DOSSIER TÜRKEI: Reise in die ländliche Türkei

von Martina Widmer und Nicholas Bell, 15.12.2010, Veröffentlicht in Archipel 187

Während einer zweiwöchigen Reise im vergangenen Sommer besuchten Martina Widmer und Nicholas Bell einige der sehr zahlreichen ländlichen Gebiete der Türkei.

Arif und Tracy aus Edremit begleiteten uns bei der ersten Etappe von Izmir an die südlichen Ufer des Marmarameeres. Hier wird in den fruchtbaren Tälern moderne Landwirtschaft betrieben. Ein Abstecher ins bergige Hinterland zeigte uns jedoch eine ganz andere Realität: Vor allem für die Selbstversorgung der Familien wird dort angebaut, oft noch ohne Maschinen.
Wir kamen gerade richtig zur Getreideernte, alle Bewohner der Dörfer waren auf den Feldern und brachten die Ernte ein, meist von Hand.
Der zweite Teil unserer Reise führte uns in das Gebiet am Schwarzen Meer. Hier wurden wir von Abdullah Aysu, dem Präsidenten der Bauerngewerkschaft Ciftçi-Sen begleitet. Die Küste von Samsun bis hinter Trabzon ist von Haselnuss- und Teesträuchern geprägt, die direkt hinter der Küste bis auf mehrere Hundert Meter über dem Meer an sehr steilen Hängen wachsen. Zahlreiche Begegnungen mit Produzenten und aufschlussreiche Erklärungen der türkischen Begleiter verschafften uns einen Einblick in die vielschichtige Realität der Landwirtschaft in der Türkei.
Im ersten Teil dieses Artikels veröffentlichen wir eine kurze Zusammenfassung von Pascal Pavie über die Entwicklung der türkischen Landwirtschaft in den letzten 90 Jahren: Er ist Winzer in Limoux (F) und Mitglied der französischen Bauerngewerkschaft Confédération Paysanne und hat uns auf dem ersten Teil der Reise begleitet. Der zweite Teil besteht aus einem Gespräch mit Vertretern der jungen Bauerngewerkschaft Ciftçi-Sen und Ibrahim Alfatli, der Sultaninen und Gemüse im Tal von Gediz anbaut.

Vom Nahrungsmangel zur -unabhängigkeit?

