Seit dem 24. Februar 2022 ist der Krieg in der Ukraine Gegenstand zahlreicher Erklärungen, auch innerhalb der internationalen feministischen Bewegung. Die Stimme der ukrainischen Feministinnen wurde jedoch bislang nicht gehört. In einem Manifest rufen sie dazu auf, das Recht der Frauen* zu verteidigen, Widerstand zu leisten und ihre politische Strategie gegenüber der ukrainischen Regierung eigenständig zu bestimmen.
Wir, Feministinnen aus der Ukraine, rufen Feministinnen auf der ganzen Welt auf, sich mit der Widerstandsbewegung des ukrainischen Volkes gegen den von der Russischen Föderation entfesselten räuberischen, imperialistischen Krieg zu solidarisieren. Kriegsnarrative stellen Frauen oft als Opfer dar. In Wirklichkeit spielen Frauen aber auch eine Schlüsselrolle in den Widerstandsbewegungen, sowohl an der Front als auch an der Heimatfront: von Algerien bis Vietnam, von Syrien bis Palästina, von Kurdistan bis zur Ukraine.
Die Autorinnen des Manifests «Feministischer Widerstand gegen den Krieg» sprechen den ukrainischen Frauen dieses Recht auf Widerstand ab, das einen grundlegenden Akt der Selbstverteidigung der Unterdrückten darstellt. Im Gegensatz dazu betrachten wir feministische Solidarität als eine politische Praxis, die auf die Stimmen derjenigen hören muss, die direkt von imperialistischer Aggression betroffen sind. Feministische Solidarität muss das Recht der Frauen verteidigen, ihre Bedürfnisse, politischen Ziele und Strategien zur Erreichung dieser Ziele selbst zu bestimmen. Ukrainische Feministinnen haben schon lange vor dem jetzigen Zeitpunkt gegen systemische Diskriminierung, Patriarchat, Rassismus und kapitalistische Ausbeutung gekämpft. Wir haben diesen Kampf sowohl während des Krieges als auch in Friedenszeiten geführt und werden ihn auch weiterhin führen. Die russische Invasion zwingt uns jedoch, uns auf die allgemeinen Verteidigungsbemühungen der ukrainischen Gesellschaft zu konzentrieren: den Kampf ums Überleben, um grundlegende Rechte und Freiheiten, um politische Selbstbestimmung. Wir fordern eine sachkundige Bewertung einer konkreten Situation anstelle einer abstrakten geopolitischen Analyse, die den historischen, sozialen und politischen Kontext ausser Acht lässt. Abstrakter Pazifismus, der alle am Krieg beteiligten Seiten verurteilt, führt in der Praxis zu unverantwortlichen Lösungen. Wir pochen auf den wesentlichen Unterschied zwischen Gewalt als Mittel der Unterdrückung und als legitimes Mittel der Selbstverteidigung.
Die russische Aggression untergräbt die Errungenschaften der ukrainischen Feministinnen im Kampf gegen politische und soziale Unterdrückung. In den besetzten Gebieten setzt die russische Armee Massenvergewaltigungen und andere Formen geschlechtsspezifischer Gewalt als militärische Strategie ein. Die Errichtung des russischen Regimes in diesen Gebieten birgt die Gefahr der Kriminalisierung von LGBTIQ+-Personen und der Entkriminalisierung häuslicher Gewalt. In der gesamten Ukraine wird das Problem der häuslichen Gewalt immer akuter. Die weitgehende Zerstörung der zivilen Infrastruktur, die Bedrohung der Umwelt, die Inflation und die Verknappung sowie die Vertreibung der Bevölkerung gefährden die soziale Reproduktion. Der Krieg verschärft die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und verlagert die Arbeit der sozialen Reproduktion – unter besonders schwierigen und prekären Bedingungen – weiter auf die Frauen. Die steigende Arbeitslosigkeit und der Angriff der neoliberalen Regierung auf die Arbeitnehmer·innenrechte verschärfen die sozialen Probleme weiter. Auf der Flucht vor dem Krieg sind viele Frauen* gezwungen, das Land zu verlassen, und befinden sich aufgrund von Hindernissen beim Zugang zu Wohnraum, sozialer Infrastruktur, stabilem Einkommen und medizinischer Versorgung (einschliesslich Verhütung und Abtreibung) in einer prekären Lage. Sie laufen auch Gefahr, in die Falle des Sexhandels zu geraten. Wir rufen Feministinnen aus aller Welt auf, unseren Kampf zu unterstützen.
