GRIECHENLAND: Ein Stimmungswandel

von Nick Bell, 17.07.2015, Veröffentlicht in Archipel 238

Mitglieder des EBF nahmen auch dieses Jahr am Saatgutfestival der Initiative Peliti in Griechenland teil – eine gute Gelegenheit, um die Stimmung im Land nach dem Regierungswechsel zu erkunden.

Der Kontrast zwischen Paranesti und Athen, dem Ausgangspunkt und Ankunftsort unserer Reise durch Griechenland vom 14. bis 24. April 2015, könnte nicht grösser sein. Die weiten bewaldeten, spärlich bevölkerten Hänge des Rhodope Gebirges entlang der bulgarischen Grenze, vergessen von den Touristenführern, im Gegensatz zu einer riesigen Metropole, einem nicht enden wollenden Teppich ohne Grünflächen, gespickt mit Hügeln aus zahllosen Gebäuden, erfüllt mit einer Geräuschkulisse von Autos, Motorrädern und Touristen.
Hauptziel unseres –viel zu kurzen – Aufenthalts in Griechenland war das neue Saatgutfestival von Peliti1. Zum dritten Mal waren wir hingerissen und beeindruckt von der Energie und der Begeisterung dieses Saatgutnetzwerkes, das immer weiter wächst und inzwischen aus 18 lokalen Gruppen plus einer Antenne in Bulgarien besteht. Die wichtigste Erneuerung ist der Bau eines Saatgut-Hauses auf dem Gelände von Peliti in Paranesti. Das Gebäude aus Stein ist fertig gestellt; Peliti hat sich mit dem Bau jedoch verschuldet und hat einen Appell für internationale Unterstützung lanciert.
Vor dem Festival haben wir uns während zwei Tagen mit den lokalen Gruppen und
Gästen aus zwanzig Ländern, darunter mehrere Bulgar_innen und einige Kämpfer_innen für freies Saatgut aus anderen Kontinenten
versammelt: Vandana Shiva und ihre Kollegin Ruchi Shroff von Navdanya, Indien, Hugo Blanco aus Peru, andere aus Tansania. Von europäischer Seite waren da unter anderen Blanche Magarinos-Rey, die Anwältin von Kokopelli aus Frankreich und Iga Niznik von Arche Noah in Österreich, die zusammen eine Arbeitsgruppe über die europäische Gesetzgebung geleitet haben. Eine der wichtigsten Begegnungen dieses Jahr war diejenige mit Julia Bar-Tal vom «Kollektiv Bienenwerder» bei Berlin, sowie mit Ferdi und Zoé Beau aus Frankreich. Alle drei haben sich in einer eindrucksvollen Aktion engagiert, deren Ziel es ist, Saatgut und Erfahrungen in Nahrungsmittelautonomie nach Syrien und insbesondere zu den dortigen Flüchtlingen zu bringen. Peliti unterstützt diese Initiative mit grossen Mengen von Saatgut. Ausserdem hat Vassilis von der Peliti-Gruppe in Athen Ausbildungslehrgänge für Gemüseanbautechniken an der türkisch-syrischen Grenze durchgeführt und Peliti hat sich entschlossen, spezielle Samenproduktionsgärten für Syrien anzulegen.
