In Marokko führen Frauen seit Beginn des Jahres 2011 einen Kampf gegen Mikro-Kredit-Institutionen wegen Vertrauensmissbrauch und unhaltbaren Kreditbedingungen.
Ungefähr 4500 Frauen, die zumeist im Verband zum «Gemeinschaftlichen Schutz von sozialer Entwicklung» (Association de Protection Populaire pour le Développement Social) organisiert sind, haben sich in der Region Ourazazate und entlang des gesamten Tals von Dadés erhoben. Denn in dieser Tourismusregion haben sich solche Mikrokredit-Institutionen niedergelassen, um die Krise, die dort vor allem das Hotelgewerbe ergriffen hat, auszunützen. Sie begannen sofort, mit vollen Händen Kredite zu vergeben, wobei hauptsächlich Frauen die Zielgruppe waren und sind. Ursprünglich vorgesehen, um Mikro-Projekte und Mikro-Unternehmen zu finanzieren, werden diese Kredite nunmehr häufig ohne wirkliche Prüfung dieser Projekte vergeben. Zum einen, weil die Makler entsprechend der Zahl der von ihnen akquirierten Kund_innen bezahlt werden und zum anderen, weil die Institutionen der Mikroökonomie (Institutions de la Mikrofinance – IMF) und die Verbände der Mikro-Kredite (Associations de Micro-Crédits – AMF) Zuwendungen und Subventionen unter anderem von der EU, von Stiftungen, vom UNPD (United Nations Development Programme) und von der USAID (United States Agency for International Development) erhalten – immer in Abhängigkeit vom Umfang ihrer Kundschaft und im Kontext einer ungezügelten Konkurrenz zwischen den verschiedenen Kreditinstitutionen. Faktisch aber fliessen die ausgereichten Beträge in den Konsum (für den Kauf eines Mofas, eines Kühlschranks oder um den Schulbesuch der Kinder zu sichern etc.) oder um die bis dato allgemein zugänglichen Dienstleistungen weiter nutzen zu können, die in Zeiten des Neoliberalismus kostenpflichtig geworden sind. Denn diese sind, besonders im Gesundheitswesen, für die ärmsten Schichten der Bevölkerung unerreichbar geworden. Obendrein werden viele dieser Kredite aufgenommen, um vorhergehende begleichen zu können.
Horrende Zinsen
Auch wenn das verliehene Geld aus Zuwendungen, aus Subventionen oder Darlehen mit niedrigen Zinsen stammt, die Kredit-nehmer_innen selbst haben exorbitante Zinsraten zu begleichen. Sie werden offiziell auf 14 bis 18 Prozent beziffert (angeblich, um die Unkosten für den im Vergleich zu den verliehenen Beträgen hohen Verwaltungsaufwand zu finanzieren). Doch die Frauen in Ourazazate reden von Zinsraten, die in der Praxis bis 40 Prozent erreichen. Zudem gibt es keinerlei Verlängerung der Laufzeit von Schulden. Auf kein noch so schwerwiegendes Ereignis, das im Leben einer verschuldeten Person plötzlich eintreten kann, wird Rücksicht genommen. Schlimmer noch: Ein System «solidarischer Schuldhaftung» wurde ins Leben gerufen: In einer Gruppe von Frauen soll jede von ihnen als Kaution für andere herhalten. Und Schulden werden brutal eingetrieben: Drangsalierungen, Erpressung sowie gewaltsame Übergriffe sind gang und gäbe. Hinter dem Geschwätz vom Kampf gegen die Armut versteckt sich eine ausufernde Gewalttätigkeit gegen die Armen. Ihr Analphabetismus wird ausgenutzt, um ihnen Verträge unterzujubeln, die sie nicht lesen können, und danach gibt es kein Erbarmen. Die Institutionen der Mikroökonomie arbeiten mit «billigem Geld», das teuer an die Klasse der Ärmsten weitergegeben wird: ein Riesengeschäft! Es ist dermassen gewinnbringend, dass sich die ursprünglich entstandenen Vereine des Mikro-Kredits in Mikro-Finanzinstitute umwandelten, während die größten Banken vor Ort sich ebenfalls mehr und mehr für diesen Geschäftsbereich interessieren. Arme haben natürlich wenig Geld, aber sie sind zahlreich. Ein einziger Verband prognostiziert für das Jahr 2020 drei Millionen Kunden, kündigt Zinssätze von 15 bis 24 Prozent auf steuerbefreite Beträge an, die aus Subventionen, Zuwendungen und Fonds für internationale Zusammenarbeit stammen und merkt an, dass die Darlehen generell gut vergütet werden. Für El Amana, eine der Institutionen für Mikroökonomie vor Ort, erreicht der erzielte Gewinn die 99-Prozent-Marke1.
