Mit der Angst vor Flüchtlingen kann man in Polen derzeit politisch nur bedingt punkten – deshalb schiesst sich die polnische Regierung vor den anstehenden Europawahlen auf eine neue Minderheit ein: Schwule und Lesben und ihre «bolschewistischen LGBT-Organisationen». Es ist Wahlkampf in Polen. Im Mai stehen die Europawahlen an, im Herbst die hiesigen Parlamentswahlen. Der regierenden, nationalkonservativen Partei «Recht und Gerechtigkeit» (PiS) bläst trotz der wirtschaftlich guten Situation im Land ein scharfer Wind ins Gesicht – Umfragen deuten darauf hin, dass die Oppositionsparteien beim EU-Votum Ende Mai siegen könnten. Aus den Erfahrungen des Jahres 2015 weiss die PiS, dass sie für einen Wahlsieg die Mischung braucht: die Versprechen notwendiger Reformen, gepaart mit der Polarisierung – und einem Feindbild. Im Jahr 2015 waren es die syrischen Flüchtlinge, bei denen PiS-Chef Kaczynski «Parasiten in den Organismen dieser Menschen» vermutete. Die PiS gewann, haushoch.
Ein neues Feindbild
Nun schiesst sich die Partei mit feindseliger Rhetorik auf eine neue Minderheit ein – auf LGBT-Personen. Als Vorlage für ihr altes, in Zeiten des Wahlkampfes nun mit neuer Vehemenz aufgegriffenes Feindbild nutzt sie eine Bildungsinitiative, die Rafal Trzaskowski, Stadtpräsident Warschaus von der liberalkonservativen Bürgerplattform (PO), Anfang März angekündigt hatte. Die «Deklaration LGBT+» hat, gemäss Standards der Weltgesundheitsorganisation (WHO), zum Ziel, an staatlichen Schulen der Hauptstadt LGBT+-Jugendlichen und Kindern zu helfen, die wegen ihrer Orientierung diskriminiert werden, und eine moderne Sexual-erziehung, die es in Polen bislang nicht gibt, zu gewährleisten. Homosexualität = Pädophilie? PiS-Chef Kaczynski erkannte die Gunst der Stunde. «Wir sagen ‚Nein‘ zu den Attacken auf unsere Kinder. Wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir werden die polnischen Familien verteidigen», sagte er Mitte März bei einem Konvent seiner nationalkonservativen Partei. Andere PiS-Politiker verbreiteten die neue Angriffslinie in Windeseile. «Diese Aktivisten und Organisationen (für LGBT-Rechte; Anm. d. Red.) sind sehr brutal, sie nutzen bolschewistische Methoden», sagte etwa der PiS-Europaabgeordnete Ryszard Legutko. Regierungsnahe Medien greifen das Thema nun verstärkt auf und vermengen vor allem die Homosexualität allzu häufig mit Pädophilie. Die Stiftung «Pro – Prawo do zycia», die sich auch für ein absolutes Abtreibungsverbot einsetzt, wettert mit einer Handreichung unter dem Titel «Wie können wir Pädophile aufhalten?» gegen die Warschauer LGBT+-Initiative. «Pädophilie und Homosexualität sind eng miteinander verbunden», heisst es darin. Und die Initiative «Bewegung des 4. März» hat sich als einziges Ziel gesetzt, mit der Stimme «besorgter Eltern und Unternehmer» die Warschauer LGBT-Initiative zu verhindern.