Gefährliche Goldmine
Das Peliti-Festival ist immer eine Gelegenheit, um Leute zu treffen, die in verschiedenen Initiativen in Griechenland engagiert sind. Wir haben zum Beispiel eine Delegation von Frauen aus Halkidiki, einer Region östlich von Thessaloniki, wiedergetroffen, die sich an einem sehr schwierigen Kampf gegen das Projekt eines riesigen Goldminen-Tagebaus beteiligen, der von dem kanadischen Grossunternehmen Eldorado Gold geplant ist. Wir fuhren selber für drei Tage nach Halkidiki, wo wir mit unseren Freundinnen das hässliche Loch, das bereits in den Berg gegraben wurde, besichtigten. Wenn die Gegner_innen das Projekt nicht stoppen können, wird dieses Loch mit 700 Metern Breite und 800 Metern Höhe katastrophale Auswirkungen auf den wunderbaren Wald von Skuries, das Grundwasser, die benachbarten Ortschaften und die traditionellen Aktivitäten in der Region (Tourismus, Landwirtschaft, Fischfang) haben. Die Lagerung der Abfälle, voll mit Zyanid (notwendig für den Goldabbau), ist in einer tiefen Schlucht vorgesehen, hinter einem 140 Meter hohen Staudamm, in einer erdbebengefährdeten Region. Wenn die Katastrophe hereinbricht, würde dieses hochgiftige Gemisch direkt in das Dorf Ierissos, in die Hochburg des Widerstands, fliessen. Ein anderes Dorf, Megali Panagia, wäre mit seinen 3.000 Bewohner_innen in Gefahr, evakuiert zu werden, da es ganz nahe an dem Gebiet liegt, wo es 6.000 Explosionen täglich geben soll. Vor der Wahl hatte Syriza angekündigt, dass er dem Unternehmen die Baubewilligung entziehen werde - das wurde jedoch bis heute nicht gemacht; immerhin wurde jedoch die Genehmigung für die Elektrizität auf der Baustelle zurückgezogen.
Diese Reise war für uns eine Gelegenheit, um zu erkunden, was Syriza, diese als «extrem links» eingestufte Partei, seit sie an der Regierung ist (und nicht an der «Macht», wie eine Frau von Hakidiki präzisiert hat!), ausrichten kann. Offensichtlich ist sie weit davon entfernt, die Situation zu meistern und wirklich ihre Politik entwickeln zu können. Einige Leute erklären dies damit, dass die Vermittler von Syriza bei den Verhandlungen mit der Troïka, umbenannt in «Gruppe von Brüssel», versprechen mussten, dass die «griechische Regierung keine unilateralen Massnahmen ergreife». Das kann Vieles betreffen, unter anderem den Entscheid, die Goldmine zu verbieten. Zwar gab es viel weniger Polizeipräsenz bei einer der letzten Demonstrationen in Athen, doch bei einer anderen Demonstration im April, vor den Gittern, die den Bau umzäunen, wurde unter massivem Polizeiaufgebot wiederum Tränengas eingesetzt.
In der EU-Zwickmühle
Während der zwei Tage in Athen konnten wir uns, dank mehrerer Zusammenkünfte, weiter informieren. Iphigenie Kamatsidou ist Professorin für Verfassungsrecht an der Universität von Thessaloniki und wurde gerade zur Präsidentin des Nationalen Zentrums der öffentlichen Funktion und der Lokalregierung in Athen gewählt. Sie hatte uns bereits vor zwei Jahren erklärt, wie verfassungswidrig und gegensätzlich zum europäischen Recht die Beschlüsse und Handlungen der Troïka mit ihren «Memoranden» sind.2
Sie ist auch heute sehr kritisch: «Um die Wahl des griechischen Volkes zu respektieren, muss der Regierung die Möglichkeit gegeben werden. Wenn man von ihr verlangt, die Vorschläge aus Brüssel anzunehmen, heisst das, dass man in keiner Weise auf die Forderungen eingeht, die das griechische Volk durch die Wahl im Januar gestellt hat. Wenn man will, dass Griechenland als gleichberechtigter Staat in der EU bleibt, muss man diskutieren, sich einem Dialog mit der Regierung öffnen. Ein Dialog kann nur dann ehrlich sein, wenn alle Gesprächspartner einen Teil ihrer Ideen und Strategien voranbringen können. Nachdem jedoch die Gruppe von Brüssel praktisch keinen der Vorschläge Athens akzeptiert, ist der Druck auf den Premierminister und seine Equipe riesig. Eigentlich wird von ihnen verlangt, eine Politik zu führen, die vom Volk abgelehnt wurde. (…) Warum haben unsere europäischen Partner von den vorhergehenden Regierungen keine Resultate in Zahlen verlangt betreffend den Kampf gegen die Korruption, betreffend der Steuerpolitik und der Finanzierung öffentlicher Ausgaben. Warum waren ihre Fragen nicht genauso streng, wie die gegen-über der neuen Regierung Tsipras?»
