ITALIEN: Schiffbruch der Menschenrechte

von Barbara Vecchio, EBF, 14.04.2023, Veröffentlicht in Archipel 324

Die neue rechtsextreme Regierung Italiens hat das Jahr 2023 mit ihrem ersten Gesetz eingeläutet. Ein Gesetz, das nicht im Geringsten eine Antwort auf eine Notlage des Landes ist, sondern lediglich dazu dient, den Wählerinnen und Wählern zu versichern, dass die im Wahlkampf propagierte Politik der Abschottung und des Hasses gegenüber geflüchteten Menschen konkret umgesetzt wird.

Das Gesetz zielt erwartungsgemäss auf Rettungs-NGOs ab, denn laut Frau Meloni und ihrem Umfeld ist systematische Seenotrettung «schlecht». Denn diese ist ja der Sog, der die Verzweifelten dazu bringt, sich unter lebensgefährlichen Bedingungen auf den Weg zu machen, anstatt sich in komfortablen Flüchtlingslagern oder besser noch in ihren friedlichen Heimatländern ruhig zu verhalten. Die Leichen der Schiffbrüchigen, die am Strand von Cutro in Kalabrien liegen, sind keine Kollateralschäden, sondern das Resultat einer heimtückischen Politik, bei der die Logik der «Verteidigung gegen die Invasion» über die der Hilfeleistung gestellt wird.

Wir wissen nicht, welche Pläne und Erwartungen die Kinder, Frauen und Männer hatten, welche am 26. Februar dieses Jahres etwa 100 Meter vor der italienischen Küste in Kalabrien starben, aber wir wissen sehr wohl, woher sie kamen und wovor sie flohen. Die Toten und Überlebenden des Schiffsunglücks kamen aus Afghanistan, Iran, Pakistan und Somalia. Aus Ländern, die von Gewalt, Konflikten und autoritären Regimen heimgesucht werden. Es waren und sind Geflüchtete, die ein Recht auf Asyl hatten, wie es in der Genfer Konvention von 1951, im europäischen Recht und auch in der italienischen Verfassung verankert ist. Was soll also die Aussage von der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni, die am Tag nach dem Schiffbruch erklärte, sie wolle «die Ausreise (aus diesen Ländern, Anm. d. Red.) verhindern, um ähnliche Tragödien zu vermeiden»? Innenminister Piantedosi, Salvinis[1] Mitstreiter bei der Verabschiedung des Dekrets über die Schliessung der italienischen Häfen im Jahr 2019, setzte hinzu: «Sie hätten nicht weggehen sollen, das war unverantwortlich». Als ob diese Tragödie die Schuld unwürdiger Eltern wäre, die in frevelhafter Weise ihre Kinder auf ein illegales und unsicheres Floss mitgenommen hätten.

Das gesunkene Boot kam aus der Türkei, aus diesem «Verschiebebahnhof», dieser riesigen Falle, in der Millionen von Menschen mit dem Segen Europas festsitzen, weil sie nicht in ihr eigenes Land zurückkehren können, aber auch nicht hoffen können, sich hier ein neues Leben aufzubauen. Von der Türkei aus müssen sie also weiterziehen: entweder über die Balkanroute oder über das Meer. Wenn sie sich für eine dieser Reisen entscheiden, obwohl sie die Gefahren genau kennen, dann haben sie nichts mehr zu verlieren. Lassen wir also die billige Rhetorik und Demagogie bezüglich der Verhinderung von Ausreisen. Man wird niemals die Ausreise von Menschen verhindern können, die eingesperrt, gefoltert und ihrer Grundfreiheiten beraubt wurden, und auch nicht von all denjenigen, die Gefahr laufen, «nur» zu verhungern. Vor allem sollte des kein Ziel sein! Es ist eine verkehrte Welt, in der Opfer zu Täter·inne·n gemacht werden. Schuldig, weil sie nicht sterben wollen – in ihrem Land oder an den Aussengrenzen Europas. Schuldig sind die Geflüchteten, schuldig die NGOs, schuldig all jene, die wie der ehemalige Bürgermeister von Riace, Mimmo Lucano, versucht haben, neue Wege der Solidarität zu öffnen. Der Text des neuen italienischen Gesetzes, das die Seenotrettung regeln soll, ist eine konzeptuelle Leere, hinter der sich eine unverhohlene Drohung gegenüber den NGOs verbirgt: Es ist eine Beleidigung der Intelligenz und der Ethik, aber auch ein getreues Abbild der aktuellen politischen Landschaft Italiens.

