DOSSIER 1989-2009 : Warum nicht Fußball? Erinnerungen an ein Beben

von Joachim Cotaru*, 14.10.2014, Veröffentlicht in Archipel 178

Ich war damals fünfzehn. Die heutigen Jubeleien und Spiele zum Fall der Berliner Mauer lassen mich kalt. Weder damals noch heute musste ich mich um meine materielle Existenz sorgen. Was aber war das für ein Land (die DDR, Anm. d. Red.), in dem man sich vor der ersten Akne über den Wehrdienst den Kopf zerbrechen musste, vor dem ersten Kuss sich versuchte politisch zu verorten, weil dazu gedrängt? Was für ein krankes System war das denn eigentlich, dem immer noch welche hinterher heulen? Was für eine kleinliche, widerliche Struktur, mit der wir zu früh unsern Frieden versuchten?

Kurz vor den Anfang Mai 1989 anberaumten Kommunalwahlen hatte ich mit Hilfe unseres Gemeindediakons Karl Schultz meinen Austritt aus der Freien Deutschen Jugend (FDJ) 1 schriftlich verfasst und per Post abgeschickt. Lange hatte dies reifen müssen, über die Zeit in der Jugendgruppe bei Jochen Schmachtel, Stadtjugendpastor, und die Angst meiner Eltern hinaus: Done! Mich kotzte der ganze Laden an. Zugleich bereitete er mir Spaß mit den vielen Gelegenheiten, die er einem Heranwachsenden zur Provokation bot. Der Liedermacher Stefan Krawczyk war gerade aus dem Land geschmissen worden durch kräftiges Zutun seines Anwalts Schnur, dem wir zweifelnd mehr trauten. 2 Doch Krawczyks Lieder sangen und hörten wir genauso wie die Biermanns. Seit einem Jahr beschäftigte ich mich mit den Fragen der Wehrdienstverweigerung – nicht aus Spaß, sondern weil wir schon so früh in der Schule angefragt wurden, ob wir nicht für unser Vaterland… Nein. Egal, zwei Wochen nach meinem Austritt aus der FDJ hieß es in der Schule, dass das so nicht ginge und meine Klassenlehrerin Burmeister fordert die Klasse, pardon: die FDJ-Gruppe, zur Abstimmung auf. Austritt einstimmig angenommen, was anderes war ja auch nicht vermittelt worden. Ich fand’s sehr amüsant. Immerhin wollte ich ja bleiben und Pfarrer werden in der sozialistischen DDR. Auch das hatte ich schon geschrieben, weil es um Motivation und Zulassung zur EOS 3 ging, zur Oberstufe. Ich wollte bleiben, das war auch Tenor in unserer Familie und es war okay. Schließlich war man damit ja schon fast wieder Außenseiter in der eigenen Subkultur der Kinder aus oppositionellen Familien und kirchlichen Zusammenhängen, wie es so hieß. Nach den Wahlen verließen mehrere von diesen Rostock Richtung Westen. Das Reinemachen gegen die Anzeigenerstatter wegen Fälschung bei der Kommunalwahl hatte begonnen. Plötzlich, ohne Ungarn oder Prager Botschaft, hieß es für Jan, Hanka und einige mehr Koffer packen. Auf einer Party in der Rennbahnallee, bei Angelika, mit Thilo, Peter, Robert, Claudia, erinnere ich mich der Wut, die wir hatten.

Ich mag der Jüngste gewesen sein, die Älteren vielleicht siebzehn, achtzehn Jahre alt. Wir sangen Westernhagens «Freiheit», kippten der Katze Petroleum auf den Schwanz, tranken viel zu viel, hörten und brüllten TonSteineScherben. Dann begann die Schulbuchverbrennung, Parteizeitungen als Zugabe. Die Lieder, die wir mochten, rissen wir vorher noch aus dem Musikbuch heraus: «Sag mir, wo Du stehst» gehörte dazu, «…und welchen Weg Du gehst.»

Im Juni hatte ich Aufnahmeprüfung am Kirchlichen Oberseminar Herrmannswerder, schon ahnend, dass ich für die Oberschule nicht gut genug sei. Schon ahnend, dass meine Nische in der Zone, meine selbst reservierte Schublade mit «Pfarrer» oder «Kirchenmusiker» versehen sein würde. Wir bleiben hier, das hatten wir ja so gesagt. Als Pfarrer, so meinten Freundinnen wie Wibke damals, würde ich dann wohl mit Irokesenschnitt auf die Kanzel steigen. Wer weiß.

