IRAN: Persischer Herbst

von Elisa Tossi, Radio Zinzine, 12.11.2022, Veröffentlicht in Archipel 319

Der Mord an Masha Amini am 16. September durch die Sittenpolizei hat den Iran in Brand gesetzt und ist zum Symbol für die chaotische und repressive Stimmung geworden, die sich seit dem Amtsantritt von Ali Chamenei, zunächst als Präsident (1981 bis 1989) und dann als Oberster Führer der Islamischen Revolution, nur noch verschärft hat.

Auch wenn sich viele Stimmen zur Unterstützung dieser Revolte erheben und den Mut und die Energie der iranischen Jugend hervorheben, «ist es nicht der Mut, sondern die Verzweiflung, die sie antreibt», so die Journalistin Sarah Doraghi. Die Repression, die mit den Protesten wächst, lässt nichts Gutes erwarten. Die ersten Proteste konzentrierten sich auf die Frage, ob man den Schleier tragen soll oder nicht, doch im Grunde geht es um viel mehr. Der Schleier ist heute eine Flagge, nicht nur ein Stoff, der die Köpfe der Frauen bedeckt, er ist das Symbol eines erdrückenden, erniedrigenden und dominierenden Systems. Und genau dieses Symbol der Herrschaft ist es, das die gesamte Bevölkerung heute auf den Strassen des Iran verbrennt.

Der Slogan «Frau, Leben, Freiheit» fordert ein Ende dieses hierarchischen Systems, von dem alles abhängt und das – unter dem Deckmantel der Religion – eine sexistische Herrschaft über die Frauen und über die gesamte Bevölkerung ermöglicht.

«Nun ist die islamistische Ideologie nicht der Islam. Indem sie die Scharia, die Religion als Gesetz, durchsetzt, wird die Macht de facto faschistisch, totalitär und antidemokratisch, da die Individuen nicht mehr politische Subjekte, sondern Subjekte Gottes sind». Laut der Soziologin Chala Chafik1 handelt es sich heute um ein post-totalitäres Regime, da «selbst diejenigen, die diese Ideologie vorangetrieben haben, nicht mehr daran glauben». In der Tat – eine Besonderheit im Nahen Osten – ist der Atheismus im Iran immer weiter verbreitet. Eine Art epidermische Abneigung gegen die Religion als Werkzeug zur Versklavung, hinter dem sich die Macht verbirgt. Eine Art zynische Ausbeutung der Religion für politische Zwecke, mit der sie sich als Garant für eine Erlösung im Jenseits aufspielt, während die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt und das Regime nichts für sie tut. Gleichzeitig verschleudert die «militaristisch-religiöse» Macht die Reichtümer des Landes, um ihrer geopolitischen Ideologie zu dienen. Laut Chala Chafik machten in den 1980er Jahren Linksliberale, die von der Idee des dominierenden Westens besessen waren, den Fehler, die faschistoide Kraft des Islamismus nicht zu analysieren. Nachdem Ayatollah Khomeini den Antiimperialismus und das Misstrauen gegenüber dem Westen für sich ausgespielt hatte, stattete er das Land mit parallelen militärischen Organen aus, die nicht davor zurückschreckten, jede Gruppe, die sich dem Regime widersetzte oder es kritisierte, zu massakrieren, einzusperren und aufzulösen.

Mit blossen Händen

Bereits 1979 wurde das Korps der islamischen Revolutionswächter eingerichtet, das aus mehr als 130.000 Männern besteht, auf die die reguläre Armee des Regimes keinen Einfluss hat. Ein Organ, das viele Schlüsselsektoren wie Öl, Häfen, Bauunternehmen, Schiffbau und Telekommunikation in seinen Händen hält. Andererseits sind die Bassidschis2, die von klein auf ausgebildet werden, in alle Schichten der Gesellschaft eingeschleust. Eine Art unsichtbare Miliz also, die noch grausamer ist als die politische Polizei zur Zeit des Schahs. Die Bassidschis sind sich der Bedeutung des Internets und seiner Nutzung durch die Opposition3 bewusst und versuchen, ihre eigenen Blogger auszubilden und ihren Einfluss in den Netzwerken zu festigen. Sie setzen ihre Kräfte vor allem bei regierungsnahen Kundgebungen ein. So versammelten sich beispielsweise im März dieses Jahres tausende Bassidschi-Mädchen, um Massnahmen gegen Mädchen zu fordern, die den islamischen Schleier falsch tragen.