Die neue Regierung wurde mit bösen Überraschungen konfrontiert; leere Staatskassen und jede Menge weiterer Probleme: «Zum ersten Mal seit der Gründung des griechischen Staates fand keine wirkliche Machtübergabe statt. Herr Samaras hat sein Amt als Premierminister verlassen und seinen Kabinettsdirektor damit beauftragt, die Akten Herrn Tsipras zu übergeben. Diese machten schlimme Entdeckungen, insbesondere die Privatisierungen im strikt öffentlichen Bereich. Die Regierungsgebäude, sogar der Sitz des Justizministers, waren verkauft worden. Man muss jetzt Miete zahlen, um da bleiben zu dürfen. 28 Gerichte im ganzen Land wurden privatisiert und der Staat zahlt eine so hohe Miete, dass die neuen Besitzer in zehn bis zwanzig Jahren den bezahlten Preis wieder eingenommen haben werden. (…) Einerseits verlangen die Europäische Kommission und der Europarat von Griechenland ihre Regeln einzuhalten und andererseits akzeptieren dieselben, dass ein Mitgliedstaat vom europäischen Recht ausgeschlossen wird. Dies ist ein starker Widerspruch, der die Beziehung zwischen unserem Land und der Europäischen Union prägt. Mir scheint, das ist einer der Gründe, warum Syriza einige seiner Versprechen nicht halten kann.
Hoffnung für Migrant_innen?
Ein anderes Treffen: Yannis Androulidakis arbeitet als Journalist bei einem Radio, das Syriza nahesteht. Er gehört aber zu den anarchistischen und libertären Bewohner_innen des Stadtviertels Exarchia. Yannis engagiert sich für Migrant_innen und nimmt an antirassistischen und antifaschistischen Kämpfen teil. Er verurteilte stets die Politik der vorhergehenden Regierungen gegenüber Flüchtlingen und Migrant_innen aufs Schärfste, genauso wie die repressive Abschottungspolitik der EU. Jetzt sieht er eine gewisse Hoffnung in der Nominierung von Anastasia Christodoulopoulou zur Vize-Ministerin für Migration. Als Rechtsanwältin war sie bisher stark für die Rechte der Migrant_innen engagiert, und Yannis betrachtet sie als Freundin, mit der er manchen gemeinsamen Kampf geführt hat. Zum Einstieg hat sie bereits ihre Entschlossenheit mitgeteilt, die schlimmsten Gefängnislager für Flüchtlinge und Migrant_innen zu schliessen und den Kindern von Migrant_innen, die in Griechenland geboren sind, einen legalen Status zu verleihen. Doch Yannis befürchtet, dass sie gegenüber dem Polizeiminister nicht genügend freie Hand haben wird: «Man sollte niemals erwarten, dass sich eine Regierung für soziale Rechte stark macht. Vielmehr ist es wichtig, auf die Regierung Druck von der Strasse auszuüben. Einverstanden, dass es in Syriza Menschen von anderer Qualität gibt als in der Nea Dimokratia (Neue Demokratie = Rechte Partei von Antonis Samaras, welche die letzte Regierung stellte, Anm. d. Red.). In der neuen Regierung gibt es Leute, die an sozialen Kämpfen beteiligt waren, aber in der gleichen Regierung sitzen auch welche, die die Notwendigkeit leugnen, dass die unmenschlichen Bedingungen für die Migrant_innen geändert werden müssen. Deshalb bleiben wir auf der Strasse präsent.»
Yannis erzählt uns, dass die anarchistische und autonome Bewegung einige Punkte gegen die Faschisten der «Goldenen Morgenröte» gewonnen hat. So konnte sie erreichen, dass sich die Rechtsextremen aus mehreren Stadtquartieren zurückziehen mussten. Bedenklich ist jedoch, dass angeblich 30 bis 40 Prozent der Polizisten, Soldaten und Grenzwächter für diese Neonazi-Partei gestimmt haben.
