeben von Dutzenden Gärten in Terrassenform. Der Ort ist fantastisch, außergewöhnlich, einmalig: Wir befinden uns inmitten eines wunderschönen Tales, ein Naturpark, (vorläufig) von Bulldozerangriffen verschont, der sich über eine Landschaft von Wolkenkratzern erhebt, in deren Glasfassaden sich die Sonne spiegelt, und weit dahinter glitzert das Meer.

Stadt-Land Die einmalige Lage mitten in der Natur und gleichzeitig zehn Minuten zu Fuß zur nächsten Metrostation hat die Bewohner von Can Mas Deu motiviert, ein neues Stadt-Land-Konzept zu erfinden. Diese außergewöhnliche Kombination ist bezeichnend für den Ort und die Leute. Can Mas Deu scheint effektiv dem Gleichgewicht gewidmet zu sein: zwischen ländlich und städtisch, politischem Militantismus und Spiritualität, Kollektiv und Individuum, maskulin und feminin… Dem Wesen des Gleichgewichts entsprechend ist nichts fix, manchmal schwankt es, kippt beinahe. Und doch scheint dieses Experiment den Prüfungen der Zeit standzuhalten. Das Abenteuer begann im Dezember 2001, als ungefähr zehn Aktivisten verschiedener Gruppierungen gemeinsam beschlossen, die seit 50 Jahren verlassene und brachliegende, riesige Anstalt für Leprakranke zu besetzen. In Barcelona wütet eine aggressive Immobilienspekulation, und die Privatisierung aller öffentlichen Gebäude und Grundstücke breitet sich aus wie ein Krebsgeschwür. Die Immobilien- und Lebenskosten sind steil ansteigend und Armut macht sich breit. Kike, einer der Bewohner von Can Mas Deu erklärt: «Barcelona ist immer mehr privatisiert und kontrolliert. Dieses Phänomen begann 1992 mit den Olympischen Spielen. Ziel war, die Industrie- und Arbeiterstadt mit ihren starken Sozialbewegungen in eine politisch sterile Kulturstadt umzuwandeln.» Ein Prozess der sozialen Nivellierung, in dem die Arbeiterkultur allmählich von einer Art Pseudo-Bohème verdrängt wird und die Armenviertel renoviert und mit Nobelboutiquen und Kulturcafes «verschönert» werden. Ein Phänomen, das Sharon Zukin «die Befriedung durch den Capuccino» nennt und damit auf die unvermeidliche Parallele zwischen Privatisierung der öffentlichen Flächen und politischem Maulkorb hinweisen will. Eine Entwicklung, die von New York bis London, Paris oder Berlin keine «Kulturhauptstadt» auslässt.

Die Erde gehört allen Die Besetzer von Can Mas Deu kämpfen für einen universellen Zugang zu Grund und Boden und denunzieren die Privatisierung in ihrem noch nie da gewesenen Ausmaß. Gleich zu Beginn wenden sie sich mit einem öffentlichen Appell an die Bewohner des Viertels, indem sie diese auffordern, die Terrassen wieder instand zu setzen und Gemeinschaftsgärten anzulegen Viele Leute, die diesen Ort seit 50 Jahren verfallen und zuwachsen sahen, reagierten auf den Aufruf. «Man darf nicht vergessen, dass wir hier in einem Viertel sind, wo die sozialen Kämpfe noch einen Sinn haben» erklärt uns Kike, der die Geschichte des Anarchismus studiert hat und der von diesen außergewöhnlichen Nachbarschaftsbeziehungen begeistert ist. «Die Mehrheit der Leute hier sind Immigranten aus dem Süden des Landes und mussten wie die Löwen kämpfen, um unter anständigen Bedingungen leben zu können: für öffentliche Verkehrsmittel, Straßenbeleuchtung etc. Sie haben Widerstand geleistet, damit die Klinik für Leprakranke in den 1970er Jahren nicht in ein Gefängnis umgewandelt wurde. Als die ersten Besetzer ankamen, waren sie nicht schockiert.»

José, 74 Jahre und einer der Ersten, der sich den Gemeinschaftsgärten anschloss, bestätigt: «Die Erde gehört allen, jeder muss essen können. Wenn man uns das Recht darauf nicht zugesteht, nehmen wir es uns, ich finde das ganz normal.» Heute werden ungefähr 30 Gärten von ca. 100 Gärtnern bearbeitet, die meisten sind Nachbarn aus dem Quartier. Sie waren beeindruckt, wie die Bewohner des Hauses ihre Theorie in die Praxis umsetzten. «Die Neuverteilung des Reichtums ist für diese ehemaligen Immigranten, die Hunger und Elend erlebt haben, ein sensibles Thema. Dass es hier mehr als eine politische Parole ist, ist für sie sehr wichtig,» kommentiert Kike.

Als überzeugte Anti-Autoritäre glauben die Bewohner des Can Mas Deu mehr an Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe als an Hierarchie. Sie wollen, dass die Organisation der Gemeinschaftsgärten horizontal strukturiert ist, in Form von gemeinsamen Versammlungen. Es ist nicht immer einfach, doch die Teilnehmer halten sich daran, unter der Koordination der Bewohner des Hauses. Auch die Verwaltung des Hauses wird in zweimonatlichen Versammlungen der Bewohner bewerkstelligt, alle Entscheidungen werden im Konsens getroffen.