Seit 90 Jahren hat sich die türkische Landwirtschaft grundlegend verändert. Zu Beginn der Atatürk-Ära in den 1920er Jahren lebten 14 Millionen Menschen in der Türkei. Mit Ende des Ottomanischen Reiches setzten bedeutende politische Umwälzungen ein, die auch für die ländlichen Gebiete grosse Konsequenzen nach sich zogen: Der Staat versuchte mit seiner laizistischen, dem westlichen «Fortschritt» zugewandten und stark nationalistisch gefärbten Ideologie, die traditionellen Strukturen zu verdrängen. Der politische Diskurs idealisierte die Bauernschaft. Die neu geschaffenen «Bauerninstitute» bildeten eine ganze Generation von Bauernsöhnen zu Lehrern aus, und es wurde zahlreiche Einschulungsprogramme ins Leben gerufen. Diese Lehrkräfte spielten eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung neuer Anbaumethoden, der Denunziation der Lebensbedingungen von Kleinbauern und der Verbreitung der Laizität.
Während des Zweiten Weltkriegs wurde die landwirtschaftliche Produktion vom Staat beschlagnahmt und verteilt, die Männer mussten während fünf Jahren Kriegsdienst leisten, was einen enormen Rückgang der Erträge bewirkte. Zu dieser Zeit wurden in der Landwirtschaft immer noch hauptsächlich traditionelle Anbaumethoden angewandt: Es gab keinen Fruchtwechsel auf den Feldern, und die Anwendung der Brache ging durch den Mangel bestellbarer Flächen stark zurück. Der Viehmist wurde als Brennstoff genutzt und die Abholzung führte zu einer starken Erosion der Böden.
Nach dem Krieg ermöglichte der Marshallplan die Mechanisierung der Landwirtschaft. Zwischen 1948 und 1956 wuchsen die landwirtschaftlichen Nutzflächen von 14,5 Millionen Hektar auf 22,5 Millionen. Ab 1950 führte die erste vom Volk gewählte Regierung der Türkei eine Landwirtschaftspolitik ein, die durch staatlich gestützte Preise und vorteilhafte Kredite den grossen Aufschwung der türkischen Landwirtschaft bewirkte. Vom Staat ins Leben gerufene Genossenschaften kauften die Produktion auf und vertrieben Dünger sowie Saatgut. Die Märkte wurden streng kontrolliert; es gab gesicherte Absatzpreise, Dünger und Saatgut wurden subventioniert. Der Import von landwirtschaftlichen Gütern wurde staatlich geregelt und mit Steuern belastet.
In vielen Regionen verbesserten sich die Lebensbedingungen der Bauern, der Südosten und das kurdische Gebiet jedoch blieben von dieser Entwicklung ausgeschlossen; in weiten Teilen Zentralanatoliens herrschte bis in die 1960er Jahre Nahrungsmittelknappheit.
Die Lebensmittelproduktion konnte in den Jahren 1973 bis 1993 verdoppeltet werden. Damit hat die türkische Landwirtschaft die grosse Herausforderung gemeistert, ab 1975 die Lebensmittelversorgung der einheimischen Bevölkerung sicherzustellen, welche mit der Bevölkerungsexplosion von 14 Millionen Türken im Jahre 1927 auf heute 70 Millionen angestiegen war.
Gleichzeitig entwickelte sich ein wichtiger Exporthandel von Trockenfrüchten, Kichererbsen, Tabak, Zitrusfrüchten und Olivenöl, die in den fruchtbaren Gebieten an der Ägäis und dem Schwarzen Meer angebaut wurden. Die Türkei war im Jahre 1998 weltweit der zehntgrösste Produzent landwirtschaftlicher Güter.
Im Jahre 1980 wurde mit dem Staatsstreich von General Evren und der Regierung von Turgut Özal, einem ehemaligen hohen Beamten der Weltbank, erstmals diese stark vom Staat gestützte Landwirtschaftspolitik in Frage gestellt. Seitdem drängen Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und die Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union die Türkei dazu, diese Politik Schritt für Schritt aufzugeben, obwohl diese die Ernährung der Bevölkerung sicherstellte und eine starke ländliche Entwicklung ermöglichte.

Auf dem Hof der Familie Alfatli in Akhishar

Auf unserer Reise besuchten wir Ibrahim Alfatli auf seinem Hof in Akhishar im Tal von Gediz nördlich Izmirs. Er baut Sultaninen, Getreide und Gemüse auf 20 Hektar an. Hier konnten wir mit Ibrahim und Ali Bülent Erdem, dem Präsidenten der Sektion Rebbau der Gewerkschaft Ciftçi-Sen, ein Gespräch über die Probleme in der Landwirtschaft und bei der Bildung von Gewerkschaften führen.
Ibrahim Alfatli (IA): Am Ende meines Studiums musste ich die Türkei aufgrund meiner politischen Tätigkeit in den 1980er Jahren 1 verlassen. Erst 17 Jahre später konnte ich zurückkehren. Es war für mich damals unmöglich, eine Stelle als Beamter im öffentlichen Dienst zu übernehmen und so wandte ich mich der Landwirtschaft zu. Das Land, das ich heute bebaue, wurde von meinem Vater vor Jahren gekauft und an Bauern verpachtet. 1998 konnte ich den Betrieb übernehmen und Reben anpflanzen. Gleichzeitig arbeite ich auch im Laden unserer Familie, die Feldarbeit ist sehr angenehm und ich ziehe sie der Arbeit im Laden vor.
Archipel: War dein Einstieg in die Landwirtschaft, so ganz ohne jegliche Erfahrung, nicht schwierig?
IA: Ich war damals schon über 40 Jahre alt und musste alles neu erlernen. Das zeigt doch, dass der Mensch jederzeit dazulernen kann. Meine Eltern haben Tabak angebaut. Als ich zehn Jahre alt war, haben sie den Betrieb aufgegeben. Ich kann also nicht behaupten, damals auf den Feldern gearbeitet zu haben, aber es gibt in meiner Familie eine landwirtschaftliche Tradition. Der Hof meiner Familie liegt im Tal von Gediz, am Rande der Ägäis, es ist die Wiege der Sultaninen. Hier wächst fast die Hälfte des gesamten Weltbedarfs. Hier wird auch Baumwolle von ausserordentlich hoher Qualität angebaut. Vor 30 Jahren wurde noch vor allem Tabak angepflanzt, heutzutage gibt es sehr viele Olivenbäume.

