IRAK / KURDISTAN: Verlust der Saatgut-Autonomie

von Benedict Bonzi*, 04.03.2017, Veröffentlicht in Archipel 256

Der irakische Teil Kurdistans liegt in der Wiege des Weizens, eine Region, die unter dem Namen Mesopotamien bekannt ist. Dort entstanden vor ungefähr 10'000 Jahren die ersten Versuche Weizen, Gerste und Linsen aus deren Wildarten zu kultivieren. Die Region wurde zum Getreidespeicher des Iraks.

Hier wurden bis 1975 fünfundvierzig Prozent des irakischen Weizens produziert1. In dem fruchtbaren Halbmond wurden tausende unterschiedliche Getreide- und Leguminosensorten angebaut, bis im Jahr 2004 geistige Eigentumsrechte auf Saatgut eingeführt wurden. Danach waren nur noch sehr wenige Sorten für den Anbau zugelassen. Nach und nach wurde mithilfe zahlreicher unterschiedlicher Massnahmen ein neues Landwirtschaftssystem, das auf politischer und technischer Abhängigkeit beruht, eingeführt. Das Ergebnis davon war der Verlust der Lebensmittel-Autonomie, 80% der Lebensmittel müssen importiert werden2.
Seit 1961 herrschte im irakischen Kurdistan viel Gewalt, sowohl gegen die Menschen, als auch gegen ihre Umwelt. Beispiele dafür sind die «Politik der verbrannten Erde», bei der die Bevölkerung vertrieben und Minenfelder angelegt wurden, sowie der Genozid an der kurdischen Bevölkerung, bekannt geworden unter dem Namen «Anfal»3, bei dem 1988 einhundertachzigtausend Menschen der kurdischen Zivilbevölkerung getötet wurden.
Erst 1991 hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf die Giftgasangriffe gegen die kurdische Bevölkerung reagiert. Die Resolution 688 legte eine Flugverbotszone für die irakische Armee nördlich des 36. Breitengrades fest. (Gleichzeitig wurde auch eine Flugverbotszone über dem südlichen Teil Iraks zum Schutz der sunnitischen Bevölkerung eingerichtet.) Die drei Bezirke Duhok, Erbil und Souleimaniye, die mehrheitlich von Kurden bewohnt werden, erhielten in dem Zusammenhang ihre politische Autonomie. Trotz dieser politischen Autonomie wuchs jedoch die Abhängigkeit in der Lebensmittelversorgung: Die Lebensmittelhilfen und später die Saatgutgesetze, die von der amerikanischen Besatzungsmacht eingeführt wurden, hatten weiterhin die Zerstörung der Landwirtschaft und des bäuerlichen Lebens zur Folge.
Die Verwüstung der Umwelt
Im irakischen Kurdistan herrschte während ungefähr 40 Jahren Gewalt – seit Beginn des Baath-Regimes bis zum Ende des Kurdischen Bruderkrieges im Jahr 20054. Ziel der Gewalt war die Verwüstung der Umwelt, um die Bevölkerung zu vertreiben und besser zu kontrollieren. Dieser Prozess hat sich im Laufe der Zeit verstärkt. Zunächst war das Ziel, die Bevölkerung in die Städte zu treiben, wodurch ihre soziale Organisation zerstört wurde. Später folgte ihre Vertreibung durch den 1975 zwischen Irak und Iran geschlossenen Vertrag über eine Sicherheitszone von 30 km auf beiden Seiten der Grenze. 450‘000 bis 600‘000 Menschen, hauptsächlich Kurden, mussten dieses Gebiet verlassen.
Die verschiedenen Landreformen (1958, 1961 und 1975) haben die Eigentumsrechte bezüglich des Bodens verändert und einen starken Einfluss auf die Frage der Lebensmittelselbstversorgung gehabt. Saddam Hussein führte die Verstaatlichung des Saatgutes ein und seither wurde alles von Bagdad aus bestimmt: die Zuteilung von Saatgut, die Zentralisierung der Ernten und schliesslich die staatliche Zuteilung von Lebensmitteln. Dieses System hat die ländliche Gesellschaft tiefgreifend verändert, es hat die soziale Organisation und die Beziehung der Bauernschaft zu dem, was sie produzieren zerstört.