Das Internet spielt in der Widerstandsbewegung eine zentrale Rolle. Es ist das Mittel, mit dem die Jugend eine Vorstellung von Freiheit aufbauen konnte, ein Raum, in dem Pseudonyme es ermöglichen, sich trotz Zensur auszudrücken. Es ist auch über die sozialen Netzwerke, dass die Mobilisierungen organisiert und aufrechterhalten werden. Die Machthaber kappen regelmässig den Internetzugang und versuchen, sich von ihrer chinesischen Unterstützung für ein «nationales Internet» inspirieren zu lassen. Die Bevölkerung braucht dieses Sprachrohr, um der Welt die Gräueltaten mitzuteilen, die gerade geschehen. Denn es handelt sich um ein Volk, das mit blossen Händen einer bis an die Zähne bewaffneten Macht gegenübersteht.

Im Gegensatz zu früheren Aufständen sind in Stadt und Land alle sozialen Schichten mobilisiert und es ist heute die gesamte Bevölkerung, die sich diesem Regime widersetzt, eine Bevölkerung, von der 70 Prozent unter 30 Jahre alt sind. Und obwohl es die Frauen waren, die den Aufstand initiiert haben, haben sich ihnen die Männer schnell angeschlossen. Jeden Tag werden neue Mittel des Kampfes und der Solidarität erfunden, um der wachsenden Repression zu begegnen.

Während wir dies schreiben, scheint es, dass schwerere Mittel gegen die Bevölkerung eingesetzt werden, Panzer werden ebenso mobilisiert wie ausländische (libanesische, pakistanische, afghanische) Unterdrückungsbrigaden. Auch die Kurdinnen und Kurden griffen das Thema auf und forderten bei dieser Gelegenheit ihren Willen zur Autonomie ein, indem sie skandierten, dass «Kurdistan der Friedhof der Faschisten sein wird»4. Die staatlich gelenkte Presse verweist auf «konservative terroristische Kräfte», welche die Bevölkerung manipulieren würden, und auf «die Feinde des Irans», die vom Westen aus die Fäden ziehen würden, um einen «Bürgerkrieg» zu entfachen. Laut Chala Chafik ist der Iran ein soziales Laboratorium für den gesamten Nahen Osten, aber auch für die ganze Welt.

Einige westliche Regierungen rühmen sich ihrer Unterstützung für die iranischen Frauen während sie gleichzeitig nicht davor zurückschrecken, die grundlegendsten Frauenrechte in ihren eigenen Ländern anzugreifen. So wie in Italien, wo Giorgia Meloni im Namen ultratraditioneller und christlicher Positionen mit dem Motto «Gott, Vaterland, Familie» unter anderem das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in Frage stellt. Oder wie in Frankreich, wo die Ordnungskräfte angewiesen wurden, eine Solidaritätsdemonstration mit iranischen Frauen niederzuknüppeln. Was derzeit geschieht, ist ernst. Tausende Zivilist·inn·en riskieren ihr Leben, und es ist an der Zeit, dass die führenden Politiker·innen der Welt sich dem Massaker, das im Iran stattfindet, entschiedener widersetzen.

Elisa Tossi, Radio Zinzine

  1. Iranische Soziologin und Autorin, die in Frankreich im Exil lebt, nachdem sie sich Ende der 1970er Jahre gegen den Schah engagiert hatte und mit der gewaltsamen Monopolisierung der Macht durch die Mullahs konfrontiert wurde. Auf Radio Zinzine kann man sie in «Iran, la colère von Chalah Chafiq»: www.zinzine.domainepublic.net/?ref=7505 hören. Ebenfalls auf Zinzine, «Comme un poisson sans bicyclette N°57 – Femmes sur tous les fronts» befasst sich mit den Mobilisierungen im Iran sowie mit ihrer Vereinnahmung durch «die italienischen Rechten», um ihre Islamophobie zu bedienen, während sie alle Facetten der Frauenrechte angreifen: www.zinzine.domainepublic.net/?ref=7468

  2. Eine paramilitärische Truppe, die von Ayatollah Khomeini gegründet wurde, um junge, meist benachteiligte und arbeitslose Freiwillige für die Elitetruppen im Iran-Irak-Krieg bereitzustellen. Die Bassidschis sind derzeit ein Zweig der Islamischen Revolutionsgarden, die für die innere und äussere Sicherheit des Irans zuständig sind.

  3. Insbesondere die Anhänger·innen der Grünen Bewegung, die die Wiederwahl von Mahmoud Ahmadinejad zum Präsidenten des Landes anfechten.

  4. Es sei daran erinnert, dass Mahsa Amini Kurdin war und dass der Slogan Jin, Jiyan, Azadî (Frau, Leben, Freiheit) ein kurdischer feministischer Slogan ist.