Archipel: Waren es Abkommen mit den USA, die bewirkt haben, dass der Tabakanbau zurückgegangen ist?
IA: In unserem Land können wir ohne das Einverständnis der Amerikaner und der Europäer gar nichts entscheiden. In unserem Gebiet zum Beispiel wurde die beste Baumwolle der Welt angebaut, doch seit die Subventionen abgenommen haben, ist diese Produktion stark zurückgegangen. Der Staat hat im Einverständnis mit den Amerikanern und den Europäern das Land in 30 Zonen aufgeteilt und entscheidet, was wo angebaut werden soll.

Archipel: Sind diese Anweisungen zwingend oder gibt es noch Freiräume?
IA: Wir haben uns für den Bio-Anbau von Sultaninen entschieden, sie werden hauptsächlich für den Export in die USA angebaut. Wir erhalten keine Subventionen dafür und daher brauchen wir auch keine Bewilligung für den Anbau. Zusätzlich pflanzen wir auf grossen Flächen Tomaten, Paprika und abwechslungsweise Mais oder Weizen an, ein Hektar Olivenbäume gibt uns Öl für die Familie.

Archipel: Wem gehört das Land, den Bauern selbst, Genossenschaften oder sogar dem Staat?
IA: Alles Land hier ist in privater Hand. In der Türkei gibt es fast keine Genossenschaften mehr. Frühere, vom Staat geführte Betriebe, sind heute an reiche Industrielle verpachtet, die auf Flächen von 1.000 bis 100.000 Hektar Viehzucht betreiben. Diese Riesenbetriebe kontrollieren den Viehmarkt und die Preise von Fleisch und Futtermitteln.

Archipel: Wie haben sich die Preise in den letzten 30 Jahren entwickelt?
(IA): In der 1960er Jahren konnte ein Bauer mit einem Kilo Weizen vier Liter Treibstoff kaufen. Heute bekommt er für 8 kg Weizen einen Liter Treibstoff. Ein Grund dafür ist, dass die Türkei keine eigenständige Landwirtschaftspolitik betreibt.

Archipel: Zurzeit steht die Türkei unter dem Druck der Europäischen Union, die den Anteil der ländlichen Bevölkerung stark verkleinern will.
IA: Die EU, die USA und der Internationale Währungsfond drängen die Türkei dazu. Die Situation ist vergleichbar mit derjenigen Polens beim EU-Eintritt. Vor 20 Jahren lebten 40 Prozent der Türken auf dem Land, heute sind es noch 28 Prozent und das angestrebte Ziel ist, unter zehn Prozent zu kommen.

Archipel: Gibt es Bestrebungen der Bauern sich dagegen zu wehren, sich zu organisieren?
IA: Leider sind die Bauern in der Türkei sehr wenig organisiert. Erst kürzlich haben sie begonnen, Gewerkschaften zu bilden. Der türkische Staat verweigert ihnen jedoch dieses Recht, obwohl er internationale Abkommen im Rahmen der ILO 2 unterzeichnet hat. Zurzeit versuchen die Gewerkschaften vor türkischen Gerichten ihre Existenzberechtigung zu erkämpfen.