Der Höhepunkt dieses Krieges gegen die Lebensgrundlagen war die «Politik der verbrannten Erde», die von 1975 bis 1989 systematisch betrieben wurde, und durch die insgesamt 4‘500 von 5‘200 Dörfern verschwunden sind: Zerstörung der Ernten, Zerstörung der Saatgutvorräte, Abschlachten der Herden, Zerstörung von Häusern und Quellen, Auslegen von Personenminen in den Berggebieten. So hat die ländliche Bevölkerung die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen erlebt; sie wurde von ihrem Land und Boden abgeschnitten, in völlige Lebensmittelabhängigkeit gebracht und in die Städte umgesiedelt, wo bis heute noch ein Grossteil von ihr lebt.
In diesem Kontext begann 1990 der erste Golfkrieg. Nach der Invasion des Kuwait durch den Irak wurden die Kurden Opfer eines doppelten Embargos: Dem Embargo, das Bagdad über das kurdische Gebiet verhängt hatte und dem Embargo der UNO gegen den Irak. In dieser Zeit wurde die Lebensmittelversorgung schwierig und eine Rückkehr zur eigenen Landwirtschaft notwendig. Es gelang der Bevölkerung eine notdürftige Eigenversorgung trotz der weiten Wege von den Städten zu den Feldern. Die Ankunft der Lebensmittelhilfe und die Erdölerlöse haben der Landwirtschaft den endgültigen Rückschlag beschert. «Das Geld hat die Landwirtschaft im Irak vernichtet!», erklärte uns ein irakischer Akademiker in Erbil im Juni 2014.
Mit Hilfe in die Abhängigkeit
In Anbetracht der damals herrschenden extremen Not, wäre es unsinnig zu sagen, die Lebensmittelhilfe sei nicht nötig gewesen, aber die Art der Hilfe ist ausschlaggebend. 1995 wurde die Lebensmittelhilfe im Rahmen des Programms «Erdöl gegen Lebensmittel» organisiert. Dazu gehörte die Verteilung von Lebensmitteln5, sowie von industriellem Saatgut und agrochemischen Produkten. All das war für die Bevölkerung kostenfrei, die Kosten wurden von der irakischen Regierung getragen und machten 21% des Staatshaushaltes aus. Tatsächlich besteht die internationale Lebensmittelhilfe nicht aus Spenden (wie das von privaten Hilfsorganisationen praktiziert wird) sondern die Kosten müssen vom jeweiligen Staat übernommen werden: Die irakische Regierung musste die Lebensmittel bezahlen, um sie dann kostenfrei an die Bevölkerung zu verteilen.
Diese strukturelle Hilfe motiviert die Bauernschaft nicht, auf dem verwüsteten Land wieder von vorne zu beginnen. Das Beispiel des Mehls illustriert gut die Zweideutigkeit dieser Hilfsprogramme. Warum etwas produzieren oder kaufen das man geschenkt bekommt? Welchen Preis soll man einem Produkt geben, welches kostenlos von der Regierung verteilt wird? Mit dieser Art der Hilfe wird eine Situation geschaffen, in der die Weltmarktpreise zum Referenzpreis für ein Produkt werden. Unter diesen Bedingungen kann ein Kleinbauer nicht mehr wirtschaftlich sein. Die Folge ist, dass die Bevölkerung, die ursprünglich von der Landwirtschaft gelebt hat, in der Stadt bleibt und entweder eine staatliche Rente als Kriegsopfer erhält, oder eine Stelle in der Verwaltung. Ungefähr 70% der Bevölkerung im irakischen Kurdistan leben heute von staatlichen Geldern. Diese kommen aus Erdölverkäufen, wovon ein bestimmter Teil vom Staat an die Regierung der autonomen kurdischen Provinz weitergeleitet werden muss.
