Der Schrei aus türkischen Gefängnissen

von Pinar Selek, 02.08.2020, Veröffentlicht in Archipel 294

Pinar Selek, türkische Soziologin und Schriftstellerin, engagierte Feministin und Antimilitaristin, musste vor zehn Jahren aus der Türkei flüchten und lebt seither im Exil. Sie hat bei verschiedenen Aktionen und Anlässen in den Bereichen Migration und Feminismus mit uns kooperiert und jetzt diesen aufwühlenden Text geschrieben.

Der Planet weint. Manche Teile mehr als andere. Hier in Europa erhalten wir ständig Aufrufe zur Solidarität gegen die Repression in diesem oder jenem Land. Gerade habe ich den Brief einer feministischen Freundin aus Brasilien in Umlauf gebracht, die uns mit diesen Worten zur Solidarität aufruft: «Wenn der Faschismus in einem Land Fuss fasst, ist der ganze Planet in Gefahr.» Normalerweise senden wir diese Aufrufe per E-mail, Facebook, per Instagram oder wir twittern. Dann kommt ein weiterer Appell, aus einer anderen Ecke unserer traurigen Welt...und wir tun wieder dasselbe.

Ich sehe Sinn in der Verbreitung solcher Anrufe und höre auf Gramsci; verbinde also den Pessimismus der Intelligenz mit dem Optimismus des Willens und sende Ihnen die Schreie aus der Türkei, aus meinem Land, das ich vor zehn Jahren verlassen musste. Ich schicke Ihnen diese Appelle und bitte Sie um Ihre kreative Solidarität. Wer die Nachrichten ein wenig verfolgt, weiss bereits um die Repression, die auf jedem lastet, der in der Türkei kritisiert, kreativ ist, nachdenkt und Fragen stellt. All dies ist nicht neu und es ist auch keine Eigenheit der gegenwärtigen Regierung. Es ist immer die gleiche alte Leier:

Schliessung, Öffnung, Repression... Sie haben wahrscheinlich schon von Journalist·inn·en, Anwält·inn·en, Aktivist·inn·en, Künstler·inne·n in den türkischen Gefängnissen gehört oder gelesen, von Sänger·inne·n, die im Hungerstreik ihr Leben verlieren. Es gibt Solidaritätskampagnen für Nûdem Durak, eine kurdische Sängerin, und für Osman Kavala, einen türkischen Kunstmäzen, die seit Jahren inhaftiert sind. Kurd·inn·en veranstalteten mehrere Demonstrationen in Europa, um gegen die Inhaftierung Dutzender Abgeordneter und Bürgermeister zu protestieren, die unter dem Banner der Volksdemokratischen Partei (HDP), in die Regierung gewählt worden waren.

Es wäre schwierig, all diese Gewalt zu verstehen, wenn wir nicht die Situation eines grenzüberschreitenden Krieges berücksichtigten, den die Türkei seit einigen Jahren von Neuem in Syrien, Irak und Libyen führt. Der Kontext des Krieges etabliert sich auf grausame Weise wieder im Land, und die Repression wird mörderisch. Sie ist überall, aber in den kurdischen Regionen ist sie extrem brutal. Städte, die – kurzlebige – demokratische Erfahrungen gemacht hatten, verdunkeln sich nach der Beschlagnahmung ihrer Rathäuser durch den Staat, nach Massenverhaftungen und Morden. Stündlich kommen neue Informationen über Verhaftungen, Folterungen, Massaker, Verbote.

Gefängnisse – Spiegel der Macht

Auch wenn sich diese Schreie im Moment mit anderen vermischen, fordere ich Sie auf, diejenigen aus den Tiefen der türkischen Gefängnisse zu hören! Michel Foucault hat in «Surveiller et punir» (1993) gezeigt, dass die Gefängnisse ein Spiegel der Machtstrukturen der Gesellschaften sind, in denen sie sich befinden. Wir können die Türkei tatsächlich über ihr Karzeralsystem entziffern. Die Lebensbedingungen in den Gefängnissen, die räumliche Organisation der Gefangenschaft, die Praktiken der Machtausübung über die Gefangenen spiegeln tatsächlich die Organisation der Macht im Land wider. Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Türkei nach Russland das Land mit der zweithöchsten Gefangenenzahl in Europa ist. Im Januar 2020 hatte sie nach Angaben des Justizministeriums etwa 294‘000 Gefangene. In Ermangelung offizieller Daten beziffern NGOs die Zahl der politischen Gefangenen, die des Terrorismus beschuldigt werden, auf rund 80‘000. Ja, in der Türkei befinden sich etwa 80‘000 Aktivist·inn·en, Journalist·inn·en, Künstler·innen, Musiker·innen, Rechtsanwält·innen, Schriftstel-ler·innen, Akademiker·innen, Abgeordnete und Bürgermeister·in-nen hinter den Mauern. Stellen Sie sich ein Land vor, das all diese Menschen einsperrt.

Auch ich gehörte zweieinhalb Jahre lang zu dieser eingesperrten Bevölkerung. Ausgeschlossen von allen Kreisläufen, ohne meiner Stimme Gehör verschaffen zu können, immer auf Solidaritätsnetze angewiesen, um das, was «innen» geschieht, nach «aussen» zu bringen. Selbst wenn mein Prozess weitergeht und mich bedroht, bin ich jetzt «draussen». Ausserhalb der Gefängnisse, ausserhalb des Landes...meine Worte kommen jedoch von «innen».

Vielleicht haben Sie davon gehört: Vor einigen Wochen führte ein vom türkischen Parlament verabschiedetes Gesetz zur Bekämpfung der Ausbreitung von Covid-19 zur Freilassung von 90‘000 Gefangenen, die wegen häuslicher Gewalt und anderer Verbrechen wie Vergewaltigung, Betrug, Mitgliedschaft in Mafiagruppen (wie z.B. ein Mafiaführer, Idol der Rechtsextremen), angeklagt oder verurteilt worden waren. Politische Gefangene jedoch, z.B. Intellektuelle, die ausschliesslich wegen Meinungsdelikten angeklagt wurden, sind von dieser Amnestie ausgeschlossen und werden unter den sehr schlechten hygienischen Bedingungen, die in türkischen Gefängnissen herrschen, zu mehrfachen Erkrankungen verurteilt. Anfang April meldete die Menschenrechtsliga (IHD) mindestens 1‘564 kranke Häftlinge, 591 von ihnen waren am Coronavirus erkrankt. Nach den neuen Verhaftungen und Inhaftierungen politischer Art fragen wir uns, ob die Regierung, indem sie die Pandemie instrumentalisiert hat, nicht einfach Plätze frei machen wollte, um andere Aktivist·inn·en, Journalist·inn·en und Künstler·innen einzusperren. Die Botschaften der Gefangenen sind in den Medien nicht sichtbar; ich habe folgenden Hilferuf über ihre Familien erhalten: «Die sanitären Verhältnisse werden nach der Freilassung der Verbrecher, der Vergewaltiger, immer beklagenswerter. Sie geben uns keine Seife, kein warmes Wasser...oft gibt es überhaupt kein Wasser. Sie verlegen uns ständig. Ihre Verfolgung ist unerträglich. Sie durchsuchen ständig unsere Betten, sie berühren uns überall; sie wollen, dass wir an der Krankheit sterben. Bitte, sprechen Sie mit den Journalist·inn·en! Verbreiten sie die Nachricht über die Gewalt, unter der Zehntausende von Gefangenen in der Türkei leiden!» Hören wir diesen Schrei und verschaffen wir ihm Gehör – weit über Mauern und Grenzen!