GESTERN - HEUTE - MORGEN: Gottverdammt modern

von Norbert Trenkle,, 16.12.2015, Veröffentlicht in Archipel 243

Nach den Anschlägen in Paris im Januar 2015 wies Norbert Trenkle darauf hin, dass der Islamismus nicht aus der Religion erklärt werden kann. Leider ist sein Artikel heute, nach den Massakern vom 13. November in Paris, mindestens genauso aktuell wie vor einem Jahr. 1. Teil.

Wie immer nach einem islamistischen Terrorakt, kreiste auch nach dem Massaker in der Redaktion von Charlie Hebdo und im jüdischen Supermarkt in Paris die öffentliche Debatte sogleich um die Frage, was denn nun «der Islam» damit zu tun habe. Immerhin wurde diese Frage auf offizieller politischer Ebene und in den Massenmedien diesmal deutlich weniger aggressiv gestellt als bei vorangegangenen Anlässen. Es überwog der Tenor, die Gesellschaft dürfe sich nicht spalten lassen, und terroristische Gewalt sei von keinem religiösen Standpunkt aus zu rechtfertigen. Doch das klang ein wenig wie das berühmte Pfeifen im Walde. Denn es ist leider ziemlich klar, dass die Wahnsinnstaten von Paris Wasser auf die Mühlen des rassistischen und nationalistischen Fundamentalismus in ganz Europa sind, der immer lautstarker verkündet, der Islam sei seinem Wesen nach mit den Werten der «abendländischen Zivilisation» nicht vereinbar und Muslime hätten daher hier nichts zu suchen.
Die Falle des Kulturalismus
Gegenüber dieser bis weit in die sogenannte gesellschaftliche Mitte verankerten Vorstellung erscheinen die Harmoniebekundungen der offiziellen Politik ziemlich hilflos. Das liegt nicht nur daran, dass rassistische Einstellungen gegenüber rationalen Argumenten ohnehin weitgehend immun sind, sondern am Bezugsrahmen des Diskurses selbst. Wenn Regierungspolitik und ein Großteil der Medien auf den von Front National, Pegida und der britischen UKIP (UK Indipendence Party) ganz offen propagierten «Kampf der Kulturen» mit der Forderung nach einem «Dialog der Kulturen» antworten, übernehmen sie stillschweigend die Konfliktdefinition ihrer Gegner. Wie die Kulturkämpfer gehen sie davon aus, dass es um das Verhältnis von unterschiedlichen Religionsgemeinschaften und den darauf beruhenden «Kulturen» gehe. Behaupten die einen, der Islamismus im Allgemeinen und der islamistische Terror im Besonderen seien im Islam angelegt, so beharren die anderen darauf, es handle sich hier um die falsche Interpretation einer Religion, die in ihrem «wahren Kern» nicht mit Gewalt und Intoleranz vereinbar sei. Wer sich jedoch auf diesen diskursiven Bezugsrahmen einlässt, ist bereits gewollt oder ungewollt in die Falle des Kulturalismus getappt (vgl. Lohoff 2006).
Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Phänomen des islamischen Fundamentalismus erfordert einen Standpunktwechsel und eine konsequente Kritik der kulturalistischen Imaginationen. Um es auf den Punkt zu bringen: Den Islamismus aus dem Islam erklären zu wollen, ist ungefähr genauso sinnvoll, wie der Versuch, den Nationalsozialismus aus der Nibelungensage oder den Edda-Liedern abzuleiten. Natürlich berufen sich die islamistischen Eiferer mit ebenso aufreizender wie ermüdender Penetranz auf den Koran und den Propheten, tatsächlich aber scheren sie sich einen feuchten Kehricht um theologische Diskussionen und Spekulationen; für sie ist der Islam das, was sie daraus machen, also genau das, was ihrem subjektiven, identitären Bedürfnis entspricht. Die überlieferten religiösen Erzählungen sind für sie nichts anderes als kulturelle Chiffren und Codes, deren sie sich bedienen, um ihren prekären Subjektstatus abzusichern. Die Islamisten sind alles andere als religiöse Traditionalisten, die den Zug in die Moderne verpasst hätten oder sich weigerten, auf ihn aufzuspringen. Es handelt sich vielmehr um höchst moderne, kapitalistisch geprägte Individuen, die gerade als solche den Halt in einem scheinbar mächtigen Kollektiv suchen, mit dem sie sich identifizieren können.
Identifikation mit einem Großsubjekt