Unter der Logik des Geldes
Als Nebeneffekt werden immer neue Teile der Bevölkerung der Logik des Geldes unterworfen. «In diesem Markt liegen bedeutende Wachstumsreserven für Banken und andere Händler von Finanzprodukten, die sich breiter aufstellen und ihre Marktanteile entwickeln wollen.» - «Dieses Kundensegment im privaten Bereich entgeht immer noch weitgehend den traditionellen Finanzkreisläufen.» - «Diese Kleinunternehmen sehen meist noch immer die Möglichkeit, sich aus informellen Geldquellen zu finanzieren (Freundinnen und Freunde, Familien, Gemeinschaftskassen der gegenseitigen Hilfe etc.) oder sogar zu Mitteln unangepasster Selbstfinanzierung zu greifen», meint die französische Entwicklungsagentur AFD (Agence Française de Developpement). Mikro-Kredite würden zudem eine Art «soziales Netzwerk» bilden. So jedenfalls sehen es die Vereinbarungen zur Europa-Mittelmeer-Partnerschaft vor. Hierbei spielen Befürchtungen eine Rolle, dass der Migrationsdruck auf die Grenzen Europas steigen könnte angesichts einer durch den Freihandel bewirkten Marginalisierung und Verelendung weiter Teile der Bevölkerung. «Durch ihre Struktur und ihre Flexibilität können diese [Mikro-Kredite] auch ein entscheidendes Element zum Auffangen von wirtschaftlichen und finanziellen Krisen sein.» (AFD)
Frauen als Zielgruppe
«Die Zeiten, als der Vater das Geld nach Hause brachte und es der Mutter gab, damit sie die Kinder grosszieht, sind vorbei. Die Folgen struktureller Anpassung sind massive Arbeitslosigkeit, Flexibilisierung der Arbeit und die Zunahme von unsicheren Arbeitsverhältnissen. Angesichts einer solchen Politik gerieten die Väter in die Krise und die Frauen gingen aus dem Haus, um Mittel zum Überleben zu finden; sie gaben so der Wirtschaft und dem Familienverständnis ein neues Gesicht (…) Gerade diese von den Frauen in ihrem Kampf ums Überleben entfaltete soziale Energie wird von den Banken und dem System der Mikro-Finanz mittels der Mikro-Kredite ausgenutzt.»2 Diese Äusserungen von Maria Galindo, Mitarbeiterin der bolivianischen Vereinigung Mujeres creando, sind auch für Marokko interessante Denkanstösse. Tatsächlich hat der Neoliberalismus eine grosse Zahl von Frauen soweit gebracht, sich dem Arbeitsmarkt auszuliefern, besonders in den für den Export wirtschaftenden Bereichen (Sonderwirtschaftszonen, Textilindustrie, Treibhaus-Landwirtschaft). Dabei wird deren mangelnde Erfahrung auf dem Arbeitsmarkt, fehlendes Wissen um ihre Rechte und ihr Analphabetismus sogar als Vorteil gesehen. Die Krise der Familie im engeren und weiteren Sinne, verschärft von struktureller Massenarbeitslosigkeit, hat den Frauen heutzutage die Rolle als Chef im Haus und als Akteurin in vorderster Linie beim Kampf ums Überleben zugewiesen. Mit genau dieser neuen Rolle werben heute die IMF, wenn sie Aktivitäten vorschlagen, die den Frauen angeblich Einkünfte einbringen sollen. Dabei ist es zynisch, mit nicht vorhandenen Entwicklungschancen zu bluffen, denn weder wird es Arbeit geben, noch Anstellung oder Lohn. Vielmehr nimmt das Leid der Frauen zu.
Kampf gegen Raffgier
Die Frauen von Ourazazate reden von Stress, unter dem sie leiden, von ihren Ängsten, von Pfändungen und Prozessen. Zu den bisher erlebten Problemen der Armut, für die auch der Mikro-Kredit keine Lösung brachte, gesellen sich Verschuldung und der mit Rückzahlungsverpflichtungen verbundene Druck, der oft die Familien zerstört und die Frauen in die Prostitution oder den Selbstmord treibt. Aber die Frauen von Ourazazate haben begriffen, dass der Mikro-Kredit kein Mittel im Kampf gegen die Armut ist, sondern die mageren Einkünfte der armen Familien noch zusätzlich schmälert. Sie haben ausserdem begriffen, dass Verschuldung kein individuelles, sondern ein kollektives und soziales Problem ist und demzufolge auch kollektive und soziale Lösungen gefunden werden müssen. Diese können beim Zugang zu kostenlosen Dienstleistungen liegen sowie bei der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Verabschiedung eines Arbeitsrechts. Es geht um soziale und ökonomische Rechte, die diese Namen auch verdienen. Die Frauen haben ihr gemeinsames Interesse erkannt: sich selbst zu organisieren und gemeinsam gegen die neuen Blutsauger zu kämpfen, die unter der Maske von Nächstenliebe und Feminismus auftreten. Amina Morad und Benaser Ismaini, zwei Aktivist_innen der Bewegung gegen den Mikro-Kredit, sind unter fadenscheinigen Anschuldigungen vom Gericht von Ourazazate vorgeladen worden. Fünf Mikro-Kredit-Institutionen hatten gegen sie geklagt, vier davon haben ihre Klage aber bereits zurückgezogen. So bleibt nur noch eine übrig. Der wirkliche Prozess ist jedoch derjenige, den die Frauen mit ihren Aktionen gegen die Raffgier der Mikro-Kredit-Institutionen anstrengen.
- Trotz des geringen Risikos, das die IMF eingehen, sichern sie sich auf vielfältige Art gegen Rückzahlungsausfälle ab: Mikro-Versicherungen, die die Rückzahlungen im Fall von Invalidität oder Tod garantieren; gruppenweise Solidaranleihen; gemeinsame Datenbanken, um Mehrfachverschuldungen zu vermeiden; Bündelung der Einziehungen des Geldes auf juristischem Weg.
- La pobreza, un gran negocio. Análisis critico sobre oenegés, microfinancieras y banca, La Paz, Mujeres creando, 2010.