Am 27. Mai 2021 fand der Revisionsprozess gegen die „7 von Briançon“ vor dem Appellationsgericht in Grenoble statt. Zur Erinnerung: Im Dezember 2018 waren fünf der vorwiegend jungen Aktivist·inn·en vom Strafgericht in Gap in erster Instanz zu je 6 Monaten Haft auf Bewährung sowie zwei von ihnen zu 12 Monaten Gefängnis, davon 4 in geschlossenem Vollzug, verurteilt worden. (1)
Die Angeklagten hatten im April 2018 an einer antifaschistischen, grenzüberschreitenden Demonstration in den italienisch-französischen Alpen teilgenommen. Sie hätten – laut Anklage – im Zuge der Kundgebung illegale Migrant·inn·en nach Frankreich eingeschleust. So wurden sie wegen „Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt von Ausländern“ zu den obengenannten Strafen verurteilt. Alle legten Rekurs gegen dieses Urteil ein. Erst jetzt, zweieinhalb Jahre später, kam es zur Gerichtsverhandlung in zweiter Instanz.
An diesem 27. Mai 2021 erwartet eine bunte Schar von rund 300 solidarischen Menschen vor dem Gerichtsgebäude in Grenoble die beiden Schweizer Theo Buckmaster und Bastien Stauffer, die französischen Staatsangehörigen Lisa Malapart, Mathieu Burellier, Benoit Ducos und Jean-Luc Jalmain sowie die Italienerin Eleonora Laterza, die jedoch nicht erschienen ist und sich durch ihren Anwalt vertreten lässt.
Das Publikum im Gerichtssaal ist wegen der Covid-Pandemie auf 30 Personen beschränkt, zusätzlich dürfen Vertreter·innen der Medien teilnehmen. So kann ich mit einem Presseaus-weis der Verhandlung beiwohnen und das Geschehen aus der Nähe mitverfolgen. Durch die allgemeine Maskenpflicht ist es manchmal schwierig, die Interventionen genau zu verstehen, wobei die Gerichtspräsidentin immer wieder Nachsicht zeigt und den Redner·innen erlaubt, ihre Masken unters Kinn zu schieben oder an einem Ohr baumeln zu lassen.
Gespenstisch und bedrohlich
Als die Angeklagten einzeln und nacheinander aufgerufen werden, um sich zu den Vorwürfen zu äussern und die Fragen des Gerichts zu beantworten, beschreiben alle die gespenstische und bedrohliche Atmosphäre, die am 21. April 2018 in den französischen Alpen herrschte. An diesem Tag veranstalteten rund 100 blau uniformierte Aktivisten der rechts-extremen „Génération identitaire“ (GI) (2) aus verschiedenen Ländern Europas eine medien-wirksame Grenzschliessung auf dem Gebirgspass „Col de l’Echelle“ an der französisch-italienischen Grenze gegen die Migrant_inn_en, die in den letzten Jahren versuchen, von Italien aus nach Frankreich zu gelangen.
Doch das war nicht alles. Die Neofaschisten blieben nach diesem Event noch tagelang oder sogar wochenlang in der Region. Sie hatten sich in einem Hotel in der Nähe der französischen Grenzstadt Briançon einquartiert und tauchten sowohl in der Stadt als auch in den umliegenden Bergen auf. Am selben Tag, als die Aktion auf dem „Col de l’Echelle“ stattfand, wurden bereits mehrere weisse Range-Rover der Neofaschisten gesichtet. Diese näherten sich den Aufnahmestätten für die geflüchteten Menschen, die den beschwerlichen Weg über die Alpen geschafft und hier etwas Ruhe gefunden hatten. Einhellig schildern die Angeklagten, dass sie damals triftige Gründe für die Annahme hatten, dass die Identitären die Zufluchtsorte angreifen würden. Deshalb verbarrikadierten sie Fenster und Türen und organisierten Nachtwachen – sowohl auf der französischen als auch auf der italienischen Seite. Sie beschlossen, nicht direkt die Konfrontation mit den Rechtsextremisten zu suchen, sondern die Geflüchteten zu schützen und am folgenden Tag, dem 22. April 2018, an einer Demonstration teilzunehmen, die von dem Dorf Clavière in Italien über den „Col de Montgenèvre“ bis nach Briançon in Frankreich führen würde. Damit sollte ein Zeichen gegen die Präsenz der Identitären in der Region gesetzt werden. Die Idee zu diesem Marsch war spontan aus der Not der Stunde entstanden und rund 200 Menschen machten sich auf den Weg.
Die Gerichtsverhandlung in Grenoble, der ich gerade beiwohne, entwickelt sich vor meinen Augen in die gleiche Richtung wie der Prozess in der ersten Instanz von 2018.(3) Der Generalstaatsanwalt und die Gerichtspräsidentin wollen die Angeklagten darauf festnageln, dass sie die Rädelsführer·innen dieser Aktion gewesen seien und dass sie bewusst illegale Migrant·inn·en über die Grenze mitgeschleust hätten.
Schwarz = illegal?
Auf die Frage, ob die Angeklagten nicht gemerkt hätten, dass da Ausländer mitmarschiert seien, antwortet der Schweizer Theo Buckmaster mit der Gegenfrage, ob das Gericht etwa Ausländer wie ihn meine. Der Generalstaatsanwalt kommt in Verlegenheit und ringt nach Worten. Die Gerichtspräsidentin springt ihm bei: „Reden wir also von Personen afrikanischen Ursprungs mit schwarzer Hautfarbe, die dazu neigen, sich in einer illegalen Situation zu befinden.“ Als ein Raunen und ein Kopfschütteln durch den spärlich besetzten Raum geht, droht die Richterin, den Saal räumen zu lassen. Ein Anwalt weist sie darauf hin, dass ihre Aussage, Menschen mit schwarzer Hautfarbe würden zur Illegalität neigen, rassistisch sei und daher strafbar. „Wenn ich auf eine Demonstration gehe, kontrolliere ich nicht die Identität der Leute, die mit mir unterwegs sind“, erklärt Theo dazu.