Dieser Drang zur Identifikation mit einem Kollektivsubjekt ist alles andere als neu. Er gehört zur konstitutiven Grundausstattung des modernen, für die Warengesellschaft formatierten Individuums und begleitet die Geschichte der Modernisierung seit dem frühen 19. Jahrhundert. Verwundern kann das nicht. Denn die Zumutung, sich gesellschaftlich als vereinzeltes Partikularsubjekt betätigen zu müssen, stets darauf bedacht, seine Privatinteressen durchzusetzen und die anderen Gesellschaftsmitglieder letztlich nur als Instrumente dieses Zwecks zu betrachten, diese Zumutung erzeugt das dringende Bedürfnis, in einer imaginierten Gemeinschaft aufzugehen, in der diese Vereinzelung und wechselseitige Instrumentalisierung scheinbar aufgehoben ist. Diese Identifikation mit einem Großsubjekt besänftigt zugleich das Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem eigenen Gesellschaftszusammenhang, der dem Einzelnen als versachlichtes Zwangsaggregat gegenübertritt, denn es bietet die ideale Projektionsfläche für kompensatorische Allmachtsphantasien. Standen dabei im Verlauf der kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte zunächst die klassischen Großsubjekte Nation, Volk und Klasse im Vordergrund, so sind seit gut drei Jahrzehnten jedoch die Religionsgemeinschaften wieder groß im Kommen – und zwar keinesfalls nur im sogenannten islamisch geprägten Raum, sondern ebenso in Gestalt des protestantischen Fundamentalismus, der evangelikalen Sekten in Lateinamerika und Afrika, oder des Hindunationalismus. Makrogesellschaftlich liegen die Ursachen dieses globalen «Megatrends» sicherlich im Niedergang der großen Säkularreligionen des bürgerlichen Zeitalters, insbesondere des Sozialismus und des Nationalismus, begründet. Denn im Zuge der krisenhaften Globalisierung ist der Staat als regulatives Gegengewicht zu den Imperativen des Marktes weitgehend entmachtet oder – wie in vielen Regionen der ehemaligen Dritten Welt – gleich ganz zermahlen worden, während gleichzeitig der quasi-religiöse Fortschrittsglaube des früh- und hochkapitalistischen Zeitalters tagtäglich von den sich verschärfenden ökologischen Katastrophen und dem zunehmenden sozialen Ausschluss dementiert wird.
Religionismus
Angesichts dessen erscheint vielen Menschen die Flucht in religiöse Jenseitsphantasien zunehmend als gangbarer Ausweg; aber das hat mit einer vermeintlichen Rückkehr zu traditionellen Formen der Religiosität rein gar nichts zu tun, auch wenn dies oft so interpretiert wird. Vielmehr haben wir es mit einer ganz und gar modernen Erscheinung zu tun, die man als Religionismus bezeichnen kann, eben weil sie den Platz der großen -Ismen einnimmt, die das bürgerliche Zeitalter bestimmt und geprägt haben (vgl. Lohoff 2008). Dieser grundlegend moderne Charakter kommt insbesondere auch im Verhältnis der Individuen zu den entsprechenden Identitätsangeboten zum Ausdruck. Ihre Zugehörigkeit zu einer religionistischen Gemeinschaft wird durch nichts anderes bestimmt als durch den persönlichen Willensakt der Individuen – mag dieser auch nicht unbedingt bewusst und rational vollzogen worden sein. Es ist genau dieser Akt, in dem sich die Individuen als moderne Willenssubjekte betätigen. Sie werden nicht in ein vorausgesetztes Universum bestimmter traditioneller und religiöser Werte, Überzeugungen und Praktiken hineingeboren, die sie dann wie selbstverständlich übernehmen; vielmehr müssen sie sich für oder gegen ein bestimmtes Identitätsangebot entscheiden – oder auch dafür, sich diesem Zwang zur Identifizierung zu verweigern.
Daher lautet die Frage, die angesichts des islamistischen Terrors gestellt werden muss, also nicht, was das mit «dem Islam» zu tun habe, sondern warum unter all den Religionismen, die in den letzten Jahrzehnten entstanden und großgeworden sind, der Islamismus die Gestalt eines besonders aggressiven Gegenwurfs zu den sogenannten westlichen Werten angenommen und einen so starken terroristischen Flügel hervorgebracht hat. Diese Frage lässt sich aber nur beantworten, wenn wir sie aus dem Himmel windiger theologischer Spekulationen auf den Boden gesellschaftskritischer Analyse zurückholen und die spezifischen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, unter denen der Islamismus entstanden und wirkmächtig geworden ist, näher betrachten…
Norbert Trenkle,

Publizist, Mitherausgeber der Zeitschrift Krisis*
Der zweite Teil dieses Artikels erscheint im nächsten Archipel.
* www.krisis.org
Literaturnachweise:

  • Alevitische Gemeinde Deutschland e.V. (2013): Salafismus in Deutschland.
  • Julian Bierwirth (2005):Irrationalismus und Verschwörungswahn.
  • Klaus Holz (2005): Die Gegenwart des Antisemitismus.
  • Karl-Heinz Lewed,«Erweckungserlebnis als letzter Schrei», Krisis 33, 2010.
  • Karl-Heinz Lewed,«Finale des Universalismus», Krisis 32, 2008.
  • Ernst Lohoff: «Die Exhumierung Gottes», Krisis 32, 2008.
  • Ernst Lohoff (2006): Gott kriegt die Krise
  • Olivier Roy: «Wiedergeboren, um zu töten. Der terroristische Islamismus ist keine traditionelle, sondern eine höchst moderne Glaubensrichtung. Sie wurzelt in Europa», DIE ZEIT , 21. Juli 2005.