Das Wirtschaftsgeschehen hat eine Zeitachse

29.09.2009, Veröffentlicht in Archipel 174

Jacques Grinevald unterrichtet am Institut de hautes études internationales et du développement in Genf. Er arbeitet fächerübergreifend, vor allem in den Themenbereichen nachhaltige Entwicklung und ökologische Ökonomie. Sein 2007 veröffentlichtes Buch «La biosphère de l’anthropocène» ist zu einem wertvollen Arbeitsinstrument für all jene geworden, die sich wissenschaftlich mit Fragen des menschengemachten Klimawandels und der Wachstumsrücknahme beschäftigen.

Ernst Schmitter, der das folgende Gespräch führte, beschäftigt sich in der Schweiz mit Wachstumskritik.

Herr Grinevald, können Sie kurz Ihren Werdegang als Fachmann im Bereich der Wachstumsrücknahme erzählen?

1974 arbeitete ich im Pressedienst der Universität Genf. Ich bekam den Auftrag, einen Vortrag von Nicholas Georgescu-Roegen zu organisieren, dessen Werke ich zum Teil kannte. Nach seinem Genfer Vortrag entwickelte sich zwischen ihm und mir eine dauerhafte Freundschaft. Georgescu-Roegen betrachtete mich als seinen ersten Schüler in Europa, wohl zu Recht. Ich habe viele seiner Texte ins Französische übersetzt und publiziert. Unter der Leserschaft dieser Publikationen hat sich eine Art Netzwerk gebildet, lange bevor die heutige Décroissance-Bewegung entstand.

Stimmt es, dass der Begriff «Décroissance» Ihre Erfindung ist?

Ja. Ich habe den Ausdruck benutzt, um das englische Wort «decline» (Rückgang) zu übersetzen, das sich bei Georgescu-Roegen findet, aber auch schon bei Adam Smith vorkommt. Kompliziert wird die Sache dadurch, dass das Wort «décroissance» jetzt im Englischen oft mit «degrowth» wiedergegeben wird.

Georgescu-Roegen ist seit Jahrzehnten ein Geheimtipp. Warum ist er so wichtig?

Er hat die Bedeutung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik für die Wirtschaft erkannt und den Begriff der Entropie in die Wirtschaftswissenschaft eingeführt. Das hat zur Folge, dass die Ökonomen sich vom mechanistischen Weltbild verabschieden müssen, das bis heute ihr Paradigma geblieben ist. Die Wirtschaft ist nicht wie ein Pendel, bei dem es egal ist, ob es hin oder zurück schwingt. Das Wirtschaftsgeschehen hat eine Zeitachse mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nichts lässt sich ungeschehen machen. Die Schäden, die die Wirtschaft jetzt dem Klima zufügt, kann sie nicht reparieren. Die neoklassischen Ökonomen fürchten diese Wahrheit, wie die katholische Kirche Galileis Erkenntnisse fürchtete, weil sie den irrationalen Charakter ihrer Lehre entlarvt. Deshalb ist Georgescu-Roegen bis heute ein Geheimtipp geblieben.

Hatten Sie nie Schwierigkeiten mit den Bildungsinstitutionen, wenn Sie Unterrichtsinhalte wie Entropie, Biosphäre oder Wachstumsrücknahme in juristische oder technische Studiengänge einführten?

Oh doch! In meiner Karriere – wenn ich überhaupt von Karriere sprechen kann – gibt es manchen Knick! Ich bin dreimal wegen meines Unterrichts entlassen worden. Dreimal! Details erspare ich Ihnen. Nur eine Anekdote: In den Achtzigerjahren verlangte man an der ETH Lausanne von mir, dass ich künftig in meinem Unterricht auf den Begriff der Biosphäre verzichte. Begründung: «Die Industrie hat das nicht gern.» Ich habe nicht darauf verzichtet. Das hat mir einigen Ärger gebracht.

Wie bewältigen Sie den Spagat zwischen Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit und der Dringlichkeit des umweltpolitischen Engagements?

Wie gesagt: Ich habe diesem Spagat einen Teil meiner Karriere geopfert. Aber ich habe zwei Grundregeln beachtet und die Zerreißprobe immer wieder ausgehalten: Erstens blieb ich allen politischen Institutionen gegenüber auf Distanz. Ich war z.B. nie Mitglied einer Partei. Und zweitens war ich immer zurückhaltend und höflich. Das ist hilfreich!

Kann man die Wirtschaft von ihrem zerstörerischen Wachstumszwang abbringen?