Ein weiterer Aspekt dieser strukturellen Hilfe hat grosse Auswirkungen auf die Landwirtschaft: Mit diesen Hilfsprogrammen, die von der UNO, der FAO und USAID (der staatlichen amerikanischen Hilfsorganisation für Entwicklung) betreut werden, wird Hybridsaatgut in grossen Mengen ins Land gebracht. Heute sind nur 22 Weizensorten im nationalen irakischen Sortenkatalog eingetragen und somit zugelassen. In der kurdischen Provinz spricht die Regierung von nur 7 angebauten Sorten. Der amerikanische Jurist Kelly T. Crosby 6, erklärt, dass in der Zeit der amerikanischen Besatzung dem bisherigen Landwirtschaftssystem ein gesetzlicher Riegel vorgeschoben wurde. Seither machen sich Bäuerinnen und Bauern, die alte Sorten anbauen, der «Saatgut-Fälschung» schuldig, während die importierten Hybridsorten als gesetzlich geregelt gelten! Nachdem auch im früheren Irak die bäuerliche Bevölkerung Opfer einer äusserst repressiven Politik waren und die Zerstörung ihrer Felder und Ernten erlebt hatte, hat die Einhaltung der Gesetze für sie grosses Gewicht.
Ungefähr hundert Gesetze wurden von den USA als Besatzungsmacht im Irak eingeführt. Das Gesetz Nr. 81 (als «Erlass Bremer» bezeichnet) betrifft das Saatgut. Es schreibt die Eintragung aller gehandelten Sorten in einen nationalen Sortenkatalog vor mit der Bedingung, dass die Sorten den in den Industrieländern gültigen Kriterien genügen: Die Sorten müssen von anderen deutlich unterscheidbar sein, sie müssen homogen sein und stabil, alle anderen Sorten sind verboten. Bei Zuwiderhandlung wird das Saatgut beschlagnahmt und zerstört. Dieses Gesetz entspricht den Anforderungen des internationalen Abkommens über geistige Eigentumsrechte im Rahmen internationaler Handelsverträge und erlaubt dem Irak, seinen Beitritt zu der Welthandelsorganisation WHO zu beantragen. Indem der Irak mit seiner Politik industrielle Landwirtschaftsbetriebe und Monokulturen für den Export fördert und die Kriterien des internationalen Agrarhandels einhält, kann er daran teilnehmen. Aber welche Folgen hat diese Politik für die lokale Bevölkerung?
Sowohl der Krieg als auch der «Frieden» haben das irakische Kurdistan völlig verändert. Die ländliche Bevölkerung erhielt eine regelrechte Schocktherapie: Durch die Einführung eines liberalen Systems wurden Lebensmittel zum Objekt während sie bis dahin Teil der Kultur waren. Können wir in Zukunft überhaupt noch von Autonomie sprechen, wenn die Bauernschft nicht mehr über das Saatgut als ihr wichtigstes Kapital verfügen, und wenn sie eigentlich von internationalen Organisationen abhängig sind?

* Die Autorin hat für ihre Studie dieses Gebiet im Mai und Juni 2013 bereist.

  1. Wallisser Yann, Etudes Rurales Nr. 186, editions de l’ecole des hautes etudes en siences sociales.
  2. Aussage des französischen Botschafters im Irak, Boris Boillon.
  3. Kampagne der Ba’ath-Partei zur Umsiedlung und Vernichtung der kurdischen Bevölkerung.
  4. Bozarslan Hamit, «conflit kurde, Le brasier oublie du Moyen Orient», Edition autrement, Paris.
  5. Regionales Statistikamt Kurdistans, 2008
  6. Crosby, Kelly T. «The United States and Iraq»: Plant Patent Protection and Saving Seed, Wash. U. Glob. Studie L. Rev. 511, 2010.