Wir fordern:
das Recht auf Selbstbestimmung, den Schutz des Lebens und der Grundfreiheiten sowie das Recht auf (auch bewaffnete) Selbstverteidigung für das ukrainische Volk – wie auch für andere Völker, die imperialistischer Aggression ausgesetzt sind.
einen gerechten Frieden auf der Grundlage der Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes sowohl in den von der Ukraine kontrollierten Gebieten als auch in den vorübergehend besetzten Gebieten, der die Interessen von Arbeiter·innen, Frauen, LGBTIQ+-Menschen, ethnischen Minderheiten und anderen unterdrückten und diskriminierten Gruppen berücksichtigt.
internationale Verurteilung der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der imperialistischen Kriege der Russischen Föderation und anderer Länder.
wirksame Sicherheitsgarantien für die Ukraine und wirksame Mechanismen zur Verhinderung weiterer Kriege, Aggressionen und der Eskalation von Konflikten in der Region und in der Welt.
Freizügigkeit, Schutz und soziale Sicherheit für alle Geflüchteten und Binnenvertriebenen, unabhängig von ihrer Herkunft.
Schutz und Ausbau der Arbeitnehmer·innenrechte, Widerstand gegen Ausbeutung und Überausbeutung sowie Demokratisierung der Arbeitsbeziehungen.
Priorisierung des Bereichs der sozialen Reproduktion (Kindergärten, Schulen, medizinische Einrichtungen, soziale Unterstützung usw.) beim Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg.
Erlass der Auslandsschulden der Ukraine (und anderer Länder der globalen Peripherie) für den Wiederaufbau nach dem Krieg und Verhinderung einer weiteren Austeritätspolitik.
Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt und Gewährleistung der wirksamen Umsetzung der Istanbul-Konvention.
die Achtung der Rechte und die Stärkung der Rechte von LGBTIQ+ Menschen, nationalen Minderheiten, Menschen mit Behinderungen und anderen diskriminierten Gruppen.
die Umsetzung der reproduktiven Rechte von Mädchen und Frauen, einschliesslich des allgemeinen Rechts auf Sexualerziehung, medizinische Dienstleistungen, Medizin, Verhütung und Abtreibung.
garantierte Sichtbarkeit und Anerkennung der aktiven Rolle der Frauen im antiimperialistischen Kampf.
die Einbeziehung der Frauen in alle gesellschaftlichen Prozesse und Entscheidungsprozesse sowohl im Krieg als auch in Friedenszeiten, gleichberechtigt mit den Männern.
Schutz und Ausbau der Arbeitnehmer·innenrechte, Widerstand gegen Ausbeutung und Überausbeutung und Demokratisierung der Arbeitsbeziehungen.
Der russische Imperialismus bedroht heute die Existenz der ukrainischen Gesellschaft und betrifft die ganze Welt. Unser gemeinsamer Kampf gegen ihn erfordert gemeinsame Prinzipien und globale Unterstützung. Wir rufen zu feministischer Solidarität und Aktion auf, um Menschenleben sowie Rechte, soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit zu schützen. Wir stehen für das Recht auf Widerstand. Wenn die ukrainische Gesellschaft sich nicht aktiv wehrt, dann gibt es keine ukrainische Gesellschaft mehr. Wenn Russland die Waffen niederlegt, endet der Krieg.
European network for solidarity with Ukraine
- Unter Frauen verstehen wir alle, die sich selbst als solche definieren, unabhängig davon, ob ihnen dies bei der Geburt zugewiesen wurde oder nicht.