Lisa Malapart beklagt in ihrer Stellungnahme, dass das ganze Verfahren eine Geldverschwendung sei und dass sie Wut empfinde, dass damals der Staat gegenüber den Neofaschisten untätig geblieben sei. Benoît Ducos stellt fest, dass kein einziger Polizist eingesetzt war, um den Schutz der Geflüchteten zu gewährleisten. Jean Luc Dalmain spricht sogar von Komplizenschaft zwischen den Identitären und der Grenzpolizei.
Tatsächlich hielten sich die Rechtsextremen nach ihrer PR-Aktion noch wochenlang in der Region auf; sie bedrohten Migrant·inn·en und deren Unterstützer·innen und spürten Flüchtenden nach, um sie an die Grenzbeamten auszuliefern. Wie konnte dies unbehelligt geschehen? Der Prozess in Grenoble warf diese Fragen erneut auf.
Freigesprochen aber verboten
Während die „7 von Briançon“ im Jahr 2018 schnell vor Gericht gestellt wurden, liess ein Prozess gegen die Identitären länger auf sich warten. Erst nach starken Protesten leitete die Staatsanwaltschaft in Gap ein Verfahren ein und drei Männer wurden im August 2019 zu unbedingten Gefängnisstrafen verurteilt. Zusätzlich wurde die Organisation mit einer hohen Geldstrafe belegt. Laut Gericht hatten die rechtsextremen Aktivisten in den Köpfen der Öffentlichkeit Verwirrung über die Ausübung einer öffentlichen Funktion gestiftet, indem sie ähnlich wie staatliche Akteure (vor allem wie Grenzpolizisten) aufgetreten seien. Dadurch hatten sie die öffentliche Ordnung schwerwiegend verletzt. (4) Dieses gerechtfertigte Urteil wurde jedoch am 16. Dezember 2020 von demselben Appellationsgericht in Grenoble aufgehoben, vor dem jetzt die Antifaschist_innen Rede und Antwort stehen müssen. Die Rechts-extremen wurden vollumfänglich freigesprochen und durften sich auf neue Taten freuen, die sie auch sofort in Angriff nahmen: Am 19. Januar 2021 veranstalteten sie erneut eine kommandomässig organisierte Grenzschliessung – dieses Mal auf dem „Col de Portillon“ an der französisch-spanischen Grenze.
Diese Aktion führte immerhin dazu, dass der französische Innenminister, Gérald Darmanin, am 26. Januar 2021 die Auflösung der rechtsextremen Vereinigung forderte. Am 3. März 2021 wurde „Génération identitaire“ (GI) durch ein Dekret des Ministerrats aufgelöst, in dem es heisst, dass „diese Organisation und einige ihrer Aktivisten als Protagonisten von Hassreden angesehen werden müssen, die zur Diskriminierung oder Gewalt gegen Personen aufgrund ihrer Herkunft, Rasse und Religion aufrufen“ und dass die Vereinigung „durch ihre militärische Form und Organisation“ einer „privaten Miliz“ gleichkomme. (5)
Ziel: Einschüchterung
Eigentlich müsste jetzt das Gericht in Grenoble, das damals die Neofaschisten als Un-schuldsengel davonfliegen liess, von Selbstzweifeln geplagt sein und die antifaschistischen „7 von Briançon“ dafür honorieren, dass sie diesen Rassisten im Jahr 2018 Paroli geboten hatten. Doch nichts dergleichen: Das Gericht fordert drei Monate Haft auf Bewährung für sechs der Angeklagten und acht Monate mit einer Bewährung auf zwei Jahre für Mathieu Burellier, der laut Gericht „am aktivsten“ während der Demonstration aufgetreten sei. Zwar bleibt das geforderte Strafmass unter demjenigen der ersten Instanz zurück, doch die Absicht ist immer noch die gleiche: Die Aktivist_inn_en sollen eingeschüchtert werden, nicht nur weil sie an der antifaschistischen Demonstration teilgenommen hatten, sondern auch weil mehrere von ihnen regelmässig in die Berge gehen, um flüchtende Menschen zu retten und so zu Zeuginnen und Zeugen geworden sind, wie unmenschlich der französische Staat an seiner militarisierten Grenze die Schutzsuchenden zurückweist.* Das Urteil wird am 9. September 2021 verkündet.
Michael Rössler, EBF
- In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen: Am selben Tag des Prozesses in Grenoble wurde vom Strafgericht in Gap das Urteil von einer Verhandlung vom 22. April 2021 gegen zwei junge Bergretter verkündet: je zwei Monate Haft auf Bewährung. Sie hatten einer Familie aus Afghanistan mit der hochschwangeren Mutter, ihrem Mann und ihren zwei Kin-dern in den Alpen Beistand geleistet.
(1) Der Prozess gegen die „7 von Briançon“, Archipel, Dezember 2018 (2) Auf Deutsch: Identitäre Bewegung. Es handelt sich dabei um ein internationales Netz-werk von Rechtsextremist·inn·en und Rassist·inn·en. (3) Die „7 von Briançon“ verurteilt, Archipel, Januar 2019 (4) Rechtsextreme verurteilt, Archipel, Oktober 2019 (5) Durch das Verbot der GI ist diese rechtsextreme Gefahr in Frankreich jedoch nicht ge-bannt. Deren ehemaligen Mitglieder haben einfach eine neue Organisation gegründet: „ASLA – soutien aux lanceurs d’alerte“.