Mit meiner bei der Aufnahmeprüfung gefundenen ersten Liebe, Friederike, schwärmte ich nicht nur in Ostberliner Abenden. Einmal klopften wir bei Pfarrer Eppelmann, eine der Stimmen der DDR-Opposition, und brachten dann Buttons mit Slogans gegen das Massaker auf dem Tian’anmen-Platz unter das uns genehme Völkchen. Da war mehr als ein Kribbeln unter pubertären Brüsten; es juckte gewaltig in unsern Köpfen, Füßen und Händen.

Sommer

Der Sommer verging mit Liebesbriefen und Familienurlaub und der Rückkehr in die verhasste Schule. Roland kam, um sich via Polen in den Westen zu verabschieden. Ansonsten war Ungarn-Welle angesagt, und es gab eine Menge Klarstellungen in der Schule von diesen dämlichen Lehrern. Mal abgesehen von unserm Direktor und drei männlichen Kollegen, die in unterschiedlicher Art, doch nie ganz direkt ihren Unmut erkennen ließen über die Sturheit der alten Säcke in der Hauptstadt Berlin, die Hans-Eckhardt Wenzel damals als «halb nur eingezäunt» besang. Die anderen Lehrer hatten’s schon nicht ganz leicht, weil die Jungs (ja, leider…) in der Klasse sich doch laut über die DDR ärgerten. In Herrmannswerder wurde ich angenommen, an der EOS nicht – das bekam ich in der ersten Schulwoche schriftlich. Irgendeine «volkswirtschaftliche Kennziffer» sei an mir nicht ausreichend, schrieben die Deppen. Ich hab mich immer gefragt, welche Zahl es wohl gewesen sei. Dass die Rechnung mit mir absehbar nicht aufgegangen wäre? Dass ich doch bitte verschwinden solle? Mit der EOS-Absage sagte ich mich auch von dem Alltag ab. Wir wollen Dich nicht, na danke.

Es fing immer mehr an zu brodeln. Wir stemmten uns gegen den Topfdeckel – Matti, Vera und ich schlenderten an der Stasi vorbei zur Umweltbibliothek in der Michaeliskirche bei Frau Hering. Wieder TonSteineScherben, leicht angepasst auf unsere Verhältnisse: «Aus dem Weg, ihr Stalinisten, die letzte Schlacht gewinnen wir…» Nicht gerade friedlich; von den Türmen des Gefängnisses gegenüber wurden alle, die ein- und ausgingen, kontinuierlich beglotzt. Bibel, Bakunin und Grundgesetz, das waren unsere Grundlagen. Oder was wir uns dazu dachten.

Herbst

Ende September kursierten kleine Zettelchen. Andacht in der Petrikirche, am 7. Oktober 1989. Es stand auch noch «Vierzig Jahre DDR» drauf – ich versah diese Zeile auf dutzenden Zetteln mit einem Fragezeichen und kam mir wie ein Held vor. Und ging zu der Andacht. Habe ich damals während der Fürbitte tatsächlich diese alttestamentarische Losung gelesen, ob Er uns denn dieses Joch der Unterdrückung gegeben hätte, diesen Geist der Verzagtheit? Die Erinnerungen verschwimmen – aber nach der Andacht ging’s zum Uniplatz, man stand aufgeregt und unschlüssig am Pornobrunnen.4 Micha kam auf dem Rad vorbei und hatte Mannschaftswagen gesichtet – besser sollten wir zum Rathaus gehen. Dort standen wir dann und ich konnte Dirk ausmachen. War ja nicht schwer, bei seiner Körpergröße. Weniger als zwei Dutzend Menschen standen vor dem Seitenflügel des Rathauses und wir hatten Kerzen dabei. Kein großes Aufmucken. Der Neue Markt wie leergefegt. Bullen in den Türen. Wir würden wiederkommen. Samstags.

Samstags

Am 14.10. waren wir schon einige mehr gewesen. Mein Vater war in den USA zu einer Informationsreise, aber Zugriff zur Schreibmaschine hatte ich schon früher gehabt. Unser Aufruf passte neunmal auf eine Seite, acht Durchschläge hämmerten wir hin. 80 Zettel am Ausgang der Marienkirche Donnerstagabend verteilt, auf Samstag gewartet. Ich hatte den Kirchgang ja im Blut, aber was suchten diese Leutchen denn alle da? Wir meinten: Falsche Adresse – geht gleich zum Rathaus! Und dann kamen sie, am 21. und 28. Oktober und auch am 4.November. Dann aber hatte es sich auch schon mit den Samstagdemos. Wir hatten nur einen von uns in eine eilig einberufene Versammlung geschickt, auf der entschieden werden sollte, welche Demo weiterzuführen sei. Die Samstagsdemo oder die unter Forumsführung. War ja eh klar: Heiliges Forum. Dirk hatte ein Stasimann an der Wohnungstür ein Megaphon in die Hand gedrückt und die wahre Opposition hatte uns wissen lassen, dass wir nicht authentisch seien. Geht so nich, woll’n wir nich. Danke auch. Am 28.10. erwarteten uns vor dem Rathaus, am Ende der Demo, ein Podium mit Mikro und Lautsprechern. Es wurde ein Dialog mit dem aus Frankreich zurückgekehrten Bürgermeister Schleiff inszeniert. Uns regten die Fragen auf, die sich um den ganzen Krimskrams täglicher Kleinigkeiten drehten. Als ob das wichtig sei! Ich mag mich nicht ganz auf meine Erinnerungen verlassen: sie verfärben sich und schieben die Dinge dann in das Licht, das man sich wünscht… Aber es waren wohl Micha, Oliver und andere, die die Leute zur Seite schoben, bis wir hinter dem OB standen und das Mikrofon übernahmen. Wir hatten uns verständigt, dass ich klar seinen Rücktritt verlangen sollte – darum ging es doch, nicht um Beruhigungspillen.

