FRANKREICH / NUKLEARINDUSTRIE: Teure Gigantomanie

von Bernard Schmid, Journalist, Paris, 15.04.2022, Veröffentlicht in Archipel 313

35 Jahre nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl und 10 Jahre nach Fukushima hat die EU-Kommission ein Öko-Label für Kernenergie beschlossen. Vorreiter in dieser Sache: Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron. Doch ganz abgesehen von der ungelösten Frage der Atommülllagerung sind die bereits gebauten Reaktoren sowie die Geplanten weiterhin gefährlich.

Jetzt sind überall die Öl- und Gaspreise gestiegen und das französische Szenario in Sachen Atomstrom wird wohl umso mehr im Sinne der Regierung geschrieben werden. Es bleibt für Frankreich nur zu hoffen, dass keine extreme Kältewelle mehr erfolgt wie 2018, als Mitte März mehrere Tage hindurch Minustemperaturen auch zur Mittagszeit gemessen wurden. Sonst könnte es für die Energieversorgung westlich des Rheins vorübergehend eng werden, vor allem, wenn infolge des russischen Aggressionskriegs in der Ukraine auch die Gasversorgung verknappt oder verteuert – das südliche Nachbarland Algerien bot allerdings am Wochenende an, bei Ausfällen einzuspringen. Normalerweise dürfte Frankreich, folgt man der offiziellen Logik, in solchen Fällen keine Probleme haben, sorgt doch der enorm ausgebaute Atomenergiepark des Landes offiziell für «Unabhängigkeit in der Energieversorgung», jedenfalls wenn man die Herkunft des Urans dabei nicht berücksichtigt. «Wir haben kein Öl, aber wir haben Ideen», besagte eine regierungsfreundliche Informationskampagne zur Mitte der siebziger Jahre, infolge des damaligen ersten Rohölpreisschocks.

Auf Regierungsseite möchte man das gerne so fortführen. Staatspräsident Emmanuel Macron möchte bis zu vierzehn neue Atomreaktoren vom Typ EPR (European Pressurized Reactor) bauen und in den nächsten zwanzig Jahren in Betrieb nehmen lassen. Dem ersten Aufsichtsratspräsidenten des von ihm gegründeten Stromversorgers RTE1, André Merlin, ist das nicht genug. In einem Interview mit der Wirtschaftszeitung «La Tribune» vom 16. Februar forderte er glatt: «Es bräuchte fünfzig solche neue Reaktoren bis im Jahr 2060.»

Er kritisierte im selben Atemzug, das von seinen Nachfolgern bei RTE ausgearbeitete und im Oktober vorgelegte Szenario «Futurs énergétiques 2050», das sich Emmanuel Macron und mehrere andere Kandidaten zur französischen Präsidentschaftswahl zur Grundlage ihrer Vorschläge bei der Energiepolitik machten, als «ideologisch». Dieses sieht vor, die bisherige Stromversorgungskapazität könne bis im Jahr 2050 durch erneuerbare Energien abgedeckt werden; Atomenergie brauche es allerdings trotzdem, da der Bedarf unter anderem durch die Umstellung auf Elektrofahrzeuge steigen werde. Der Atomstromanteil soll allerdings von derzeit je nach Jahr zwischen 65 und 70 Prozent auf maximal die Hälfte sinken. Merlin sieht dagegen allein die noch verstärkte Nutzung der Atomkraft als taugliches Szenario.

Künstlicher Atomoptimismus

Doch nun das: Die Fertigstellung des einzigen sich bislang in Frankreich im Bau befindenden EPR, im normannischen Flamanville, wird sich nochmals verzögern, wie in der zweiten Januarwoche bekannt wurde. Zwei unter Beteiligung von EDF errichtete Reaktoren dieses Typs liefen bereits im chinesischen Taishan; dort kam es jedoch zu Störfällen, infolge derer sie im Juni 2021 abgeschaltet werden mussten. Daraufhin wurden im November bei Tests «anormale Vibrationen» festgestellt und auch ein Konzeptionsfehler wird vermutet.

In Flamanville wurden Probleme an den Schweissnähten im inneren Druckbehälter festgestellt, welcher daraufhin völlig überarbeitet werden musste. Ursprünglich hätte die Anlage für 2012 fertig werden sollen, nach mehreren Verschiebungen dann dieses Jahr. Doch nun ist von einer Inbetriebnahme erst im zweiten Halbjahr 2023 die Rede. Die reine Bauzeit würde damit sechzehn Jahre überschreiten. Mit ursächlich dafür ist, dass Frankreich infolge von Einsparungen und Outsourcing gar nicht mehr über die allgemeinen Ingenieurskapazitäten verfügt, die beim Aufbau eines gigantischen Nuklearprogramms in den siebziger Jahren herangezogen wurden. Die anfänglich auf drei Milliarden Euro veranschlagten Kosten für den französischen EPR werden nun offiziell bei 12,7 Milliarden angesiedelt. Kritiker wie der grüne Präsidentschaftskandidat Yannick Jadot sehen sie längst bei zwanzig Milliarden Euro ankommen.

Jadot behauptet, dass, selbst wenn eine künftige Regierung – etwa im Falle einer Wiederwahl Macrons im April – es wolle, könnten die von ihm geplanten Reaktorbauten ohnehin nie im Leben bis 2045 entstehen. Deswegen, so fährt er fort, seien die Atompläne auch zur Einhaltung der Klimaziele Frankreichs für die nächsten Jahrzehnte entgegen der Regierungspropaganda von vornherein untauglich. Doch auch Jadot ist vorsichtig, wenn es darum geht, der in Frankreich starken Atomlobby und dem ihr zuhörenden Teil der öffentlichen Meinung gegenzusteuern. Keinen einzigen Reaktorblock werde er im Falle einer Wahl während seiner Amtszeit bis 2027 stilllegen, erklärte er im Januar während einer Fernsehdebatte zunächst; so kurzfristig plane man das nicht. Erst auf zähes Nachhaken der beteiligten Journalist·inn·en gab er dann nach und erklärte, die Reaktoren, welche die durch die amtierende Regierung von vierzig auf fünfzig Jahre angehobene Altersgrenze bis 2017 erreichten, würden schon von einer Stilllegung betroffen sein.

Dieses Ungemach für die Atomindustrie ist jedoch noch nicht genug. Im Januar lagen zunächst 17 von insgesamt 58 Reaktorblöcken in Frankreich für dringende Wartungsarbeiten still, in den kommenden Monaten bis im Herbst werden es elf sein. An vier Reaktoren, darunter die beiden leistungsstärksten im Land mit über 1400 Megawatt – Chooze in den Ardennen und Civaux in Westfrankreich – , am 13. Januar dann auch in Penly in der Normandie, wurden unerwartete Korrosionsschäden an den Rohrleitungen aufgespürt. Allein zehn Prozent der atomaren Stromerzeugungskapazität in Frankreich wurden dadurch, zusätzlich zu erwarteten Reparaturzeiten, vom Netz genommen. Der Aktienkurs von EDF sackte schlagartig ab. Die Industrie wurde bereits darauf vorbereitet, Kapazitäten stilllegen oder in die Nachtproduktion gehen zu müssen. Aber im Wahlkampf wird dies durch den künstlichen Atomoptimismus der wichtigsten Kandidaten überdeckt.

Bernard Schmid, Journalist, Paris

  1. Das Unternehmen wurde vom historischen, früher staatlichen Energieunternehmen EDF (Electricité de France) vor rund zwanzig Jahren im Zuge der Vorbereitung von dessen Öffnung für Privatkapital abgetrennt.