Verankerung im Quartier Sie ist einer der großen Erfolge des Can Mas Deu. Viele besetzte Häuser bleiben Widerstandsinseln ohne direkte Verbindung mit ihrer unmittelbaren Umgebung. Hier machen der Wille zur Öffnung und die rebellische Tradition in der Region aus Can Mas Deu einen aktiven Teilnehmer am lokalen Geschehen. «Ich kann nicht für alle Bewohner des Bezirks sprechen- wir haben 200 000 Einwohner hier. Doch ich weiß, dass alle Sozialbewegungen unseres Wohnquartiers, und diese repräsentieren viele Menschen, das Projekt unterstützen…Can Mas Deu gehört jetzt uns allen!» begeistert sich Trinidad, eine der Gärtnerinnen, die mit anderen Frauen einen Gemeinschaftsgarten bearbeitet.

Die reelle Ansiedlung begann ungefähr sechs Monate nachdem die Erstankömmlinge das Haus wieder eröffnet haben. Nachdem der Räumungsbefehl ausgegeben war, kam die Polizei, um das Haus zu räumen und fand sich in einem Szenario wieder, das sie perplex machte. Die Bewohner des Hauses waren entschlossen, der Räumung auf gewaltlose aber entschiedene Weise zu widerstehen, mit Hilfe von Techniken, die sie während der englischen Anti-Straßen-Camps 2 gelernt hatten. Sie zogen sich an Dreibeinen hoch, die sie auf dem Dach aufgebaut hatten und von wo aus sie die Polizisten nicht verjagen konnten, ohne Unfälle zu riskieren. Lange Bretter, die aus den Fenstern herausragten, dienten als unsichere Plattform und den Mauern entlang hingen Badewannen, in welchen Einige Tag und Nacht baumelten. Da die Hausbesetzerszene Barcelonas sonst eher dazu tendierte, die Polizei mit Steinen und Molotowcocktails zu empfangen, erzeugte diese Art des Widerstands Neugierde und Sympathie. Sehr bald machten sich die Medien die Geschichte zueigen, lokale Aktivisten lagerten auf den umliegenden Terrassen und besetzten eine Autobahn, um ihre Solidarität zu demonstrieren. Bewohner der Umgebung protestierten gegen das Verbot, Lebensmittel durchzulassen, und warfen volle Wasserflaschen über die Sperrlinie der Polizei. Die Belagerung dauerte drei Tage und endete mit einem spektakulären Sieg: Die Polizeibusse verließen den Ort, die Hausbewohner kletterten jubelnd aus ihren akrobatischen Gebilden, um aufs Neue das Haus mit Leben zu erfüllen.

Kleine Siege

Der Kampf geht auf juristischer Ebene weiter, mit Risiken, Niederlagen und kleinen Siegen. Man erzählt, dass ein Richter, der mit dem Fall befasst war, sich selbst an Ort und Stelle überzeugen wollte, worum es hier geht. Er platzte mitten in eine Versammlung von Frauen, und als er das Haus wieder verließ, war er so bezaubert von seinen Gastgeberinnen, dass er beschloss, kein Urteil zu fällen. Durch diese Entscheidung gewann Can Mas Deu wieder etwas Zeit.

Wie dem auch sei, nichts ist gewonnen…doch das Leben in Can Mas Deu geht weiter, als wäre es für immer. Die Bewohner säubern und unterhalten die Terrassen, um das ganze Jahr über genügend Gemüse zu haben. Sie reparieren das Haus und gestalten es so ökologisch wie möglich. Im großen Speisesaal wurde ein Sozialzentrum eingerichtet. Hunderte Barceloner kommen hier jeden Sonntag für drei Euros Mittagessen und nehmen dann an diversen Workshops teil: über den Klimawechsel, über ökologische Landwirtschaft oder die internationalen Institutionen. Sie praktizieren auch Joga oder tanzen, oder sie konsultieren die Bibliothek, die reich bestückt ist mit Büchern über Feminismus, Anarchismus oder Ökologie. Juan und José backen im selbstgebauten Brotbackofen das Brot für die ganze Woche. Eva kümmert sich um ihr Baby und stellt Waschmittel und Seife her. Die begabtesten Bastler reparieren gerade die durch Fußpedale angetriebene Waschmaschine und eines der 30 Fahrräder, die zum Haus gehören. «Das ist die Schönheit eines Lebens in einem besetzten Haus», erklärt Arnau, einer der Gründer. «Du richtest dich ein, als ob du dein ganzes Leben hier bleiben würdest, du kämpfst dafür zu bleiben. Doch du weißt ganz genau, dass das alles von einem Tag auf den anderen zu Ende sein kann. Das ist eine gute Vorbereitung auf die Endlichkeit der Dinge.»

  1. In den 1990er Jahren versuchten Tausende junge Engländer, den Bau von Autobahnen und Umfahrungs-straßen zu verhindern, welche nicht nur die Umwelt, sondern auch Wohngebiete bedrohten. Ihre Aktionen reichten vom Bau von Camps in den Bäumen an den Baustellen bis zu den bei den Gegengipfel-Demonstrationen berühmt gewordenen Blockade-

Methoden.

* Isa hat dieses Wort erfunden, sie meint damit in etwa «utopienfeindlich»

  1. Für mehr Infos über das Projekt siehe: www.utopias und Archipel Nr. 159: «Padeira - Schule der Anarchie»