Die Betrachtungsweise vom Lebewesen als Maschine führt heute zu einer «Eugenik» nach kapitalistischen Vorstellungen und zur Verachtung der Komplexität des Lebewesens. Die Wissenschaft befindet sich in einer Sackgasse. Letzter Teil des Artikels zu André Pichots Geschichte der Biologie.
Die Erkenntnisse über das Leben an sich betreffen uns mehr als alles andere, da wir selber Lebewesen sind. Zu wissen, was Lebewesen sind, heißt auch, mehr über uns selber zu erfahren, besser den Platz des Menschen in der Natur und dem Kosmos zu erfassen. Die Biologie hat sich also auch immer mit sozialen und politischen Problemen befasst. Viele Ideologien und Herrschaftsformen haben Wissenschaft und «Naturgesetze» benützt, um Umstürze zu rechtfertigen oder im Gegenteil an der herrschenden Ordnung festzuhalten. Allen gemeinsam war, dass, aufgrund ihrer «wissenschaftlichen» Erkenntnisse über die «menschliche Natur"1, die soziale Frage auf eine einfache technische Problematik zurückzuführen sei.
Rentabilisierung der Wesen
Das heutige Verständnis der Lebewesen als Maschinen ist untrennbar damit verbunden, dass wir in einer kapitalistischen und industriell geprägten Gesellschaft leben. Pichot ist sich dieses Problems bewusst. Hier der Schluss aus seinem Werk über die Geschichte der wissenschaftlichen Theorien der Eugenik und des Rassismus:
«In den Bereichen Gesellschaft und Politik haben Genetiker nichts zu suchen, die Kommentare und Empfehlungen sollten von Politik- und Rechtsphilosophen kommen. Da diese schweigen und das Terrain an die Biologen abgeben, was sie keinesfalls tun sollten, wage ich, an ihre Stelle zu treten. Ich behaupte, auch wenn die objektiven Qualitäten (sowohl physisch als auch intellektuell) der Menschen verschieden sein können, sei es durch Vererbung oder Aneignung, erreicht dies nicht die Menschen in ihrem Wesen, denn diese Menschen lassen sich nicht zu einer Gesamtheit von objektiven Qualitäten reduzieren. Es sind keine Objekte, keine menschlichen Ressourcen, mit denen man die Rentabilität oder den Beitrag zum Fortschritt misst. So gesehen sind sie nicht gleich und nicht verschieden, sie sind unvergleichbar. Und weil sie unvergleichbar sind, sind sie alle gleich, aber diese Gleichheit lässt sich nicht messen oder vergleichen, sie basiert auf Würde und Recht.»2
Nur ist es so, dass in den industrialisierten, kapitalistischen Gesellschaften das menschliche Wesen immer mehr als «menschliche Ressource» für die großen Körperschaften gesehen wird, seine objektiven Qualitäten werden immer stärker evaluiert und das Leben messbar und sichtbar gemacht, um den Beitrag eines jeden Individuums zum Fortschritt, zur Innovation und zur Rentabilität zu erfahren. Allein das Prinzip der Lohnarbeit neigt dazu, das menschliche Wesen zu einer Art Maschine zu reduzieren, die sich mit Hilfe von allerhand technologischen Prothesen an die Vorgaben des wirtschaftlichen Fortschritts anzupassen hat.
Aus diesem Grund tragen wir zum erneuten Aufkommen der Eugenik bei, diesmal nicht von Staates wegen, sondern für den Markt. Individuelle Eugenik in Form vom «Kind nach Maß» und ohne Fehler, die Wissenschaft begleitet die Fortpflanzung und garantiert den Gewinn aus der «elterlichen Investition».
Es gibt außerdem die Erscheinung des «Post- oder Transhumanismus», des optimierten Menschen, die in den Sphären der Macht einen größer werdenden Einfluss hat. Es sind wirre Ideen von der Verbindung zwischen Mensch und Maschine3. Diese ultra-wissenschaftlichen Ideologien zeigen nicht nur auf, dass der Mensch der perfektionierten Maschine unterlegen ist, ja dass der Mensch in der Industriegesellschaft überflüssig wird4. Sie behaupten auch, dass die Dominanz der Technik über den Menschen ein nötiger Fortschritt ist, eine unvermeidbare Form der biologischen Evolution, in deren Kampf ums Überleben unsere Art verstrickt ist. Diese Ideologien sehen die Maschine als nächstes Stadium der Evolution, dazu bestimmt, den Menschen zu verdrängen.
«Selbst wenn der Mensch für die Maschinen zu dem wird, was Hunde und Katzen für uns sind, wird er trotzdem weiterleben. Als Haustier unter der wohlwollenden Herrschaft der Maschinen wird er vermutlich besser leben als in der Wildnis, in der er sich aktuell befindet. [...] Man kann davon ausgehen, dass uns die Maschinen wohlwollend behandeln werden, denn ihre Existenz hängt aus nachvollziehbaren Gründen von der unseren ab. Sie werden uns mit eiserner Hand regieren, aber sie werden uns nicht fressen.»5
Science fiction?