Archipel: Sind die Gewerkschaften nach Sektoren organisiert?
IA: Ja, es gibt zum Beispiel die Gewerkschaft der Haselnussproduzenten, der Teeproduzenten usw. Gemeinsam haben sie die nationale Vereinigung Ciftçi-Sen gegründet. Auch gegen diese läuft zurzeit ein Prozess vom Staat, der verhindern will, dass die Bauern eine unabhängige Kraft bilden.

Archipel: Auf welche Argumente stützt sich der Staat bei dieser Auseinandersetzung?
IA: Er stützt sich dabei auf die türkische Verfassung, die es den Bauern nicht erlaubt, Gewerkschaften zu bilden. Dieses Recht ist in seinen Augen nur Angestellten und Arbeitern vorbehalten. Eines der Verfahren ist bereits beim Europäischen Gerichtshof. Die anderen müssen noch von türkischen Gerichten statuiert werden. Je nach Urteil werden wir jedoch den rechtlichen Weg für alle Verfahren bis zum Ende gehen.

Archipel: Wie sieht es mit der landwirtschaftlichen Ausbildung aus?
IA: Einerseits gibt es das, was man auf den Familienbetrieben lernen kann, andererseits gibt es Universitäten und Gymnasien. Absolventen dieser Schulen arbeiten dann mehr in der staatlichen Administration als in den Betrieben, sie werden Beamte.

Archipel: Es sind also meistens Bauernsöhne, die weiterhin Landwirtschaft betreiben oder gibt es auch Städter, die neu einsteigen?
IA: Es sind vor allem Bauernsöhne. Es ist sehr selten, dass jemand wie ich mit der Landwirtschaft im Alter von 40 Jahren beginnt.

Archipel: Ein Teil der landwirtschaftlichen Produktion ist für den Export bestimmt, die Produzenten sind in diesem Fall meist vertraglich gebunden. Wie wirkt sich das auf ihre Arbeit aus?
IA: Unsere Trauben zum Beispiel sind wie gesagt mehrheitlich für den Export bestimmt. Es ist jetzt Juli, die Früchte brauchen noch gut drei Monate bis sie für den Verkauf bereit sind. Die amerikanischen und europäischen Händler haben wahrscheinlich bereits die Preise bestimmt und unsere Ernte gekauft. Es gibt in der Türkei ungefähr 15 Exportunternehmen, welche mit den ausländischen Grosshändlern die Preise festlegen. Die türkischen Bauern, denen es wirtschaftlich nicht sehr gut geht, sind gezwungen, ihre Ernte so schnell wie möglich zu verkaufen.

