Endstation Bosnien? Öffnet die Tür!

von Michael Rössler, EBF, 06.01.2020, Veröffentlicht in Archipel 288

Am 27. November 2019 veranstalteten wir einen Aktions- und Informationstag in Bern unter dem Titel «Endstation Bosnien» zur schwierigen Situation von geflüchteten Menschen an der bosnisch-kroatischen Grenze und in Bosnien-Herzegovina. Am frühen Nachmittag übergeben wir – rund 50 Menschen von zivilgesellschaftlichen Initiativen aus der Schweiz, Österreich, Kroatien und Bosnien-Herzegovina – einen Offenen Brief an Bundesrätin Karin Keller-Sutter, Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD). Damit wollen wir die Schweizer Regierung auf die Not der Flüchtlinge an der bosnisch-kroatischen Grenze und in den Lagern von Bosnien- Herzegovina aufmerksam machen. Gleichzeitig weisen wir auf die Verantwortung der EU und der Schweiz für diese Situation hin. Auf einem der mitgebrachten Plakate ist zu lesen: «Endstation Bosnien? Öffnet die Tür für Flüchtlinge aus den Lagern in Bosnien!»

Forderungen an den Bundesrat und an die EU

Guido Balmer, Informationschef des EJPD, nimmt den Offenen Brief vor dem Bundeshaus entgegen. Ein mannshoher Schlüssel aus Holz dient als Symbol, um eine Öffnung der Schweiz für eine humanitäre Aufnahme von Geflüchteten aus Bosnien zu verlangen. Der Brief an die Schweizer Regierung kommt zu folgendem Schluss: «In den Empfangsstrukturen der Schweiz gibt es momentan genügend Platz. Es stünde daher dem Bundesrat gut an, mit der Aufnahme von Geflüchteten aus den Lagern in Bosnien und Herzegovina aufzuzeigen, dass die Aussenpolitik der Schweiz nicht nur die Interessen der Wirtschaft vertritt, sondern auch der humanitären Tradition der Schweiz verpflichtet ist.» In diesem Offenen Brief an Karin Keller-Sutter und den Gesamtbundesrat werden weitere Forderungen erhoben: Der Bundesrat möge sich einsetzen für: einen sofortigen Stopp der Gewalt, die von der kroatischen Grenzpolizei systematisch gegen Flüchtlinge an der bosnisch-kroatischen Grenze angewendet wird; den Rückzug der Schweiz von Frontex-Einsätzen; einen Ausschaffungsstopp von Geflüchteten aus der Schweiz nach Kroatien sowie die Verhinderung einer humanitären Katastrophe in Bosnien und Herzegovina. Das Schreiben enthält auch folgenden Appell: «Wir bitten Sie: Entsenden Sie eine Delegation aus den zuständigen Departementen des Bundesrats, um sich vor Ort selbst ein Bild von der Not zu machen!» Einen zweiten Offenen Brief mit noch weitergehenden Forderungen übergeben wir danach an die Adresse der «Delegation der EU für die Schweiz», deren Büro in der Bundesgasse schräg gegenüber des Bundeshauses liegt. Nur eine unscheinbare Tafel an einem mehrstöckigen Bürohaus weist auf deren Präsenz hin. Es erwies sich als unmöglich für uns, trotz mehrerer Versuche, im Vorfeld des Anlasses in Bern einen Ansprechpartner und einen Termin zu bekommen. Deshalb macht sich unsere Menschenschar spontan zu dem Gebäude auf und klingelt an dessen Eingangstür. Nach längerem Warten erscheint eine Sekretärin, die den Brief an die EU-Delegation, mit unserer Bitte zur Weiterleitung an die neue EU-Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, etwas verwirrt und widerwillig entgegennimmt. Den Wortlaut des Briefes finden Sie auf unserer Homepage.

