ITALIEN: Riace - Neues zum Prozess

von Barbara Vecchio, EBF, 12.01.2023, Veröffentlicht in Archipel 321

Im November 2022 erhielt Domenico Lucano, der ehemalige Bürgermeister von Riace, im Rathaus von Marseille die Ehrenmedaille der Stadt und teilte uns bei dieser Gelegenheit sein Erstaunen und seine Bitterkeit mit: Während er diesseits der Alpen (und im Rest der Welt) wie ein Held angesehen ist, wird er in seinem eigenen Land wie ein Verbrecher behandelt.1

Im letzten Dezember habe ich mich mit einer Prozessbeobachterin getroffen, um sie nach dem Stand der juristischen Wechselfälle rund um Riace zu fragen, und während dieses Gesprächs2 konnte ich die Tragweite von Lucanos Behauptung besser verstehen.

Zunächst zur Erinnerung: Das Gericht der ersten Instanz verurteilte Domenico Lucano Ende September 2021 zu 13 Jahren und zwei Monaten Gefängnis, was fast doppelt so viel war wie die vom Staatsanwalt geforderte Strafe von sieben Jahren. Eine sehr bizarre Angelegenheit. Insgesamt wurden die Angeklagten von Riace zu mehr als 80 Jahren Haft und zu mehr als einer Million Euro verurteilt. Ausserdem verbot ihnen das Gericht, in den nächsten fünf Jahren ein öffentliches Amt zu bekleiden. Diese völlig überzogenen Strafen lösten nicht nur in Italien, sondern weltweit Empörung aus. So entstand u.a. ein Dokument im Namen von mehr als 150 Rechtsprofessor·inn·en, in dem sie ihre Verwunderung über dieses Urteil und die Ablehnung dieses Prozesses im Allgemeinen zum Ausdruck brachten. Es blieb der Eindruck zurück, dass es sich um einen politischen Prozess handelte, der zum Ziel hatte, das Modell des Empfangs von Geflüchteten in Riace endgültig zu zerstören.

Die 900-seitige Begründung des Gerichtsurteils, die drei Monate nach der Urteilsverkündung veröffentlicht wurde, ist vollgespickt mit vernichtenden moralischen Urteilen über die Person Lucanos, so als ob die Richter den Angeklagten als ihren persönlichen Feind angesehen hätten. Das ist in einem Gerichtsverfahren mehr als fraglich: Statt über die Fakten wurde über die Person geurteilt. Auf diesen 900 Seiten wird behauptet, Lucano habe Mittellosigkeit nur vorgetäuscht, um bei seinem humanitären Publikum glaubwürdiger zu wirken, seine Ideale seien falsch, sein einziges Ziel sei es, seinen masslosen politischen Ehrgeiz zu befriedigen, und so weiter und so fort. All dies wird behauptet, obwohl keinerlei illegale Gelder entdeckt wurden, die eine persönliche Bereicherung belegt hätten, und obwohl Domenico Lucano während des Prozesses das Angebot ausschlug, bei den Europawahlen zu kandidieren, was ihm Geld und Immunität eingebracht hätte. Er wollte in Riace bleiben, weiterhin Menschen auf der Flucht aufnehmen und seinen Traum, seine Utopie weiterleben lassen.

Das Berufungsverfahren begann im Mai 2022 und zwar mit einer verwirrenden und beunruhigenden Geschwindigkeit, angesichts der sonst üblichen Langsamkeit der italienischen Justiz. Am 30. November fand dann die vierte Sitzung statt, doch bereits in der vorhergehenden im Oktober hatten die Staatsanwälte die Anklageschrift vorgestellt. Dabei wiederholten sie die Anklage der «kriminellen Vereinigung», die schwerwiegendste aller Anklagen, obwohl sie zuvor von der Verteidigung neue entlastende Beweise und Fakten für die Untersuchung erhalten hatten. In den Augen der Staatsanwaltschaft erforderten die angeblichen Straftaten in Riace eine Synergie, die nur im Rahmen einer methodischen und gut vorbereiteten Organisation hätte entstehen können – ein Gedanke, der wohl all diejenigen, die Riace und dessen fröhliches mediterranes Chaos kennen, zum Schmunzeln bringen dürfte.

Ein Abakus

Bei den Forderungen in der Berufungsverhandlung wurden die im ersten Urteil verhängten Strafen hie und da abgemildert. Lucanos Strafe soll von 13 Jahren und zwei Monaten auf 10 Jahre und 5 Monate herabgesetzt werden, was im Wesentlichen dem Durchschnitt zwischen der ursprünglichen Forderung des Staatsanwalts (7 Jahre) und dem Urteil der ersten Instanz entspricht. Als ob die Justiz ein Abakus wäre!

Am 30. November 2022 begannen die Verteidiger·innen mit ihren Plädoyers: zuerst für die Angeklagten, die wegen kleinerer Vergehen angeklagt sind, und zuletzt, bei den nächsten Sitzungen, wird die Verteidigung das Wort für Lucano ergreifen. Das Berufungsurteil wird für Februar/März 2023 erwartet. Natürlich ist es angesichts der politischen Lage in Italien mit seiner neuen rechtsextremen Regierung sehr schwierig, optimistisch über den Ausgang des Verfahrens zu sein. Die Kriminalisierung von Geflüchteten und ihren Unterstützer·innen sowie die Abschottung des Landes sind traurigerweise an der Tagesordnung, mit Auswirkungen, die über Italien hinausgehen und die auch in den internationalen Medien bekannt sind. Die heutige italienische Politik, die an allen Fronten der Krise – Wirtschaft, Energie, Gesundheit usw. – machtlos ist, zielt mehr denn je darauf ab, die Migration zum Sündenbock für alle Übel zu machen. Matteo Salvini wurde zum Infrastruktur-Minister (und damit für die Häfen) ernannt. Von diesem Posten aus geifert er mit rassistischen Äusserungen gegen die verzweifelten Bootsflüchtlinge und diffamiert deren Retter·innen.

Domenico Lucano ist bekanntlich sein Erzfeind. Statt Hass und Barrieren hatte dieser in seinem Dorf solidarische Aufnahme- und Integrationsmöglichkeiten für die Gestrandeten aufgebaut. Deswegen soll sein Ruf zerstört werden und deshalb will man ihn einsperren. Wieviele Instanzen wird es brauchen, um Gerechtigkeit zu erlangen?

Barbara Vecchio, EBF

  1. Siehe Archipel Nr. 320, Dezember 2022, «Und was ist mit Riace?».

  2. Zu hören (auf Französisch) auf Radio Zinzine: www.zinzine.domainepublic.net/?ref=7696