Archipel: Du betreibst biologischen Anbau bei den Trauben. Ist es so, dass die grossen Abnehmer für Bio-Produkte entscheiden, welche Sorten angebaut werden müssen und welche Pflanzenschutzmittel verwendet werden? Ist das nicht eine Gefahr für die grosse Vielfalt von Nutzpflanzen der Türkei?
IA: Es sind persönliche Beweggründe, die mich vor Jahren dazu gebracht haben, biologischen Landbau zu betreiben. Mehr verdienen kann man damit nicht. Es stimmt, dass es die Vertragspartner und Abnehmer sind, die bestimmen, welche Pflanzenschutzmittel, welcher Dünger - kurzum, alles was für den Anbau gebraucht wird – anzuwenden ist. Sie diktieren auch die Preise. Wir haben diesbezüglich nichts zu sagen. Der Preis ist zehn Prozent höher als derjenige für Trauben aus dem konventionellen Anbau. Die grossen Gewinner sind die Grossverteiler. Der grösste Abnehmer für Bio-Produkte in unserer Region ist das Unternehmen Rapunzel. Daneben gibt es noch ein paar kleinere Unternehmen. Als Biobauer hat man jedoch keine grosse Auswahl.
Es gibt aber auch unabhängige Initiativen, wie zum Beispiel das Dorf Kusadasi. Hier haben sich alle Bauern der Gemeinde zusammengeschlossen und betreiben auf 3-4000 Hektar biologischen Landbau. Das Dorf hat sich auch für den Verkauf gemeinsam organisiert, so werden die Trauben, Oliven etc. auf den Märkten der umliegenden Städte verkauft. Um selbst entscheiden zu können, was man anbaut, muss man sich in dieser Form gemeinsam organisieren. Es ist jedoch sehr schwierig, die Leute zusammen zu bringen.
Pascal Pavie: Ich hatte die Gelegenheit am ersten Kongress der Gewerkschaft Ciftçi-Sen teilzunehmen. Damals habe ich erfahren, dass der Staat sehr viele Mittel bereitgestellt hatte für die Landwirtschaft, zum Beispiel in Form von grossen Infrastrukturprojekten wie Strassen und Staudämme. In der Türkei gab es die höchsten Subventionen für landwirtschaftliche Produkte im ganzen Mittelmeerraum. Seit dem Jahr 2000 fanden also grosse Veränderungen in der Landwirtschaftspolitik statt. Was ist zum Beispiel aus den Genossenschaften geworden, die den Tabak, den Weizen und die Baumwolle abkauften?
IA: Fast sämtliche Genossenschaften sind verschwunden. Für den Tabakanbau gab es ein staatliches Monopol. In den 1960er Jahren exportierte die Türkei für 400 Millionen Dollar Tabak. Heute importieren wir fertige Zigaretten. Der Staat hat diese Kultur aufgegeben, jetzt rauchen die Türken amerikanische Zigaretten. Es sind ausländische Unternehmen, die entscheiden, welche Tabaksorten angebaut werden, sie importieren auch Tabak aus China, da er dort von den amerikanischen Firmen viel billiger als in der Türkei angebaut werden kann. Im Vergleich zu Europa werden die landwirtschaftlichen Produkte viel weniger subventioniert. Für Trauben gibt es keine Subventionen.
Archipel: Was sind die Prioritäten eurer Gewerkschaft?
Ali Bülent Erdem (ABE): In den 1970er Jahren kaufte der Staat einen Teil der landwirtschaftlichen Produkte zu fest garantierten Preisen. Den anderen Teil liess er von den staatlich geförderten Genossenschaften aufkaufen. Bis in das Jahr 2000 subventionierte er auf diese Art 19 Produkte. Zu Wahlzeiten wurden die Bauern zusätzlich unterstützt, um ihre Stimmen zu gewinnen. Mit dem Aufkommen der neoliberalen Wirtschaftspolitik wurden die staatlichen landwirtschaftlichen Strukturen ab den 1990er Jahren nach und nach privatisiert. Die Preise wurden vom Staat nicht mehr gestützt. Von da an mussten die Produzenten sie direkt mit den Abnehmern aushandeln. In wenigen Ausnahmen erstellte der Staat spezielle Reglementierungen für gewisse Produkte. Für Zuckerrüben wurden zum Beispiel Produktionsquoten festgelegt. Dies hat dazu geführt, dass der multinationale Konzern Cargil die Kontrolle über den Zuckerrübenanbau übernommen hat. Wir haben uns gefragt, was wir in dieser Situation für die Produzenten tun können. Wir veranstalteten grosse Zusammenkünfte von Tee-, Haselnuss-, Weizen- und Tabakproduzenten und begannen, sie gewerkschaftlich zu organisieren. Im Jahr 2003 kam es zum Zusammenschluss von Züchtern und Produzenten der verschiedenen Sektoren im Dachverband Ciftçi-Sen. Wir haben diese Schritte unternommen, da wir festgestellt hatten, dass wir einzeln kein Gegengewicht gegenüber den Behörden und den Grosshändlern darstellen. Wir versuchen nun, dass die Preisabsprachen zwischen der Gewerkschaft und den Abnehmern geschehen, um somit zu verhindern, dass jeder einzeln vorgehen muss. Wir kämpfen auch gegen die Vertragslandwirtschaft, da sie die Bauern regelrecht versklavt.