Es gab ja auch schon anderes. Der Linke Schülerbund (LSB) formierte sich. Weiß ich noch, wer da alles dabei war? Robert, Stefan, Antje, natürlich Micha, Matti und Oliver; die meisten habe ich vergessen. War das alles so wichtig? War es damals wohl. Der LSB war noch nicht gegründet, da schaute schon eine lustige FDJ-Abordnung in der Michaeliskirche vorbei, dass sie uns fertig machen würden. Ganz überzeugt, ganz ehrlich. Egal – die Mauer fiel und der Schleier auch. Berlin im Rausch zu sehen, war toll. Die ersten Deutschlandbanner auf unsern Demos zu sehen, war noch verwunderlich, die Reaktionen auf unsere ablehnenden Reaktionen vertraut: «Verpisst Euch doch, ihr Wandlitzkinder!»5 Hätten unsere Eltern sein können, waren sie aber zum Glück nicht. Hatten das Maul nie aufgekriegt – jetzt johlten sie. Sollten sie doch.

Winter

Anfang Dezember diese Demo an der Kongresshalle. Im Namen des Linken Schülerbundes schlug ich vor, dass Alexander Dubcek eingeladen werden sollte, die Symbolfigur des Prager Frühlings. Er starb wenige Jahre später, ohne dass daraus etwas geworden wäre. Ich begrüßte die TeilnehmerInnen als «Bürger der Freien und Hansestadt Rostock», darauf hatten wir es beim Formulieren abgesehen. Die Dinge normalisierten sich bereits, bevor sie wirklich umgebrochen worden waren.

Der Rausch der Bürgeranarchie neigte sich bereits seinem Ende zu. Immerhin wurde die «Tante Trude» besetzt, ein leer stehendes Haus im Stadtzentrum, in dem ein Infocafe entstand und die Strukturen künftiger alternativer Jugendszene und –arbeit sichtbar wurden. Zu Silvester ins 1990er Jahr gab es hier die ersten heftigen Auseinandersetzungen mit den Kahlrasierten, den sich im Einheitstaumel breit machenden Neonazis. Ich schoss endlich einmal, mit Feuerwerksraketen, aber auf sie.

Rumänien

In Rumänien habe ich begonnen, mich als deutscher Staatsbürger zu bekennen. Länger als im vereinten Deutschland lebe ich inzwischen hier und komme so selten wie gern zu Besuch an die Ostseeküste. «Fußball hättest du damals spielen sollen», hat Schippi einmal gesagt. Je länger das 1989er Beben zurückliegt, umso mehr ärgere ich mich über dieses verschwundene Land, in das ich geboren wurde. Wo sind wir heute, welche Regeln jagen uns und welchen wir hinterher?

(Dezember 2009. Für Michael Krenkel gesegneten Andenkens und alle, mit denen ich damals sein durfte. Mit Dank an Pit Köppen.)

*Jochen ist der Sohn von Pastor i. R. Jens Langer, dessen Bericht wir in der letzten Nummer abgedruckt haben.

  • Der quasi obligatorischen Mitgliedschaft in der FDJ, Jugendorganisation der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, entzogen sich nur wenige.
  • «Kirchenanwalt» Wolfgang Schnur agierte 1989/90 an vorderster Stelle im christdemokratischen Parteienbereich. Kurz vor den Wahlen im März 1990 wurde er als langjähriger Stasispitzel enttarnt.
  • Erweiterte Oberschule, Oberstufe in der DDR
  • Eigentlich «Brunnen der Lebensfreude», was der örtliche Volksmund aber stets vulgär verkürzt.
  • In Wandlitz, am Rande Berlins, lebte die DDR-Nomenklatura in einer abgeschirmten Siedlung, geschützt vor der Wirklichkeit draußen und den Blicken ihrer Bürger.