Vier engagierte Frauen berichten

Am Abend desselben Tages treffen wir uns zu einem gemeinsamen Essen im CAP der Französischen Kirche von Bern, die uns ihre Küche und ihren Veranstaltungssaal zur Verfügung gestellt hat. Der darauffolgende Informationsabend ist mit 80 Teilnehmenden gut besucht. Die musikalische Einleitung bestreitet ein junger Pianist mit einem Stück von Beethoven, das er in den Kontext des Abends stellt: Diese Musik wolle Liebe und Achtung für alle Menschen. Auf dem Podium sitzen unsere eingeladenen Gäste aus Österreich, Kroatien und Bosnien-Herzegovina.
Zur Einleitung ergreift Heike Schiebeck, Vertreterin des EBF und Mitglied der Longo-maï-Kooperative in Kärnten (Österreich), das Wort. Sie erklärt die Nähe ihres Lebensortes im zweisprachigen Bad Eisenkappel – auf Slowenisch: Železna Kapla – zu den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens und dass sie nicht gleichgültig zuschauen kann, was direkt vor ihrer Haustüre passiert. Ende März 2019 hatte sie eine internationale EBF-Delegation nach Kroatien und Bosnien organisiert und mittlerweile geht sie immer wieder dorthin, um den Kontakt zu den Hilfsinitiativen zu halten und neue kennen zu lernen. Der zweite Beitrag kommt von Maddalena Avon vom Center of Peace Studies in Zagreb. Sie schildert die systematische Gewalt der kroatischen Grenzpolizei gegen die Flüchtenden an der EU-Aussengrenze zu Bosnien und den Einsatz ihrer Initiative für die Rechte der Migrant·inn·en. Auf die Frage aus dem Publikum, «Wie die Gewalt stoppen?» weist sie auf die Hauptverantwortung der EU hin. Diese bezahlt Länder wie Kroatien und die Türkei, um die Flüchtlinge zu stoppen. Europa könnte aber auch seine Politik ändern, dies ist nur eine Frage des politischen Willens: Warum nicht sichere Fluchtrouten eröffnen, anstatt die Grenzen ständig weiter zu militarisieren? Als Dritte berichtet Spomenka Celebic, die ursprünglich aus Serbien kommt, aber in Wien studiert und forscht, von ihrem viermonatigen Hilfseinsatz mit dem bosnischen Roten Kreuz im Flüchtlingslager auf der ehemaligen Müllhalde von Vucjak in der Nähe von Bihac. Sie erzählt, dass es an Allem fehlt, dass sie viele verzweifelte Menschen getroffen hat und dass die Hilfe, die das Rote Kreuz leisten kann, gemessen an den Bedürfnissen völlig unzureichend ist. Spomenka berichtet von Funktionären der EU-Kommission, die gut gekleidet und gut bewacht einen Augenschein im Lager nehmen wollten, aber Angst hatten, sich im Schlamm die Schuhe dreckig zu machen und Angst, sich den Menschen zu nähern. Warum Angst? Sie, oftmals die einzige Frau im Lager, sei nie belästigt worden. Viele der Flüchtenden lächeln, auch in den verzweifeltsten Situationen, sobald sie als Menschen angesehen werden.

Von Kriegsleiden zu Solidarität

Nidžara Ahmetaševic, eine unabhängige Journalistin aus Bosnien-Herzegovina und Mitbegründerin der Hilfsinitiative «Are you Syrious», ergreift als vierte Sprecherin das Wort. Sie ist in Sarajevo aufgewachsen und hat als 17-Jährige den Kriegsbeginn 1992 und die Belagerung ihrer Stadt erlebt. Später konnte sie fliehen, doch das Exil war unerträglich für sie, weil sie immer zu spüren bekam, dass sie nicht dazu gehört. Nach einem Jahr kehrte sie in die belagerte Stadt zurück – trotz aller zu erwartenden Qualen. Jetzt setzt sie sich für die heutigen Geflüchteten ein. An unserem Abend in Bern kritisiert sie die vielen Millionen Euro, welche von der EU nach Bosnien, einem sonst armen Land, zur Aufrüstung der Polizei geschickt werden, weil diese die Aussengrenzen kontrollieren soll. Ebenso geisselt sie die Zustände (Gewalt und Kontrolle) in den offiziellen Flüchtlingslagern, die von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) verwaltet werden. Doch neben dem ganzen Horror gibt es die Solidarität in der Bevölkerung. Sie erzählt von einem Dorf im Nordosten Bosniens, das während des Krieges in den 1990er Jahren Verfolgten aus Srebrenica Schutz geboten hatte und heute Flüchtenden weiterhilft, unentdeckt von den Medien. In Tuzla kocht eine Frauengruppe seit achtzehn Monaten für Migrant·inn·en, finanziert durch gesammeltes Geld bei den Nachbar·inne·n. Dies sind nur zwei Beispiele von vielen. Nidžara empfiehlt internationalen Hilfswilligen, sich mit den lokalen Initiativen abzusprechen. Es ist sinnvoll, ihnen Geld zu schicken, damit sie vor Ort einkaufen können. Denn sie wissen am besten, was es gerade dringend braucht. So näht eine Frau, die vorher arbeitslos gewesen war, Schlafsäcke für die Geflüchteten. Diese Art der Hilfe kommt auch billiger, als die Güter von weit her zu bringen, ausgenommen die Dinge, die sonst nicht zu finden sind. Dies ist gut zu wissen, um die gesammelten Gelder aus dem Unterstützungskreis des Europäischen BürgerInnen Forums zielorientiert einsetzen zu können. Unser Aktions- und Informationstag hat leider kein breites Medienecho gefunden1, weil solche Anlässe offenbar nicht dem Mainstream entsprechen, aber er brachte Menschen von verschiedenen Horizonten zusammen, die sich weiterhin verständigen und engagieren werden. Die nächsten Treffen und Veranstaltungen sind bereits geplant. Für die vier Frauen war das Treffen in Bern eine Ermutigung. Sie konnten dem enormen Druck, der auf ihnen lastet, für einen Moment entkommen und sich über die offenen Ohren freuen, auf die sie bei den Teilnehmenden gestossen sind.

  1. Erfreulicherweise kam ein Journalist von der Schweizer Wochenzeitung WOZ, der ein ausführliches Interview mit Nidžara Ahmetaševic führte: EU-Grenzpolitik: «Die Lager sind Orte der Entmenschlichung», WOZ, Nr.50/2019, 12.12.2019. Zum Glück gibt es freie nichtkommerzielle Medien wie Radio RaBe in Bern, die unsere Gäste für eine Sendung einluden. Hier die Links zum Podcast mit dem Beitrag:

Podcast Endstation Bosnien

Podcast Endstation für Geflüchtete in Bosnien