Das Kirchenasyl auf dem Prüfstand

von Michael Rössler, 16.11.2016, Veröffentlicht in Archipel 250

Angesichts des immer grösser werdenden Flüchtlingselends appelliert der «Freundeskreis Cornelius Koch», benannt nach dem im Jahr 2001 verstorbenen Flüchtlingspfarrer, an die Kirchenleitungen in der Schweiz, diejenigen Gemeinden und Hilfswilligen zu unterstützen, die bedrohte Flüchtlinge im Kirchenasyl schützen wollen.

Die Initiative hat alle Kirchengemeinden in der Schweiz sowie zahlreiche Bürgerinnen und Bürger angeschrieben, um mit diesen gemeinsam bei Gottfried Locher, dem Präsidenten des Evangelischen Kirchenbundes, sowie bei Dr. Charles Morerod, dem Präsidenten der Bischofskonferenz, für den Erhalt und die Anwendung des Kirchenasyls einzutreten.1 Diesem Archipel liegt in der Schweizer Ausgabe ein Musterbrief bei, der unterzeichnet an die Kirchenleitungen geschickt werden kann. Der Auslöser dieser Briefaktion war die Empörung
über die Verletzung des kirchlichen Raumes in der Basler Matthäuskirche im März 2016 durch die Polizei, welche die Schutz suchenden Flüchtlinge verhaftete und aus der Schweiz abschob. Die Leitung der reformierten Kirche Basel-Stadt hatte mit ihrer Bemerkung, das Kirchenasyl hätte heute keine Existenzberechtigung mehr und die Polizei könne jederzeit auch in kirchlichen Räumen Kontrollen durchführen, geradezu zu dieser Räumung eingeladen.
Räumungsklage
Am 26. April 2016 zogen in Lausanne zehn Flüchtlinge und ihre Helfer_innen aus der protestantischen Kirche St. Laurent, in der sie während mehr als einem Jahr Zuflucht gefunden hatten, in die katholische Pfarrei Mon-Gré um. Obwohl die protestantische Gemeinde und die beiden Gemeindepfarrer das Kirchenasyl mitgetragen hatten, war dieser Schritt nötig geworden. Denn die Hierarchie der reformierten Kirche des Kantons versuchte durch eine gerichtliche Klage, die Flüchtlinge aus der Kirche zu jagen – zum Glück ohne Erfolg. Nach dem Umzug liess der Präsident des Synodalrates seiner Freude freien Lauf: «Welch' gute Nachricht, dass die Flüchtlinge endlich weg sind.» Auch dieses Beispiel zeigt, dass der Evangelische Kirchenbund und die Bischofskonferenz solche kantonalen Vertreter der Kirche an den christlichen Auftrag der Nächstenliebe erinnern müssen und sich auch klar für die Flüchtlinge im Kirchenasyl aussprechen sollten.
Bei dem Konflikt zwischen den Pfarrern von St. Laurent und ihrer Hierarchie ist es im Juni zu einem traurigen Nachspiel gekommen. Einer der beiden Pfarrer, der 64-jährige Daniel Fatzer, erhielt vom Synodalrat des Kantons Waadt die fristlose Kündigung, weil er in einer Radiosendung die Missstände in der Kirchenleitung des Kantons angeprangert hatte. Nicht nur Flüchtlinge sind unwillkommen, auch unbequeme Gottesmänner. Der Pfarrer trat aus Protest gegen seine Entlassung in einen Hungerstreik.
Massiver Druck
Der Evangelische Kirchenbund und die Bischofskonferenz sollten auch das skandalöse Vorgehen der Behörden im Kanton Zürich vehement verurteilen: Am 10.6.2016, frühmorgens, sperrten Beamte der Kantonspolizei bei der reformierten Kirche in Kilchberg die Zugänge ab, holten eine sechsköpfige tschetschenische Familie aus dem Kirchgemeindehaus ab und brachten sie zur «freiwilligen» Rückkehr nach Tschetschenien an den Flughafen. Die Familie war ins Kirchenasyl aufgenommen worden, nachdem die Polizei zweimal vergeblich versucht hatte, eine brutale Zwangsausschaffung durchzuführen. Vor viereinhalb Jahren war die