Italien in der Festung Europa

Es stimmt, dass die Linke zu ihrer Zeit auch nicht besser war, ganz im Gegenteil, aber heute hat Italien mit Meloni und Salvini an den Schalthebeln der Macht einen historischen Tiefpunkt erreicht. Der Schiffbruch von Cutro in Kalabrien ist passiert, weil die Rettungskräfte nicht eingegriffen haben. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hatte das Schiff jedoch zuvor als in Seenot geraten gemeldet. Es gibt also Verantwortliche für diese Tragödie. Aber der Ministerrat hat festgestellt, dass alles nach den Regeln geschehen sei und die Regierung keine politische und materielle Verantwortung übernehmen müsse. Die einzigen Schuldigen seien die skrupellosen Schlepper und Menschenhändler, gegen die härtere Strafen verhängt werden müssten. Doch wir wissen: Die Regierung hätte diese Tragödie verhindern können – mit einer Strategie, die darauf abzielt, Leben zu retten statt Grenzen. Diese Tatsache streitet sie jedoch ab und gibt sich als Unschuldslamm. Und in dieser Stimmung schlägt Matteo Salvini die Aktualisierung seiner «Sicherheitsdekrete» vor, um mit der irregulären Migration abzurechnen, während Meloni sich auf die «Notwendigkeit» konzentriert, die Ausreise noch weiter im Vorfeld zu stoppen, und zwar in strikter Zusammenarbeit mit den nordafrikanischen Ländern, insbesondere Tunesien und Ägypten. Wenn man an die schon bestehenden Abkommen mit Libyen denkt, läuft einem ein kalter Schauer über den Rücken.

Die italienische Situation ist politisch sicherlich düster, aber sie ist der Spiegel eines europäischen Kontextes, in dem der letzte Schleier der Scham endgültig gefallen ist. Man spricht nicht mehr von Schutzprogrammen für Geflüchtete. Humanitärer Schutz existiert nicht mehr, Projekte zur Verbesserung des Aufnahmesystems haben in den Debatten keinen Platz mehr. Die einzigen Themen, die offenbar interessieren und die in der EU Platz finden, sind die Externalisierung, die Verstärkung der Grenzen und der Einsatz von Hightech zu diesem Zweck – bis hin zur Idee, echte und permanente Mauern zu bauen, die teilweise schon Realität sind. Genau das Gegenteil von dem, was getan werden sollte, denn, wie Gianfranco Schiavone vom CSI (Consorzio di Solidarità Italiana)[2] sagt, «würde sich niemand jemals an einen Menschenhändler wenden, wenn er an einer europäischen Grenze um Schutz bitten könnte». Heute kann Giorgia Meloni auf eine grundlegende Komplizität mit der EU zählen. Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission, freundet sich zunehmend mit den Positionen der italienischen Rechtsextremistenführerin an. Wie viele unschuldige Leben wird diese Politik der Ausgrenzung noch kosten?

Barbara Vecchio

1) Matteo Salvini von der rechtsextremen Lega war von Juni 2018 bis September 2019 Innenminister. Seit Oktober 2022 ist er Minister für nachhaltige Infrastruktur und Mobilität sowie stellvertretender Ministerpräsident im Kabinett Meloni.

2) Italienisches Konsortium für Solidarität: Hilfswerk u.a. für Geflüchtete