Die Frage ist nicht, ob man kann. Man muss! Es gibt keine andere Lösung. Vielleicht finden wir den Weg leichter, wenn wir bedenken, dass es nicht nur um die Überwindung des Kapitalismus geht. Es geht um die Überwindung eines Machtstrebens, das untrennbar zum ökonomischen Denken gehört. Die Ökonomen wollen nicht nur Wachstum, sie wollen Wachstum des Wachstums, im Zweifelsfall lieber eine Explosion als Stillstand oder Rückschritt. Sie wollen Eroberung. Ihr Fach ist von einer kriegerischen Mentalität geprägt. Es geht aber gerade darum, dass wir lernen, Gewaltfreiheit zu einem Grundprinzip unseres Handelns, auch unseres wirtschaftlichen Handelns, zu machen. Unsere gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit ist heute von Gewalt und Gewaltdenken beherrscht. Das gilt es zu überwinden.

Wie gehen Sie mit der Tatsache um, dass die Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik die Dringlichkeit dieser Anliegen meist ignorieren?

Von den allermeisten Verantwortlichen ist keine Lösung zu erwarten; sie sind ja selbst das Problem. Es müsste sich ein externes Element finden lassen, das die Situation deblockiert. Ich sehe gegenwärtig kein solches Element. Aber ich sage Ihnen offen: Ich habe ein fast bedingungsloses Vertrauen ins Leben. Wir dürfen uns in Bezug auf die Zukunft nicht auf unser Hoffen und Bangen verlassen, und auf Wahrscheinlichkeiten schon gar nicht. Meine Zuversicht ist viel grösser als die mathematische Wahrscheinlichkeit einer lebbaren Zukunft. Es gibt ein französisches Sprichwort, dem ich voll zustimme: Das Schlimmste ist nicht stets gewiss.

Fünf Vordenker der Wachstumsverweigerung Nicholas Georgescu-Roegen (1906-1994): Mathematiker und Ökonom. Er hat den Widerspruch erkannt, der zwischen dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik und dem Anspruch auf unbegrenztes wirtschaftliches Wachstum besteht. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass die vollständige Umwandlung von Arbeit in Wärme nicht umkehrbar ist. Deshalb spielt sich unser Wirtschaften in einer ständig sich verschlechternden Ressourcenlage ab. Wenn die Menschheit möglichst lange überleben will, muss sie Wirtschaftsschrumpfung anstreben. Solange die Wirtschaftswissenschaft dies bestreitet, ist sie grundsätzlich lebensfeindlich. Ein wichtiges Werk von Georgescu-Roegen: The Entropy Law and the Economic Process, 1971 (es gibt keine deutsche Ausgabe).

André Gorz (1923-2007): Philosoph und Journalist. Er hat schon 1977 in seinem Werk «Ecologie et liberté» gezeigt, dass ein Sozialismus, der auf wirtschaftlichem Wachstum aufbaut, in den Widersprüchen des kapitalistischen Konsumverhaltens gefangen bleibt. Wichtige Werke: Ökologie und Politik. Beiträge zur Wachstumskrise, Rowohlt, Reinbek, 1977. Kürzlich publiziert: Auswege aus dem Kapitalismus, Beiträge zur politischen Ökologie, Rotpunktverlag, Zürich, 2009 (enthält Texte aus den Jahren 1975-2007).

Hans Jonas (1903-1993): Philosoph. Sein Hauptwerk heißt «Das Prinzip Verantwortung» (zuerst Insel, Frankfurt, 1979). Jonas zufolge benötigen wir für einen angemessenen Umgang mit den Ungewissheiten der technischen Entwicklung eine «Heuristik der Furcht». (Heuristik ist die Kunst des Problemlösens.) Von ihm stammt der Satz: «Der schlechten Prognose den Vorrang zu geben gegenüber der guten, ist verantwortungsbewusstes Handeln im Hinblick auf zukünftige Generationen.»

Ivan Illich (1926-2002): Philosoph und Theologe. Er hat gezeigt, dass Fortschritt in Teilbereichen unserer Gesellschaft eine Eigendynamik entwickeln kann, die ihn kontraproduktiv werden lässt: Das Auto sollte dem Zeitgewinn dienen und bedeutet in Wirklichkeit oft Zeitverlust. Die Schule soll ein Instrument der Aufklärung sein und dient nicht selten der Manipulation. Hightech-Medizin kann krank machen. Die Kommunikationslawine behindert Information. Usw. Illich stellt unserer Gesellschaft mit ihren Scheinfortschritten das Bild einer Gesellschaft gegenüber, die sich in einer kopernikanischen Wende von Wachstumszwang und Produktivismus befreit. Wichtiges Werk: Selbstbegrenzung, eine politische Kritik der Technik, Rowohlt, Reinbek, 1980.

Serge Latouche (Jahrgang 1940): Wachstumskritischer Ökonom. Er hat in Paris unterrichtet. Sein wichtigster Beitrag zur Wachstumskritik ist der Gedanke, dass wachstumsorientierte Entwicklung nicht die Lösung unserer Probleme ist, sondern das Problem selbst. Wichtiges Werk: Le pari de la décroissance, Fayard, Paris, 2006 (deutsch nicht erhältlich).