Wir treffen noch Alex, der als inoffizieller «Bürgermeister des Dorfes Exarchia» gilt. Er gibt uns seine vorläufige Einschätzung: «Es ist noch zu früh, um wirklich beurteilen zu können, was sich verändert hat, weil Syriza ja erst seit drei Monaten im Amt ist. Die Wählerinnen und Wähler, die in den sozialen Bewegungen engagiert waren und es noch immer sind, äussern die meisten Kritiken. Es gibt eine Tendenz, welche die Frage stellt: Was machen die eigentlich jetzt da in der Regierung? Sie sagen etwas und machen das Gegenteil. Die Regierung Syriza versucht eben, es Allen Recht zu machen, der Linken und der Rechten. Aber indem sie das tut und ihre eigene Ideologie verleugnet, wird sie sich selber zerstören.»
Stadt-Land-Beziehungen
Wir befragen Alex zum Thema der Verbindungen zwischen Stadt und Land: «Ich denke, die gab es schon vor der jetzigen Krise. Mit der Krise hat sich das Phänomen natürlich verstärkt und heute machen die Menschen, die aufs Land zurückkehren, eine grosse Bewegung aus. Sie bearbeiten Parzellen, die sie entweder pachten, geschenkt bekommen oder die im Familienbesitz sind. Manchmal genügt es, eine kleine Initiative zu starten, um Verbindungen zwischen Stadt und Land herzustellen. So haben wir zum Beispiel auf dem Platz hier in Exarchia während zwei Jahren einen Markt organisiert, der Bäuerinnen und Bauern mit den Menschen zusammenbrachte, die ihre Produkte verarbeiten. So kam eines Tages ein Bauer aus einem kleinen Dorf von Korinth nach Exarchia; es war das erste Mal, dass er hierher kam. Er kannte Exarchia nur durch das Fernsehen als Ort von Gewalt, Chaos und Molotow-Cocktails. Der Bauer hat am Markt teilgenommen und dann den Park besucht, den wir eingerichtet haben. Vassilis gab ihm Saatgut von einer Sorte, die der Vater des Bauern angebaut und seitdem nicht mehr gesehen hatte. Dann ging er in unser ‚soziales Zentrum‘ in einem besetzten Gebäude und beteiligte sich an einer Debatte über Landwirtschaft und erneuerbare Energien. Schliesslich fragte er: ‚Ist das etwa ein besetztes Haus? Und der Park ist auch besetzt? Und ihr alle seid Anarchisten?‘ Nicht alle, aber wir gehören alle zu der gleichen Bewegung, war unsere Antwort. ‚Warum redet überhaupt niemand am Fernsehen darüber?‘ Dann ist er gegangen. Er ist in sein Dorf zurückgekehrt und hat den anderen Bauern berichtet. Die waren begeistert. Er rief an und lud uns ein, in seinem Dorf über nicht-hierarchische Versammlungen und Selbstorganisation zu reden. Und dann haben uns die Bauern ein Stück Land zur Bearbeitung vorgeschlagen. Das war ein sehr schönes Erlebnis! Ähnliche Dinge passieren immer mehr in Griechenland, weil viele Leute aus unserer Bewegung aufs Land gegangen sind und gleichzeitig einen guten Kontakt zur Stadt haben. Wir sollten dieses Netzwerk weiter stärken. Dabei genügt es nicht, einen alternativen Lebensstil zu pflegen und den Staat weitermachen zu lassen wie bisher. Man muss etwas sehr Solides schaffen, das alle Aspekte miteinbezieht, um zu zeigen, dass eine neue Welt möglich ist. Es geht nicht nur um einen Teil, sondern um die ganze Welt, damit wir eines Tages zu einem autonomen Leben und zur Selbstorganisation gelangen können.»
Alle Menschen, die wir trafen, begrüssen den Stimmungswandel: Ein Fenster wurde geöffnet und frische Luft strömt herein. Wir haben aber auch den Beginn einer Enttäuschung gespürt. Dies ist jedoch ein Grund mehr für die engagierten Menschen, nicht nachzugeben.

  1. Massnahmenkatalog, der von der Troïka und der griechischen Regierung erstmals im Mai 2010 festgelegt wurde und seither praktisch die Griechische Verfassung abgelöst hat und ersetzt.