Familie nach wochenlanger Flucht in die Schweiz gekommen und hatte in Kilchberg ein neues Zuhause gefunden. Der Vater war in Tschetschenien unter dem mörderischen Statthalter Putins, Ram-san Kadyrow, willkürlich verhaftet und gefoltert worden. Trotzdem wurde ihm und seiner Familie Anfang des Jahres das Asyl in letzter Instanz verweigert. Die Familie war inzwischen sehr gut integriert, die Kinder gingen zur Schule und eine breit abgestützte Bürgerinitiative2 hatte sich gegründet, um sich für deren Verbleib in der Gemeinde einzusetzen. Die Behörden täuschten zu-erst Dialogbereitschaft vor, liessen aber in Wirklichkeit keinerlei Spielraum. Ihre falsche Alternative lautete: die «freiwillige» Rückkehr nach Tschetschenien oder die Zwangsausschaffung. Die Familie beugte sich dem massiven Druck, um eine weitere Traumatisierung der Kinder zu vermeiden und um der Kirche staatliche Gewaltanwendung in ihren Räumen zu ersparen.
Respekt vor dem Kirchenasyl
Während das Kirchenasyl in der Schweiz bedroht ist, stehen die Kirchenleitungen in Deutschland seit Jahren für diesen Schutzraum ein. Über 250 Kirchen gewähren momentan Asyl für Flüchtlinge in Deutschland. Die meisten haben Erfolg. Die Bundesregierung verpflichtete sich inzwischen sogar dazu, die Tradition des Kirchenasyls zu respektieren. Die Kirchen rechtfertigen die Gewährung von Schutz in ihren Räumen mit der christlichen Beistandspflicht und der Wahrung von Menschenrechten, dort, wo der staatliche Schutz versagt. Das aktuelle Kirchenasyl ist in seinem Selbstverständnis demnach nicht konfrontativ sondern komplementär zum Rechtsstaat angelegt. Dr. Wolf-Dieter Just, der Ehrenvorsitzende der «Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche» aus Deutschland, hielt im April 2016 auf Einladung verschiedener Flüchtlingsinitiativen mehrere Vorträge zu diesem Thema in der Schweiz. Lassen wir uns für einmal von den Erfahrungen in Deutschland inspirieren!3 Wolf-Dieter Just erklärt:
«Seit Beginn der Kirchenasylbewegung in Deutschland 1983 sind einige tausend Flüchtlinge vor erneuter Verfolgung, Folter oder gar dem Tod gerettet worden. In ca. 80 Prozent der Fälle waren Kirchenasyle bisher erfolgreich in dem Sinne, dass eine Abschiebung verhindert werden konnte. Es wurde Zeit gewonnen für eine nochmalige Prüfung des Einzelfalls, und dabei stellte sich heraus, dass im Asylverfahren Fehler unterlaufen waren, dass Asylgründe oder Abschiebehindernisse übersehen worden waren. Irren ist bekanntlich menschlich. Und bei der Fülle von Asylanträgen, die zu bearbeiten sind, können Fehler unterlaufen. Das Problem ist nur, dass Fehleinschätzungen beim Asylverfahren furchtbare, im schlimmsten Fall tödliche Konsequenzen haben können.»

  1. Schicken Sie einen Brief zur Unterstützung des Kirchenasyls an:
  • Mgr Dr. Charles Morero, Schweizerische Bischofskonferenz,
    Alpengasse 6, Postfach 278,
    CH - 1701 Freiburg
  • Gottfried Locher, Präsident des Evangelischen Kirchenbundes,
    Sulgenauweg 26, CH - 3000 Bern 23
    Bitte Kopie oder Kurzmeldung an: freundeskreis_koch at gmx.ch oder Postadresse (siehe unten)
  1. www.hierzuhause.ch
  2. «Kirchenasyl: Rechtsbruch oder Menschenrechtsschutz?» Ein Vortrag von Dr. Wolf-Dieter Just.
    Ein 4-seitiges Dossier mit Auszügen des Vortrages kann bestellt werden.

Bestelladresse für Dossiers und Musterbriefe:
Freundeskreis Cornelius Koch,
Postfach 200
CH-2800 Delémont 1
E-mail: freundeskreis_koch at gmx.ch
Tel. +41-76 461 46 41