Sexuelle Minderheiten unter Druck
Betroffene sind bestürzt und wütend. Denn seit jeher haben sexuelle Minderheiten im konservativ-katholisch geprägten Polen einen schweren Stand. Seit die PiS an der Regierung ist, hat sich die Situation noch verschlimmert. Vor allem junge Menschen werden ausgegrenzt und Opfer von physischer Gewalt. «Nach Worten wie jenen von Kaczynski beobachten wir stets, dass sich diese als Gewalt auf die Strasse übertragen, oder auch als Cyber-Bulling ins Internet», sagt Magdalena Swider von der Stiftung «Kampagne gegen Homophobie» (KPH) im Gespräch. Die Aktivistin ist Mitverfasserin einer Studie, die alle vier Jahre neu erstellt wird. Für die Jahre 2015 und 2016 konstatiert die KPH-Untersuchung, dass rund die Hälfte von LGBT+-Minderjährigen an Depressionen leiden und 70 Prozent von ihnen Selbstmordgedanken hegen. Seit ihrem Regierungsantritt 2015 hat die PiS die Bezeichnungen «Diskriminierung» und «sexuelle Orientierung» gänzlich aus den Schulbüchern und Lehrplänen getilgt. «Dabei würde Bildung in Antidiskriminierungsfragen diesen jungen Menschen helfen, mit ihrer sexuellen Orientierung umzugehen», sagt Swider. Daher schrieb auch der Verein «My Rodzice» (Wir Eltern), in der sich Väter und Mütter von LGBT-Jugendlichen zusammenschliessen, einen Protestbrief an PiS-Chef Kaczynski. «Die Heuchelei von Staat und Gesellschaft legitimiert Ungerechtigkeit und Gewalt. Wir wehren uns dagegen, unsere Kinder wie gesellschaftliche Feinde zu behandeln», heisst es darin. Dass Proteste wie diese die PiS von ihrem Kurs abbringen werden, ist unwahrscheinlich – denn es gilt für sie, die eigene Macht zu sichern. Ausserdem will die PiS die politisch rechts von ihr gebildete Koalition rechtsnationalistischer Parteien kleinhalten, die als «Konföderation» bei den EU-Wahlen antritt.
Positive Anzeichen
Doch zugleich gibt es in der polnischen Gesellschaft positive Anzeichen. So ist in den letzten Jahren die gesellschaftliche Akzeptanz für Menschen anderer sexueller Orientierung sukzessive gestiegen. Umfragen zeigen, dass inzwischen mehr als die Hälfte der Polinnen und Polen die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften befürworten. Gleichheitsparaden in Grossstädten haben immer mehr Teilnehmende – trotz oder wegen den Versuchen von Behörden, diese zu verhindern. Personen des öffentlichen Lebens, die sich geoutet haben, tragen zu der steigenden Akzeptanz bei – allen voran Robert Biedron, in den Jahren 2011 bis 2014 der erste offen schwule Parlamentsabgeordnete des Landes und zwischen 2014 und 2018 direkt gewählter Präsident der 100‘000 Einwohner·innen zählenden Stadt Slupsk. Im Februar dieses Jahres hat Biedron die neue, linksliberale Partei «Wiosna» gegründet. Sein Lebenspartner ist ebenfalls an Bord, die beiden zeigen sich im Wahlkampf gemeinsam, bei dem die Partei die gleichgeschlechtliche Ehe propagiert. Seine Partei könnte im Herbst zum Zünglein an der Waage werden – zugunsten der Opposition. Gegen die LGBT-Hetze Auch die 2015 abgewählte Bürgerplattform (PO), die rechtliche Verbesserungen für sexuelle Minderheiten stets aufgeschoben hatte, verteidigt nun den LGBT+- Vorstoss ihres Lokalpolitikers in Warschau. Grzegorz Schetyna, Chef der PO und zugleich Anführer der bei den Europawahlen startenden «Europäischen Koalition» – eines Verbunds aus fünf Parteien inklusive der postkommunistischen Linkspartei SLD – kündigte an, bei der nächsten Gleichheitsparade vorneweg zu marschieren. «Heute sind wir mit all jenen, die von Kaczynski angegriffen werden», sagte er in einem TV-Interview. Zwar ist dies auch als politisches Kalkül zu werten, mit dem inoffiziellen Ziel, den unliebsamen Konkurrenten Biedron liberale Wähler·innen abzuluchsen. Doch es zeigt, dass die wichtigste Oppositionspartei nicht mehr fürchten muss, durch ihren Einsatz für LGBT+–Personen an Zustimmung zu verlieren. In den aktuellsten Umfragen zur Europawahl liegen die Oppositionsparteien, die sich gegen die LGBT-Hetze der PiS wenden, vorne. Womöglich hat sich der PiS-Präses verspekuliert.
Jan Opielka, Gliwice, n-ost Korrespondent*
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