Eine pragmatischere Version dieser die Schöpfung konkurrierenden Projekte, die bei den Mächtigen genauso in Mode ist, ist die synthetische Biologie. Sie hat den Ehrgeiz, lebende Organismen zu kreieren, die eine bestimmte Funktion erfüllen, ähnlich wie Ingenieure Maschinen für eine ganz bestimmte Aufgabe entwickeln. Zurzeit sind das noch hauptsächlich umprogrammierte Bakterien, die im Rahmen eines gesamten Engineerings zur Herstellung von komplexen Molekülen, wie etwa bei Brennstoffen oder Medikamenten, dienen. Das sind vorläufig noch «Laborspielchen» und meist noch weit von einer industriellen Nutzung entfernt. Wenn man die Summen ansieht, die Staaten und große Unternehmen in solche Forschungsprojekte stecken, scheint es einiges allerdings ernst damit zu sein.
In einem kürzlich erschienenen Dokumentarfilm6 erklärt ein gewisser Philippe Marlière, der wichtigste Wortführer dieser Technowissenschaftsszene in Frankreich: «Es ist eine Revolution, anstatt zu versuchen, die bestehenden Lebewesen zu verstehen, [...] sind wir bestrebt, neue zu konstruieren, zu erschaffen.» 7 Etwas später hört man auch: «Die Revolution geht nicht von den Wissenschaftlern aus, sondern von den Ingenieuren […], die imstande sind, lebendige Maschinen zu erfinden und herzustellen, ohne Spezialisten für Biologie zu sein.» Anders gesagt ist das, was uns hier als unwiderstehliche Kraft der synthetischen Biologie vorgeführt wird, nichts anderes als die totale Missachtung, ja Verachtung8 gegenüber der Natur der Lebewesen!
Ins selbe Horn blies Geneviève Fioraso9, ehe sie in Frankreich Ministerin für Wissenschaft und höhere Bildung wurde. 2012 hat sie einen Report über die Herausforderung der synthetischen Biologie herausgegeben. Ein Kapitel darin trägt den Titel: «Die Komplexität des Lebendigen, ein Schloss, das es für die synthetische Biologie zu knacken gilt». Das Lebendige ist tatsächlich viel zu komplex, verglichen mit dem Modell des maschinellen Lebewesens, das der modernen Biologie vorschwebt. Die synthetische Biologie hat also den Ehrgeiz, endlich Wesen zu schaffen, die der Vorstellung der kapitalistischen und industrialisierten Gesellschaft entsprechen. Die Natur hat sich den Vorstellungen der Forscher und Investoren um jeden Preis unterzuordnen. Was für tödliche Technologien werden aus diesen Laboren kommen? Was für neuerliche Enteignungen und Schäden werden durch ihre vermehrte Anwendung auf uns zukommen?10
Raus aus der Sackgasse
Hier kommen wir ans Ende der Sackgasse, die das Verständnis des Lebewesens als Maschine darstellt. Vielleicht wäre es an der Zeit, hier das Fortschrittsdenken zu beenden und einen Schritt zurück zu tun, raus aus dieser düsteren Form von Wissenschaft und hin zu einer farbigeren und großzügigeren Sicht auf das Leben. Finden Sie nicht?
André Pichots «historische Diagnose» der modernen Biologie ist also richtig, bleibt aber ohne Handlungsaufruf11. Leider führt seine Analyse nicht über die oben erwähnten Feststellungen hinaus und seine Ausführungen berühren die Frage der sozialen Emanzipation nur am Rande. Er hat jedoch die Basis für ein neues Verständnis des Lebens gelegt und für ihn gibt es nur den von ihm aufgezeigten Weg, den die Forschung in Zukunft gehen kann. Dennoch möchte ich darauf hinweisen, dass die von Pichot aufgezeigte Kritik am Lebewesen als Maschine neue Perspektiven aufzeigt, die industrialisierte, kapitalistisch organisierte Gesellschaft in Frage zu stellen.
- Marshall Sahlins, La Nature humaine: une illusion
occidentale, 2008, éd. De L’Eclat, 2010 - A. Pichot, La société pure, de Darwin à Hitler, 2001, Seite 435
- Dokumentarfilm auf Arte, realisiert von Philippe Borel
- Günther Anders, L’obsolescence de l’homme, sur
l’ ame à l’époque de la deuxiéme révolution industrielle, 1956; ed. EdN, 2002 - Samuel Butler, Erewhon, 1870; éd.Gallimard,
coll. L’imaginaire, 1981, Seite 261 - Dokumentarfilm auf Arte, realisiert von Laetizia Ohnona
- Über Philippe Marliere siehe auch die Analysen von Hervé Le Crosnier
- im politischen Science-Fiction-Roman 1984 von George Orwell von 1948 ist einer der Slogans der totalitären Partei « Wissen ist Macht»
- Ihr Porträt «Geneviève Fioraso, l’ élue augmentée» erschien in Le Postillon, journal de Grenoble et de sa cuvette Nr. 14, Februar-März 2012
- Siehe die Untersuchung der kanadischen Vereinigung ETC Biomassacre – La biologie synthétique menace la biodiversité et les modes de subsistance, 2011, www.etcgroup.org
- A. Pichot, Mémoire pour rectifier les jugements du public sur la révolution biologique, Zeitschrift Esprit, August-September 2003