Archipel: Wie gross ist die Kraft der Gewerkschaften, sind sie in allen Regionen der Türkei vertreten?
ABE: Wir stehen am Anfang unseres Aufbaus und haben noch keinen grossen Einfluss auf den Staat und die Bauern. Wir versuchen aufzuzeigen, dass wir für die Landwirtschaft und das Land wichtig sind. Wir stellen Referenzpreise auf, um die staatlichen Preise und die der Abnehmer zu kontern. In mehreren Regionen haben wir Bauerndemonstrationen organisiert, damit der Staat den Anbau von genmanipulierten Pflanzen verbietet und wir waren damit erfolgreich.

Archipel: Wie sind die Beziehungen zwischen Stadt und Land? Gibt es Städter, die sich für die Zukunft der Landwirtschaft interessieren?
ABE: In der Türkei hat die Stadtbevölkerung ihre Beziehung zum Land nicht abgebrochen, viele sind erst vor kurzem in die Stadt gezogen. Während der Wirtschaftskrise im Jahre 2001 sind viele Städter in ihre Dörfer gegangen, um Lebensmittel zu holen. In den Jahren 2007 und 2008 haben ungefähr 3,5 Millionen Menschen den ländlichen Raum verlassen, um Arbeit in den Städten zu finden. Eine Statistik des Landwirtschaftsministeriums von 2010 zeigt, dass seither zehn Prozent dieser Menschen aufs Land zurück sind und wieder Landwirtschaft betreiben.

Archipel: Gibt es Ansätze einer Konsumentenbewegung, die Qualitätsprodukte oder Bioprodukte sucht?
ABE: Bis ins Jahr 2009 hat der Staat nichts gegen den Anbau genmanipulierter Pflanzen unternommen. Erst seit den gemeinsamen Demonstrationen von Gewerkschaften und anderen Organisationen hat der Staat Massnahmen dagegen ergriffen. Nun begannen die Leute Fragen zur Landwirtschaft und Qualität der Lebensmittel zu stellen. Heute bieten die Supermärkte auch Bioprodukte an, die jedoch so teuer sind, dass sich diese nur Bessergestellte leisten können. Hinzu kommt, dass die Kontrollen für Bioprodukte in der Türkei nicht sicher sind, wir haben kein grosses Vertrauen in die türkischen Zertifizierungsorganismen. Seitdem konnten wir einen breiten Kreis über die Qualität und die Gefahren der verschiedenen Produkte aufklären. Für unsere Gewerkschaft stellt der biologische Landbau in dieser Form nicht wirklich eine Alternative dar, wir vertretenen vor allem die Prinzipien der bäuerlichen Landwirtschaft.

  1. Er nimmt Bezug auf den Militärputsch vom 12. September 1980 und die nachfolgende brutale Repression.
  2. International Labour Organization, Internationale Arbeitsorganisation
    Die katastrophalen Auswirkungen
    der Agroindustrie
    Beim Europäischen Sozialforum im Juli 2010 in Istanbul co-organisierte das Europäische BürgerInnenforum einen Workshop über die Konsequenzen der Ausbreitung der europäischen Agroindustrie im Mittelmeerraum. In mehreren Beiträgen konnten die katastrophalen Auswirkungen dieser Form von Landwirtschaft in Andalusien und in der Ebene des Souss in Marokko im Bereich des intensiven Gemüseanbaus aufgezeigt werden. Ein anderer Aspekt beleuchtete die wachsende Kontrolle der multinationalen Konzerne im Bereich der Saatgutproduktion. Ein wichtiger Teil des Workshops bestand aus dem Beitrag von Abdullah Aysu, dem Präsidenten der Bauerngewerkschaft Ciftçi-Sen zur Situation des Gastgeberlandes, der Türkei. Sein detaillierter Vortrag kann in englischer Version beim EBF bestellt werden.
    Das Bedürfnis nach gemeinsamen Aktionen, kontinuierlichem Informationsaustausch und die Suche nach Alternativen wurde am Ende des Workshops von mehreren Teilnehmern ausgedrückt, Unterlagen dazu können auf der Website des EBF www.forumcivique.org gefunden werden.